Tanzt die Freiheit! Der Tycoon des Bolschoi-Stils kam nach München: Erstmals gibt es „Spartacus“ von Yuri Grigorovich bei einer westlichen Truppe, mit dem Bayerischen Staatsballett

Spartacus bewegt die Welt.

Er steht, bis er fällt: „Spartacus“, bei der Premiere in München getanzt von Osiel Gouneo, verkörpert die revolutionäre Heldenkraft. Foto: Wilfried Hösl

Als Yuri Grigorovich 1968 sein legendäres Jahrhundert-Ballett „Spartacus“ am Moskauer Bolschoi-Theater choreografierte, ahnte er nicht, dass er viele Jahre später, genauer gesagt: wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag am 2. Januar 2017, in München auf der Bühne des Nationaltheaters stehen würde, um dort den Applaus nach der Premiere der ersten Einstudierung seines genialen Stücks bei einer westlichen Truppe entgegen zu nehmen. In einem schlichten, cremefarbenen Rollkragenpulli zur dunklen Hose und mit einem sympathischen, milden Lächeln im Gesicht stand der ehrwürdige Meister da: ganz unprätentiös, ganz gerührt. In seinem Alter hat man es überhaupt nicht mehr nötig, anzugeben – aber man freut sich über Zuspruch mehr denn je.

Und obwohl die Inszenierung in München sich nun nicht mit den Funken sprühenden Aufführungen in Russland messen kann, so ist es doch ein Verdienst des Ballettdirektors Igor Zelensky, dieses bedeutende Ballett endlich regulär im westlichen Deutschland zu zeigen.

In Berlin-Ost wurde das Stück übrigens zu DDR-Zeiten auch getanzt: vom Ballett der Deutschen Staatsoper Berlin, ab 1973, in einer durchaus sehr sehenswerten, werkgetreuen Interpretation mitteleuropäischer Art.

Von den westdeutschen Chronisten wird das oftmals und gern vergessen.

Jetzt ist der aufrührerische Sklave des alten Roms, der ein historisches Vorbild hat, endlich in Bayern angekommen.

Wie es ihm dort ergeht?

Er ist mit Osiel Gouneo und also mit einem gebürtigen Kubaner besetzt, sozusagen in Anlehnung an Carlos Acosta, der 2007 ein damals viel beachtetes Gastspiel als Spartacus beim Bolschoi-Theater gab.

Nun entspricht Gouneo nicht unbedingt dem klassischen Typus, den man als Spartacus sehen würde. Er ist kein feister, muskelharter Kämpfertyp, sondern eher ein typischer Latin Lover mit runden Körperformen, der – ebenso wie seine brasilianische Bühnenpartnerin Ivy Amista als Sklavin Phrygia – in allem eine bestimmte Weichheit und Geschmeidigkeit zu verankern weiß.

Fürs Balletttanzen an sich ist das natürlich eine Gnade.

Aber als Spartacus?

Spartacus ist Gladiator – insofern also einer der Härtesten der ganz Harten.

Er muss nicht nur anmutig springen, sondern auch schwerfällig gehen können, so, als trage er an seinen eigenen Muskeln viele Kilo lebendes Kampfgewicht in die Arena.

Gouneo bringt etwas Schwärmerisches in dieses Arena-Monster – als moderne Besetzung mag das aber ganz gut durchgehen.

Dafür gelingen ihm die rückhaltlose Sehnsucht nach Freiheit des Spartacus und seine entschlossene Führungskraft sehr gut.

In einem Zweikampf muss Spartacus seinen Gegner töten, an sich sein fast tägliches Geschäft – aber dieses Mal trifft es seinen engsten Freund und Leidensgenossen. Man hat ihm extra diese Bürde aus Schuld, Trauer und Gewissensbissen aufgeladen.

Er kann es erst entdecken, als er dem sterbenden Gegner den Helm abnimmt.

Ein sehr ergreifender Moment!

Spartacus bewegt die Welt.

„Spartacus“ – er ist Gladiator. Hier Osiel Gouneo im Kampfoutfit beim Bayerischen Staatsballett. In so großer Emotion ist es natürlich schwierig, auf gerade Hüften und ein sauberes Passé zu achten… immerhin: der ganze kampferboste Ausdruck des Körpers ist situativ sehr stimmig. Foto: Wilfried Hösl

Er verändert Spartacus’ duldende Haltung, macht einen Aufständischen aus ihm.

