Irrwitz und Behaglichkeit Jean Bellorini stellt Carmen-Maja Antoni und Georgios Tsivanoglou in „Der Selbstmörder“ von Nikolai Erdman auf die Bühne vom Berliner Ensemble

"Der Selbstmörder" ist mörderisch komisch.

Georgios Tsivanoglou als Semjon in seinem gemütlichen Bett. Aber er hat Hunger… nicht nur auf Leberwurst! So zu sehen in „Der Selbstmörder“ von Nikolai Erdman am Berliner Ensemble. Foto: Lucie Jansch

Die meisten Menschen richten sich gern gemütlich ein, egal, ob die Verhältnisse um sie herum in Ordnung sind oder nicht. Semjon Semjonowitsch Podsekalnikow, dessen Name im Laufe des Abends noch einen irrversiblen Satirecharakter bekommt, ist hingegen ein eher verdrossener, bräsiger Zeitgenosse, den außer gutem Essen nichts so rasch begeistern kann. Der sowjetische Autor Nikolai Erdman, der ihn in seinem Theaterstück „Der Selbstmörder“ als Hauptperson erfand, bezeichnet Semjon als „arbeitslosen Kleinbürger“. Vor allem aber ist er ein Haustyrann, dessen Möglichkeiten, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, nur halt ziemlich begrenzt sind. Georgios Tsivanoglou spielt diesen mackerhaften Tunichtgut mit Verve und Charme – die Inszenierung von Jean Bellorini am Berliner Ensemble baut seine Partie denn auch zum Leitfaden durch das Stück aus.

Es beginnt mit einem Stillleben im Bett. Semjon alias Tsivanoglou liegt im unvermeidlichen Herrenunterhemd aus weißer Baumwolle schlaflos-dösend da, schon vor Stückbeginn, beim Einlass: sichtlich gelangweilt.

Rufend weckt er alsbald seine Frau, mitten in der Nacht, fragt sie nach – nein, nicht dem Sinn des Lebens, sondern nach der Leberwurt vom Abendessen. Ob da noch welche übrig sei?

So entspinnt sich die dauerverkrachte Ehe drastisch fürs Publikum, denn Maria, genannt Mascha (und gespielt von Hanna Jürgens), schimpft natürlich, weil ihr Mann sie nur aus Verfressenheit weckte.

Dass der Pascha aber selbst in die Küche schleichen könnte, um sich in aller Stille ein Wurstbrot zu machen, liegt hier sowieso außerhalb jeder Diskussion. Semjon ist ja der „Herr im Haus“, wie er gern mit selbstzufriedener Miene betont. Und zwar ist er das, wie er ebenfalls gern betont, auch ohne das Gehalt seiner Ehefrau mit aufzubessern.

"Der Selbstmörder" ist mörderisch komisch.

Georgios Tsivanoglou alias Semjon beim Schlussapplaus der Premiere im Beriner Ensemble: ein echter Typ, diese Figur… Foto: Gisela Sonnenburg

Uns ein Hartz-IV-Elend zu zeigen, konnte sich der Regisseur Bellorini hier definitv nicht entschließen, dazu wäre der Stücktext auch denkbar schlecht geeignet. Wenn sich Menschen heute umbringen, weil sie aus einem zivilisierten, gesellschaftsintegrierten Dasein in eine soziale Notexistenz am Rande jedweder Sozietät gestoßen werden, so sollte das zwar unbedingt Theaterthema sein. Aber eben nicht mit diesem Stück.

Um Armut geht es denn auch nicht im Stück. Sondern darum, wie sich ein Mann, der nichts zu tun hat, außer Stress zu machen, familiär durchfüttern lässt.

Und weil er eben der Mann ist, kriecht Mascha aus dem Bett und fragt den werten Gatten, ob er helles oder dunkles Brot zur Wurst wünsche.

So wurschteln die beiden sich durchs Leben, unterstützt und beobachtet von Serafina, der Mutter von Maria: einem Sinnbild der russischen Schwiegermutter.

Fabelhaft gespielt von der lebenden Theaterlegende Carmen-Maja Antoni, siezt sie sich zumeist mit Semjon, ist aber zugleich als Helfershelferin ihrer Tochter eine Art Verdopplung der sich kümmernden Hausfrau.

„Schwiemu“ (als Kürzel von „Schwie“ger-„Mu“tter) nannte man in der DDR diese treibenden Kräfte in den familiären Zellen, die stets und ständig das letzte Wort oder die letzte Tatkraft an den Tag legen.