Grigorovich, der über 30 Jahre (von 1964 bis 1995) das Bolschoi-Ballett als dessen künstlerischer Direktor prägte und zahlreiche weltbedeutende Choreografien dort schuf, hat sich mit „Spartacus“ sozusagen selbst übertroffen.

Es ist ein Gesamtkunstwerk mit so einprägsamen wie vielschichtigen Szenen.

Libretto, Tanz, auch die kess-opulenten Kostüme von Grigorovichs engem Mitarbeiter Simon Virsaladze (die in München übernommen wurden) und natürlich die schwelgerisch-dramatische Musik wirken hier zusammen, sie pointieren die handlungstreibenden Momente, lassen aber – neben den atemberaubenden Kampfszenen – auch viel Raum für leidenschaftlich-lyrische Liebesszenen.

Sex, Politik, Dramatik:

Das Ballett von Grigorovich hat alles, was ein Erfolgsballett benötigt, und wenn man das Entstehungsjahr 1968 bedenkt, so ist dieses alles nicht nur hoch modern, sondern seiner Zeit auch wesentlich voraus.

Die mal brachial tosende, mal verträumt in Bann schlagende Musik hat seit ihrer Kompositionszeit im Jahr 1954 nichts an Faszination eingebüßt.

Der armenisch-stämmige Komponist Aram Chatschaturjan („Säbeltanz“) schuf ein Werk voll von großen Emotionen und cineastischen Qualitäten, dabei ist es abwechslungsreich, aber von leicht wiedererkennbaren, feinsinnigen Melodiemotiven durchzogen.

In München steht mit dem ebenfalls in Armenien geborenen Karen Durganyan ein Könner am Münchner Pult, der das Stück nachgerade werktreu dirigiert – als einziger der Hauptprotagonisten des Abends hat er auch kein Debüt damit.

Sondern er leitete den „Spartacus“ schon an beiden großen Ballett-Theatern in Sankt Petersburg, am Mikhailovsky ebenso wie am Mariinsky.

Bereits die Ouvertüre schlägt einen in den Bann einer Welt, die aus Unterdrückung und Freiheitsdurst, aus Gnade und Verrat, aus wunderbar starker Liebe und aus tragischem Schicksal besteht.

Spartacus bewegt die Welt.

Osiel Gouneo sehnt sich nach Freiheit… als „Spartacus“ im ersten Akt, in der legendären Choreografie von Yuri Grigorovich. Beim Bayerischen Staatsballett in München! Foto: Wilfried Hösl

Als Spartacus erkennen muss, dass er seinen Freund umbrachte, regt sich in ihm endlich genügend Widerstand gegen die sadistischen Herrschaftsstrukturen, in die er geboren wurde: er handelt.

Er schart weitere rebellische Sklaven um sich und führt sie zum Aufstand.

Natürlich war dieses Libretto zur Zeit der Sowjetunion deutlich passend zur Staatsmeinung, dass die klassenlose Gesellschaft die beste sei und alle Ständehierarchien sich zu Gunsten der kommunistischen Gleichheit aller Menschen in Luft auflösen müssten.

Die Kritik an der Sklavengesellschaft wirkt heute, in Zeiten, da in immer mehr Berufen – auch unter Handwerkern – oftmals viel zuviel vom Einzelnen verlangt wird, aktueller denn je; viel aktueller etwa als in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, als die Musik und das Stück entstanden.

„Spartacus“ wirkt frisch und spannend wie ein Thriller!

Immerhin geht es ja auch um Werte wie Freiheit und Menschenwürde, um das Recht auf ein Überleben ohne Qualen – und es geht um den Widerstand gegen eine übermächtig erscheinende Soldateska.

All dies sind Tugenden, die in der Zukunft sicher nicht weniger wichtig werden, auf diesem vom Menschen beherrschten, vom Menschen zerstörten Erdball.

Wenn Spartacus das Gute verkörpert – wer ist dann das Böse?

Da muss man nicht lange suchen. Das Militär wird hier angeführt vom rücksichtslosen Feldherrn Crassus, der (seinem historischen Vorbild im übertragenen Sinne gemäß) eine Paraderolle des sprungfertigen, hoch aggressiven Bösewichts abgibt.