Und während ihre Tochter alle Emanzipationsbestrebungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts flugs zunichte macht, indem sie nachts in die Küche zum Brotschmieren geht, singt Antonis Serafina, eine Zigarette rauchend, ein rätselhaftes, vorkriegshaftes Chanson, mit einer Melancholie und dennoch Strenge in der Stimme, die sie hier zu einer Art Märchenfigur im Stück werden lassen.

"Der Selbstmörder" ist mörderisch komisch.

Carmen-Maja Antoni spielt nicht nur, sondern singt auch ausdrucksoll und mit jener Poesie im Unterton, die aus Schauspiel mehr macht. So zu sehen und zu hören in „Der Selbstmörder“ am Berliner Ensemble. Foto: Lucie Jansch

Antoni trägt das ausdrucksvoll und anrührend vor, und mit der Akkordeonbegleitung klingt all das zutiefst poetisch-französisch. Mehr noch: Der Gesang der Schwiemu rückt die ganze Szene auf ein Niveau des Überzeitlichen und Entgrenzten – wie ein Schlüssel zur Interpretation des Kommenden erlaubt das Lied die metaphorische Überhöhung des sonst so satirischen Theaterstücks. Man horcht auf: Theater zeigt ja nicht nur seine eigene Gegenwart, sondern meint auch noch etwas anderes damit.

Der Schluss des Liedes, mit einem Ruf zum Heldentod versehen, ist offenbar eine Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, den Zweiten gewissermaßen prophezeiend. Aber die Stimmung, die ankündigt, es werde Böses geschehen, die ist echt, egal, von welchem geschichtlichen Ereignis sie angeregt ist.

„Der Selbstmörder“ entstand 1928, also zwischen den beiden Weltkriegen. Aber das Drama wurde zu Nikolai Erdmans Lebzeiten – aus Gründen der Zensur – nie aufgeführt. Mitte der Dreißiger Jahre wurde der Autor dann im Zuge des Stalinismus verbannt – und erst nach Stalins Tod rehabilitiert.

Im „Selbstmörder“ finden sich denn auch zahlreiche Anspielungen und Satiren auf die Situation nach der Revolution von 1918 / 1919.

Ein junger, hoffnungsfroher Parteigänger will da eine junge Frau „marxistisch ansehen“ – und meint damit, ihren Sexappeal zu übersehen.

Die Diskussion darüber, was Russland sei und was nicht, hängt im Stück aber sowieso mit der damaligen Entwicklung in der SU zusammen – heute muss man das Ganze als Metapher für den Zustand der globalisierten Welt sehen, wenn man das Stück solchermaßen entstauben will. Das klappt, auf der Interpretationsebene, tatsächlich gut.

"Der Selbstmörder" ist mörderisch komisch.

Jean Bellorini, gebürtiger Pariser, ist als Regisseur auch für die Musik und das Bühnenbild verantwortlich: ein Allrounder des Theaters, der seinen eigenen Stil beim Berliner Ensemble für „Der Selbstmörder“ gut zu tansponieren wusste. Foto: Bénédicte Deramaux

Das Bühnenbild, vom Regisseur ersonnen, bestärkt diese Herangehensweise. Im Zentrum steht übrigens eine elegant-metallene Wendeltreppe, die plötzlich abbricht und also ins Nichts führt. Ein Hinweis darauf, dass es um die Himmelsleitern aus biblischen Geschichten hier eher gar nicht geht.

Aber auch die Kostüme, die Bellorinis Kostümbildner und Co-Regisseur Camille de la Guillonnière entwarf, schlagen eine Brücke zwischen den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und unserer Gegenwart. Man geht nicht so weit, eindeutige Gegenwartszitate wie Handys oder Computer auf der Bühne zu platzieren. Aber Semjon darf zum Anzug weiße Turnschuhe tragen, und so manche textile Kledage – etwa der beiden auftretenden köstlich-kabarettistischen Bestattungsschwuchteln – deutet aus der historisierenden Fassade krass ins Heute.

Für komödiantisch-zeitreisendes Flair sorgen aber ohnehin die Typen, die drastisch überzeichnet auf die Bühne gebracht sind. Als da sind: Semjon als verfressener, unzufriedener Traumtrampel, der glaubt, in wenigen Übungsstunden Berufsmusiker auf der Tuba werden zu können.