Spartacus bewegt die Welt.

Er springt hoch, aber nicht genau so, wie Crassus es in der Originalfassung sollte: Sergei Polunin zeigt in München eine etwas eigenwillige Interpretation des Bösewichts Crassus, im Jahrhundert-Ballett „Spartacus“ von Yuri Grigorovich. Foto: Wilfried Hösl

Sergei Polunin, der immer noch junge, in der Ukraine geborene Shooting Star, der von London aus berühmt wurde, gab jetzt sein Rollendebüt als Crassus in der Münchner Premiere.

Und er enttäuschte insofern, als er – möglicherweise, zumindest augenscheinlich, an einer Rückenverletzung laborierend – die bekannten Sprünge dieser Choreografie nicht ganz so linientreu zeigt, wie man sie eigentlich kennt.

Da neigt sich der Oberkörper nicht weit genug nach hinten den hochgezogenen Beinen zu, wenn er das Schwert, machtlüstern ausholend, gen Fußsohlen zu schwingen hat.

Jeder Interpret des „Crassus“ muss da seine eigene Biegung hinkriegen, um den Körper mondsichelartig schweben zu lassen, während das Schwert über ihm eine Linie zeichnet und sich wie eine hinter dem Kopf wehende Mähne senkt.

Aber Polunin vermasselt das.

Mehr oder weniger stocksteif steht er da in der Luft, winkelt nur die Beine so stark an, wie es die Bolschoi-Helden tun, etwa Vladislav Lantratov.

Aber Kopf und Oberkörper bleiben bei Polunin stolz erhoben, ohne ausreichendes, Cambré, was der Rollenpose ihre perfide Passion nimmt.

Und auch sonst scheint es, als nehme sich Polunin – entgegen seiner sonstigen Art, immer gern voll aufzudrehen – überraschend zurück.

Wir hatten gedacht, dass er eine Idealbesetzung sein könnte – und die uns sonst negativ an Polunin auffallenden Eigenschaften könnten hier zu der Partie des Crassus allerbest passen.

Spartacus bewegt die Welt.

Er wirkt weder kalt noch überspannt: Osiel Gouneo vom Bayerischen Staatsballett als „Spartacus“. Foto: Wilfried Hösl

Dass Polunin vom Ausdruck her oft kalt wirkt, vielleicht sogar überheblich, hätte er hier nicht überspielen müssen – das hätte sehr gut den Crassus, diesen grausamen und heimtückischen Feldherrn, gekennzeichnet.

Aber Polunin versucht, den gegenteiligen Weg zu gehen und dem Übeltäter Crassus eine Seele zu geben.

Das klappt nur teilweise – die Choreografie legt schließlich schon fest, dass Gefühle wie Neid und Machtrausch, Herrschsucht und Gier die Antriebsfedern bei Crassus sind.

Und dann erst seine Gattin Aegina!

Sie, vom Schlage einer Poppäa (Neros skrupelllose Ehefrau), heckt immer wieder neue Verderbnis für ihre Opfer aus. Sie ist es auch, die den Sklaven unter allen Umständen ihre Würde und mit Spartacus ihren Anführer nehmen will.

Svetlana Zakharova hat hier am Bolschoi Maßstäbe gesetzt, die einfach unübertrefflich scheinen.

Exquisit sind ihre edlen Sprünge, ihre raffinierten Drehungen, ihre schlängelnden Armbewegungen, ihre frivolen Beinbewegungen mit der Betonung auf dem sexy Frauenknie.

Zakharova ist als Aegina ein Luder der Upper class durch und durch.

Verführerisch ihre körperliche Makellosigkeit. Und gänsehauttreibend ihre boshafte Mimik dabei, ihr Ausdruck von schamloser, sich stets überlegen fühlender List.

Dass ausgerechnet Svetlana Zakharova, diese so majestätische Odette / Odile, diese so leidende „Giselle“, diese so sehr liebende „Kameliendame“ ein solches Biest wie die Aegina so hervorragend zu interpretieren weiß, zeigt doch, was für ein Prüfstein diese Rolle auch ist!

Was bleibt da noch für Natalia Osipova, die in der Münchner Premiere die Partie an der Seite von Sergei Polunin tanzt?

Spartacus bewegt die Welt.

Eine Aegina wie aus dem Bilderbuch, wenn auch noch nicht ganz auf dem Niveau, das später Svetlana Zakharova in dieser Partie so brillant erreicht hat: Maria Bilova 1990 am Bolschoi im „Spartacus“. Videostill der bei Arthaus Musik erschienenen DVD: Gisela Sonnenburg

Nun, nicht viel. Osipova ist trotz grimmig-süffisanter Grimassen keine überzeugende Aegina. Ihr fehlt die Raffinesse, auch die Schläue, und wenn sie fast ins Trampelhafte geht, um die brachiale Gewaltbereitschaft der Figur zu zeigen, so ist das zwar traurig anzusehen, aber gruselig ist es nicht.

Zwei von vier Paraderollen sind hier in dieser Besetzung also verschenkt.

Mag sein, dass der junge Jonah Cook, der den Crassus als Zweitbesetzung tanzt, weitaus mehr aus der Partie zu machen weiß. Kann aber auch sein, dass er schlicht noch zu jung und unerfahren für solch einen Mephisto ist.

Die Ensemble-Szenen begeistern jedenfalls fast am meisten.

Die Herren sind gut gedrillt, springen hoch und weit, zeitweise auch synchron, und die Originaliät der Choreografie kommt mit diesem Münchner Herren-Corps sehr gut zum Tragen.

Es sind streng genommen zwei Corps an Männern, die hier auftreten: Die Mannen von Crassus, also die römischen Soldaten, und die Sklaven, die Spartacus unterstützen.

Beide haben ähnliche Tanzmuster, sind aber in den Manövern der Blockeinheiten unterschiedlich geordnet.

Sprudelt im Lager des Spartacus die Lebensfreude, regiert bei Crassus die militärische Strenge.

Die Neigungen zur Orgie, zum Unmäßigen, die sich zwangsläufig bei zuviel abverlangter Disziplin ergeben, werden allerdings durch Aegina und Crassus vorzüglich choreografisch in Szene gesetzt.

Aber auch sonst hat Grigorovich eine Choreografie mit Suchtpotenzial geschaffen, so hervorragend ist sie.

Da gibt es gleich zwei Mal ein so genanntes „Suicide Wheel“ zu sehen, bei dem die Dame in den Händen des Herrn ein Rad schlägt, ohne sich selbst irgendwo abzustützen.

Spartacus bewegt die Welt.

Nicht immer ganz formvollendet, aber insgesamt sehr überzeugend: der Corps de ballet des Bayerischen Staatsballetts in „Spartacus“. Foto: Wilfried Hösl

Sie ist dabei darauf angewiesen, dass ihr Tanzpartner sie sicher hält… ein Risikomanöver, gerade richtig für die aufgewiegelte Gefolgschaft von Crassus und Aegina.

Wir finden dieses „Suicide Wheel“ auch in etlichen Balletten von John Neumeier – und in gewissem Sinn kann es jedes Mal als ein Grigorovich-Zitat gelten.

Aber wenn Aegina en dedans statt en dehors eine Pirouette en attitude dreht, dann könnte man sie für ein paar Sekunden glatt für eine Königin der ganz besonders charmanten Art halten.

Man wundert sich, wieso diese Spielart einer Drehung nicht auch außerhalb von „Spartacus“ Karriere machte.

Aber auch die Liebenden aus dem Sklavenlager haben delikate Schritte und Posen, die denn auch mit ihnen weltweit berühmt wurden und wie Topoi seither verwendet und zitiert werden.

So, wenn Spartacus seine Phrygia wie eine Lanze empor stemmt – sie muss sich mit ausgestrecktem Arm an seiner Nackenpartie festhalten.

Dann ist das, als werde dieses Paar mit den Waffen der Liebe auf jeden Fall die Welt erobern und verändern, und sei es auf telepathische Art oder von einem fernen Planeten aus.

Spartacus bewegt die Welt.

Liebe, wie sie sein soll, gerade in revolutionären Zeiten: Lyudmilla Semenyaka und Irek Mukhamedov 1990 im Bolschoi in „Spartacus“ – so zu sehen auf der DVD, die bei Arthaus Musik erschien. Videostill: Gisela Sonnenburg

Der utopische Charakter von „Spartacus“ gehört nämlich zur Meisterschaft des Yuri Grigorovich.