Wie ihn seine beiden Damen, die Gattin und die Schwiegermutter, dabei unterstützen, ist indes zum Piepen.

Weil das mit der schnellen Karriere als Orchesterheld aber nichts wird, und weil er sich das im Grunde auch schon gedacht hatte, schreibt Semjon einen launigen Abschiedsbrief. Einen Dreizeiler, ohne konkrete Suizidneigung, aber wohl als Schrei nach Aufmerksamkeit gemeint.

"Der Selbstmörder" ist mörderisch komisch.

Bauch gehört bei manchen Theaterkünstlern dazu – so bei Georgios Tsivanoglou, der als äußerst verfressener „Selbstmörder“ damit eine gute Figur macht. Hier mit Joachim Nimtz als Nachbar Alexander und Carmen-Maja Antoni als Schwiegermutter in Erdmans „Der Selbstmörder“ am Berliner Ensemble. Foto: Lucie Jansch

Seine schlechte Laune wird von seiner Frau dann auch prompt als Selbstmordgefährdung gedeutet – sie will bei einem Nachbarn Hilfe holen.

Dieser nun, Alexander (mit viel brustzeigendem Campingplatz-Charme von Joachim Nimtz gespielt), ist Schießbudenbesitzer. Sein Beruf soll wohl sein Selbstbewusstsein und seine Handlungsfähigkeit unterstreichen. Seine Verehrerin Margarita (schön schlampig: Anke Engelsmann) und er sind fortan stets mit von der Partie, wenn es darum geht, Semjon gerade mal zu retten oder auch mit aller Kraft ins Grab zu treiben.

Denn aus dem Missverständnis, Semjon wolle sich umbringen, wird bald ein lukratives Geschäft für Alexander.

"Der Selbstmörder" ist mörderisch komisch.

Die Gerüchteküche brodelte, jetzt sind sie alle da: Profiteure vom erwarteten Leichenschmaus geben sich ein Stelldichein. So in „Der Selbstmörder“ von Nikolai Erdman am Berliner Ensemble. Foto: Lucie Jausch

Da das Gerücht, hier stünde ein spektakulärer Selbstmord bevor, die Runde macht, tauchen diverse Interessensvertreter bei Semjon und Alexander auf. Sie wollen von der vermeintlichen „Heldentat“profitieren.

Er solle sich umbringen, weil die Intellektuellen in Russland Auftrieb brauchen, fordert tänzelnd und charmierend ein langhaarig-zerzauster Vertreter der Intelligenzija (Veit Schubert). Und zwei kesse Frauen, von denen eine das scheinbar Idealistische, die andere das scheinbar Sinnliche verkörpern will, rivalisieren um Semjons Gunst: Ein Liebesselbstmord würde ihren gesellschaftlichen und emotionalen Wert als Frau erhöhen.

Unschwer ist zu erkennen, dass die euphorische Annemarie Brüntjen (mit lieblichem Augenaufschlag) und die leidenschaftliche Judith Stößenreuter (mit tollem Körpereinsatz) hier auch das Schauspielergewerbe an sich karikieren: Es geht Diva gegen Diva, Möchte-gern-Ikone gegen Möchte-gern-Ikone, Fan um Fan, Liebhaber um Liebhaber.

Einen weiteren komödiantischen Aspekt liefert die Religion. Ein russisch-orthodoxer Prieser (en travestie und wie eine Rasputin-Karikatur von Ursula Höpfner-Tabori ganz zart und asketisch gespielt) will am brisanten Todesfall mit Weihrauch und großer Rede partizipieren; „ein volkstümelnder Dichter“, der hoffnungsfrohe junge Mann und die schon erwähnten Bestattungsleute runden das dubiose Personal ab.

"Der Selbstmörder" ist mörderisch komisch.

Die Tuba ist gar nicht mal so einfach zu spielen… das bemerkt dann auch Semjon (Georgios Tsavanoglou) in „Der Selbstmörder“ von Nikolai Erdman im Berliner Ensemble. Foto: Lucie Jansch

Aber auch akustisch wird hier Gas gegeben: Zwei Musiker (Timofey Sattarov am Akkordeon und Philipp Kullen am Schlagzeug) befinden sich mit auf der Bühne – und halten den absurd-irrwitzigen Szenenablauf mit guter Laune und viel Jazz aus russisch inspirierten Noten zusammen. Für eine Szene übernehmen dann einige der Schauspieler auch Instrumente, sodass ein richtiges kleines Orchester entsteht – vor allem aber singen die Protagonisten oder lassen sich von der Musik die Bühnenhandlung einfach nur hilfreich untermalen. Das nervt nicht, hält aber wach.