Er ist nicht umsonst derjenige, der den Bolschoi-Stil unwiderruflich geprägt hat: Er ist ein Tycoon der sowjetisch-russischen Choreografie und insofern so einmalig wie unübertrefflich.

Es war eine große Ehre, ihn live beim Applaus in München zu sehen!

„Spartacus“ bündelt aber auch so viele Energien!

Insgesamt sprudelt hier vor allem bei den Herren die vitale Kraft nur so strotzend hervor; bedenkt man, dass diese Choreo 1968 entstand, und dann auch noch hinterm Eisernen Vorhang, kann man kaum fassen, wie modern und neuartig sie damals gewirkt haben muss.

Und sie hatte Auswirkungen!

So ist die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, die John Neumeier 1975 in Hamburg kreierte (und die ab Ende Januar 2017 wieder in Hamburg zu sehen ist), ohne die Männersprünge in „Spartacus“ kaum denkbar.

Dieses erste bedeutende abendfüllende abstrakte Ballett ist in gewisser Hinsicht als Antwort auf Grigorovichs „Spartacus“ zu verstehen.

Auch Maurice Béjart kreierte – und zwar schon vor Grigorovich – Männer-Ballette, die mit „Spartacus“ zu korrespondieren scheinen.

Und schon 1961 entstand sein „Boléro“ mit einer Riesenschar begeistert sich rhythmisch bewegender Männer… wenn man so will, ist dieser französische Erotik-Thriller ein Vorläufer von „Spartacus“, in anderer Hinsicht als der der Nachahmung.

Spartacus bewegt die Welt.

Crassus (Sergei Polunin) in seinem militärischen Element: Was man mit Schildern auf der Bühne alles machen kann, zeigt Yuri Grigorovichs Choreografie. Hier beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Was in „Spartacus“ allerdings einmalig ist, ist die Aneinanderreihung von mächtigen, sehr originell variierten Sprüngen, die immer wieder sowohl bei den beiden männlichen Hauptprotagonisten als auch beim Corps de ballet für atemloses Hinsehen sorgen.

Und dann hat Spartacus selbst auch noch eine Serie von Fouettés zu absolvieren, jenen Pirouettenrausch also, in den klassischerweise vor allem Damen verfallen, besonders, wenn sie als Schwarzer Schwan Odile auf der „Schwanensee“-Bühne stehen.

Osiel Gouneo macht seine Sache insgesamt technisch gut, und auch der wütend-trotzige Ausdruck eines aufbegehrenden Unterschichtlers gelingt ihm.

Dass ihm dennoch der knackige Biss, die Wollust am Kampf, fehlen – ist nicht mal seine Schuld. Er ist halt nicht wirklich eine Optimalbesetzung, und im Rahmen dessen, was er machen kann, ist er wirklich sehr gut.

Bemühen wir uns, die Sache moderner zu denken. Gladiatoren könnten ja auch verträumte Poeten sein, dann wäre Gouneo genau richtig.

Andererseits: Gladiatoren sind Kampfbestien, die, wenn sie aufhören, das zu sein, sterben müssen.

Dieses Under-pressure-Stehen, diesen ständigen inneren Überdruck, nimmt man dem soft-lieblichen Kubaner halt nicht so ganz ab.

Dafür passt er vorzüglich zur Phrygia von Ivy Amista, die all ihre Weiblichkeit hier einzubringen vermag.

Elegant und liebreizend, nobel und verliebt wirkt sie.

Aber auch kummervoll und fast depressiv, wenn sie sich damit auseinander setzen muss, dass sie und Spartacus keine großen Chancen haben, lange zusammen glücklich zu sein.

Ihre Beinführungen haben große Delikatheit, ihre Armarbeiten sind erlesen poetisch.

Das ist, was Phrygia dem kämpferischen Umfeld, in dem sie und Spartacus leben, entgegen setzen kann.

Er aber ist dem Dauerstress des ständigen Kampfes, der ewigen Gefahr, ausgesetzt, ob als Sklave oder als Aufrührer.

Sie will hingegen das Liebesleben zu zweit, vorm Zelt, allein, in der freien Natur – und sie wird natürlich viel zu kurz insofern beglückt.

Spartacus bewegt die Welt.

Mann und Frau, exemplarisch von Yuri Grigorovich in choreografischen Ausdruck gebracht: auf der DVD „Spartacus“ von 1990 aus dem Bolschoi. Videostill der Arthaus-Musik-DVD: Gisela Sonnenburg

Die Pas de deux, derer es jeweils im ersten, zweiten und dritten Akt grandios angelegte mit exquisiten Hebefiguren gibt, die sich ins Ballettgedächtnis eingebrannt haben wie weiland moderne Petipa-Erfindungen, sind sehr schön getanzt.

Und sie legen nahe, dass Osiel Gouneo und Ivy Amista auch in anderen Balletten ein gutes Paar abgeben können.

Wenn Phrygia, mit gekreuzten Beinen und aufgestelltem Spitzenschuhfuß am Boden sitzend, ihren Kopf an seinen Oberschenkel lehnt – und er sie sogleich gestisch mit magischen Armbewegungen zu beschützen weiß – dann weiß man sogar, dass diese Liebe auch nach dem Tod des Helden nicht einfach vergehen wird.

Und man ahnt, dass eine Frau, die sich einen solchen Rebellen zum Liebhaber sucht, nicht vorhat, eine unpolitische Liebe überhaupt zu akzeptieren.

Insofern sind Phrygia und Spartacus wirklich ein Dreamteam.

Aber das Schicksal hat wenig Erfreuliches mit ihnen vor.

Spartacus macht nämlich einen verheerenden Fehler: Er schenkt seinen Widersache Crassus das Leben, als er den Zweikampf gegen ihn gewinnt.

Er hat seinen besten Freund getötet, nun lässt er den Feind, dem er das verdankte, laufen…

Was steckt dahinter? Männliche Unlogik? Eitelkeit, die sich in Gnade formuliert? Schlicht und einfach der Wunsch nach Frieden?

Spartacus bewegt die Welt.

Noch einmal: Frau und Mann beim sinnlichen Pas de deux… 1968 schuf Yuri Grigorovich diese Choreografie. Videostill von der DVD „Spartacus“ (Aufzeichnung von 1990 aus dem Bolschoi) von Arthaus Musik: Gisela Sonnenburg

Crassus jedenfalls begnügt sich fortan nicht damit, Spartacus und seine Gefolgschaft wohlwollend oder dankbar anzuschmachten.

Sondern er schmiedet, aufgewiegelt von der in jeder Hinsicht lüsternen – auch blutlüsternen – Aegina, böse Rachepläne, um den siegreichen Ex-Sklaven, der sich selbst und andere befreit hat, aus der Welt zu schaffen.

Sein Ego scheint nachgerade überzuschnappen, bei dem Gedanken, diesen Übermenschen Spartacus endlich loszuwerden.

Die Soli sowohl von Spartacus und Phrygia als auch von Crassus und Aegina sind hier stets einfühlsame Monologe von Menschen, die sich besondere Aufgaben vorgenommen haben.

Sie müssen besonders zart (Phrygia) und besonders stark (Spartacus), besonders lasziv (Aegina) und besonders aggressiv (Crassus) vorgetragen werden – und hier kommt die Münchner Premierenbesetzung dann doch deutlich an ihre Grenzen.

Spartacus bewegt die Welt.

Der Pas de deux im zweiten Akt hat einen besonders starken Charakter, zeigt alle Facetten der Liebe. Hier auf der DVD von Arthaus Musik, die auf einer Aufzeichnung von 1990 beruht. Videostill: Gisela Sonnenburg

Immerhin werden gestisch alle Konflikte und Wünsche, Ängste und Hoffnungen angesprochen. Das muss sehr ausdifferenziert zu sehen sein, darüber hinaus muss sich aber auch ein schauspielerischer Ausdruck ergeben, der sich mit den komplizierten Choreografien nahtlos verbindet.

Das eine Element muss das andere sozusagen immer wieder neu hervorbringen.

Dafür sind die Grigorovichs Choreografie allgemein zu rühmen, der „Spartacus“ als sein absolutes Mega-Meisterwerk aber insbesondere.