Man merkt: Die Produktion wurde intensiv beprobt, mit einem engen Zusammenspiel aller Beteiligten, die Musikanten inbegriffen. Entsprechend gefesselt ist das Publikum: So modern die Inszenierung daher kommt, so klassisch ist doch auch ihre „Suspense“.

Alles sieht also nach spannender Ausweglosigkeit aus. Die Entscheidung Semjons, sich „morgen um 12 Uhr“ selbst aus dem Leben zu befördern, mutet schließlich sogar unvermeidlich an.

Semjon hält angesichts dessen einen furios schillernden Monolog, angesichts seiner letzten Stunden, er sieht sich ja als dem Opfertod geweiht.

Ach, wo wird die Seele hingehen nach dem Exitus? Auch das Publikum wird befragt, ob es ein Leben nach dem Tode gibt, und die Antworten sind, selbstverständlich: unentschieden, von „nein“ über „jein“ bis „ja“.

Georgios Tsivanoglou glänzt hier mit leisen und lauten Tönen, mit Liebe zum Detail und mit einer Lebenslust, die in Trauer ums zu verlierende Dasein übergeht.

Euphorisch feiert sein Semjon sich selbst als Held, der sich aufgibt, damit die anderen ein Vorbild und einen Märtyrer haben. Und die leisen Zweifel des Selbstbetrugs, die sich melden, sind in Tsivanoglous Gesicht ebenfalls bestens aufgehoben.

"Der Selbstmörder" ist mörderisch komisch.

Hurra, und noch ein Trinklied! Eine völlig schief gewickelte Gesellschaft feiert den anstehenden Selbstmord von Semjon… „Der Selbstmörder“ am Berliner Ensemble. Foto: Lucie Jansch

Höhepunkt ist die Vorbereitung des Leichenschmauses: mit elf Personen und den beiden Musikern an einer langen Tafelreihe vorn an der Rampe.

Hui, da gibt es russische Trinklieder und ziselierte verbale, auch körpergestische Selbstdarstellungen, dass es eine Freude ist!

Der Regisseur und Komponist Jean Bellorini, das muss man nun sagen, hat seinen eigenen Stil, den er sonst in Frankreich am Théatre-Gérard-Philipe in Saint-Denis pflegt, hervorragend ans Berliner Ensemble transponieren können.

Mit nur 35 Jahren gewinnt er dem hinterfotzig-witzigen Stück von Erdman sowohl eine rasante Dramaturgie als auch eine raffinierte Figurenzeichnung ab.

Und so nimmt das Bühnenschicksal seinen Lauf. Semjon gerät unter Druck, sich bald zu töten. Und alle freuen sich, völlig fanatisiert, aufs Begräbnis.

"Der Selbstmörder" ist mörderisch komisch.

„Der Selbstmörder“ – aber ist er überhaupt einer? Georgios Tsivanoglou hat mit der Hauptrolle eine neue Glanzpartie am Berliner Ensemble. Foto: Lucie Jansch

Der Hauptdarsteller greift schließlich zur Pistole – aber nachdem er die dafür avisierte Mittagszeit wegen Trunkenheit verschlafen hat, fällt es ihm schwer, sich ein zweites Mal aufs Ableben festzulegen.

Saukomisch ist der Kampf dieses weinerlichen Mannes, der mit der Waffe in der Hand um Bedeutung ringt. Nicht, indem er andere bedroht, sondern indem er versucht, seiner Selbstbedrohung aus dem Wege zu gehen. Es liegt so eine Behaglichkeit in den Dingen, wenn man sie nicht wirklich schonungslos ansehen mag.

"Der Selbstmörder" ist mörderisch komisch.

Künstler und Zuschauer waren gleichermaßen glücklich – beim Schlussapplaus von „Der Selbstmörder“ von Nikolai Erdman im Berliner Ensemble. Foto: Gisela Sonnenburg

Wie sich der Kuddelmuddel um Semjon wieder auflöst und wie dann, durch eine unerwartete Pointe, in letzter Minute doch noch der Tod auf die Bühne kommt, mag ich jetzt nicht verraten. Nur soviel: Lebensmüde sollten hier nicht reingehen, wenn sie depressiv bleiben wollen.
Gisela Sonnenburg

www.berliner-ensemble.de

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