Die hier am wenigsten punktet, ist Natalia Osipova.

Aus ihr wurde in den letzten beiden Spielzeiten wohl wirklich so etwas wie ein „Zirkuspony“. Sie gastiert offenbar zu viel und arbeitet zu wenig intensiv an sich, und das macht sich nicht nur in ab und an regelrecht fahrigen Bewegungen bemerkbar, sondern auch in mangelhafter Rollengestaltung.

Ihre sportive Technik kommt Osipova hier zwar zu Gute – aber nur mit hohen Sprüngen kommt man der Aegina-Partie nicht bei.

Hätte Osipova auch ihre Gesichtsmuskeln so gut unter Kontrolle wie ihre Beine, dann hätte sie eine Chance, eine vor Wut und Machtlust rasende Aegina abzugeben.

Spartacus bewegt die Welt.

Man verehrt sich, man beschützt sich: „Spartacus“ und Phrygia, 1990 im Bolschoi-Theater, als DVD bei Arthaus Musik erhältlich. Videostill: Gisela Sonnenburg

So aber muss man sich diese Figur mehr denken, als dass man sie auf der Bühne erkennen kann.

Wer je Svetlana Zakharova als Aegina sah, wird selig seufzen und sich das Böse in ballettöser Reinkultur ins Gedächtnis rufen können.

Deren Plan, also der von Aegina, geht auf: Spartacus wird, nach einem furiosen Tanzlauf, bösartig hinterrücks gemeuchelt.

Abgestochen wie ein x-beliebiger Soldat. Der Wunderrebell, er ist an seiner eigenen Menschlichkeit gescheitert.

Er hätte Crassus nicht verschonen sollen…

Die Musik stöhnt auf, das Orchester fabuliert hervorragend, welchen Einbruch jetzt die Gefühlswelten von Phrygia und den anderen befreiten Sklaven erleiden.

Von hoffnungsfroher Zukunftszugewandtheit geht es rasant bergab in den Höllenschlund des Wissens: Es war mal wieder nichts. Schlimmer noch: Der Beste von allen ist verloren…

Der brave Marxist weiß nun natürlich, wieso: weil ein einzelner Aufstand nicht genügt, es müssen viele Revolten sein, ja, es muss sogar eine gebündelte, organisierte Weltrevolution sein…

Wie weit sind wir von dieser entfernt? Oder wie nah ist sie uns?

Spartacus bewegt die Welt.

Tolle, himmelhoch jauchzende Hebungen: „Spartacus“ mit Phrygia, zu sehen auf der DVD von Arthaus Musik, die die Aufzeichnung von 1990 aus dem Bolschoi zeigt. Videostill: Gisela Sonnenburg

Die Lebenserfahrungen des Scheiterns und des Verlustes machen indes viele Menschen, nicht nur die Revoluzzer.

Der Antrieb, trotz diverser Niederlagen niemals aufzugeben, ist sicher etwas, das man im Ballett besser lernt als irgendwo sonst.

Das Schlussbild zeigt denn auch die trauernde Hinterbliebene, Phrygia, über dem von vier Tänzern empor gehobenen Heldenleichnam.

Davor strecken sich die sehnsüchtigen Arme des Corps empor – und man muss regelrecht spüren, dass das hier nicht der letzte Aufstand war, den Roms Sklaven unternehmen.

Es ist denn auch fast unmöglich, diese Schlussszene zu sehen, ohne dabei einem Tränenausbruch nahe zu kommen.

Ist denn alles Gute im Menschen dazu verurteilt, immer und immer wieder zu scheitern?

Oder gibt es eine Hoffnung, einen Weg?

Mit diesem Konfliktpotenzial schickt „Spartacus“ uns nach hause… Wir müssen wohl selbst die Antwort finden.

Spartacus bewegt die Welt.

Ivy Amista als Phrygia in der Schlussszene von „Spartacus“ beim Bayerischen Staatsballett: ergreifend. Foto: Wilfried Hös

Immerhin enthält der letzte Ausdruck Phrygias auch einen Moment von Triumphgefühl, denn sie weiß, dass ihr Spartacus nicht umsonst starb.

Der Mythos, die Legende, wird sich weiter tragen und weitere inspirieren…

Alle Elemente, die ein großes Ballett enthalten sollte, finden sich hier somit von Anfang bis zum Ende in intensiver Qualität versammelt.

Auch, dass sich hier dialektische Vorgänge entwickeln und verstehen lassen, gehört zur Genialität dieses Stücks.

Nun hat Grigorovich in Sachen „Spartacus“ auf Erfahrungen von Kollegen aufbauen können.

Denn seine Choreografie war ja nicht die Uraufführung.

Die fand 1956 am Kirov-Theater in Leningrad statt, der Choreograf war Leonid Jacobson, der mit Sinn für Feinheit und viel Lyrik in den Pas de deux vorging.

Zwei Jahre später inszenierte Igor Moissejew den „Spartacus“ am Bolschoi, als Massen- und Monumentalballett.

Und: mit Maja Plissetzkaja als Phrygia.

Dennoch konnte sich auch diese Version nicht durchsetzen. Es bedarf eines Könners wie Grigorovich, um die Tragödie vom „Spartacus“ als Ballett zu einer Legende zu machen.

Und allein das Duell der Kontrahenten Spartacus und Crassus ist nun von so großer und von so außergewöhnlicher Schönheit, dass man meint, es sei ein einzelnes Stück, für wichtige Galas entworfen.

Von den Pas de deux, den schon erwähnten und gelobten, ganz zu schweigen…

Spartacus bewegt die Welt.

Sehr modern, 1968 in Moskau choreografiert: Pas de deux aus „Spartacus“, entnommen der DVD, die bei Arthaus Musik mit der Aufzeichnung von 1990 erschien. Videostill: Gisela Sonnenburg

Das Gleichmaß, die Ausgewogenheit von Soli, Paarszenen und Ensembletänzen ist hier ebenso zu bewundern wie die klare und dennoch nie platte Ausdruckssprache der Körper, die Grigorovich hier fand.

Auch das Verhältnis der Klassik zum Modernen ist ein zweites Augenmerk wert.

Da werden Pirouetten aus der zweiten Fußposition gestartet, als sei dies das Einfachste von der Welt.

Und wenn Spartacus vor dem Kampf mit Crassus Kraft tankt, dann geht er schweren, schleppenden Schritts – gleichsam betonend, dass er ein Mann mit Verantwortung sei.

Es stecken so viele zu entdeckende Details im „Spartacus“, dass jedem echten Ballettfan unbedingt eine DVD zum genauen Studium empfohlen sei.

Unter den verschiedenen Einspielungen, die es im Handel gibt, ist eine ganz besonders empfehlenswert: „Spartacus“ mit Irek Mukhamedov und Lyudmilla Semenyaka, mit Aleksandr Vetrov und Maria Bilova. Diese Aufnahme ist von 1990 – und angesichts der politischen Sprengkraft des Balletts „Spartacus“ passt auch die Gorbachov-Ära ganz gut ins geistige Bild.

Die Botschaft von „Spartacus“ ist und bleibt denn auch eindeutig die der Freiheit und Gerechtigkeit – und dahinter verbirgt sich in jedem Fall die Forderung nach gleichen Rechten der Menschen auf ein Leben in Würde.

Tanzt die Freiheit, liebe Ballettensembles in aller Welt, tanzt Grigorovichs „Spartacus“! Es ist ein Ballett von größter Aktualität.

Spartacus bewegt die Welt.

Man wird sie nie vergessen, wenn man ein Herz für Ballett hat: Die Bolschoi-Künstler von 1990, die den „Spartacus“ so individuell und inbrünstig wie kollektiv harmonisch tanzten. Zu sehen, immer wieder, auf der DVD, die bei Arthaus Musik erschien. Videostill: Gisela Sonnenburg

Die Münchner haben nun einen Neuanfang damit gewagt. Demnächst wird das Stück (am 27. Januar 2017) in Antwerpen beim OperaBallet Flaandern premieren.

Wer wird alles folgen? Auf in den Kampf! Aber bitte mit Liebe…
Gisela Sonnenburg / Franka Maria Selz

Termine: siehe „Spielplan“

Die DVD „Spartacus“ – als Aufzeichnung von 1990 aus dem Bolschoi – erschien bei Arthaus Musik (Cat.-Nr. 101 115)

www.staatsballett.de

www.arthaus-musik.com

 

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