Die neue Schönheit der Noblesse Nacho Duato befreite „Dornröschen“ vom Kitschvorwurf – eine Heldentat des Staatsballetts Berlin

Premierenapplaus

Großer Applaus, verdienter Applaus: Nacho Duato (in Jeans) mit seinem Staatsballett Berlin nach der Premiere von „Dornröschen“ in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Man könnte ein Rätsel daraus machen, und die Frage lautet: Was ist das? Es ist echt alt und doch ganz neu; antik und doch ziemlich modern; rasant, dennoch von innerer Ruhe – und farbenprächtig, aber keinesfalls bunt. Richtig: Das ist Nacho Duatos Version von „Dornröschen“, welche 2011 beim Mikhailovsky-Theater in Sankt Petersburg uraufgeführt wurde und jetzt beim Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper Berlin ihre Wiederauferstehung feiert. Ein Werk, leicht wie Watte, aber mit so vielen Geschmacksnoten versehen wie ein ganzes Kindergeburtstagsbüffet.

Hier schmeckt der Zuckerguss noch nach Zitrone, der Kartoffelsalat ist mit hausgemachter Joghurtsoße, und sogar das Marzipan kommt ohne industrielle Zusatzstoffe aus. Nacho Duato hat sich schwer ins Zeug gelegt, um dem beliebtesten aller Ausstattungsballette Stil und Trendgefühl zu verleihen, es wie nebenbei vom Vorwurf des Kitsches restlos zu befreien – und das Ergebnis ist so entzückend und vereinnahmend, dass man sich den Komponisten Peter I. Tschaikowski glatt lebendig wünscht, nur damit er sich das einmal anschauen könnte. Es ist, als führe Duato den ollen Tschaikowski mit seinen ohrberauschenden Gassenhauer-Melodien zu sich selbst, als geleite der von Mode und Kino inspirierte Choreograf den etwas angestaubten Musiker in eine neue Welt aus modernem Schick und märchenhaftem Charme. Bravo!

Zu danken ist aber auch Vladimir Kekhman, dem Impresario und Eigner vom Mikhailovsky, denn tatsächlich hat er Nacho Duato, damals Ballettchef an Kekhmans Haus, inständig darum gebeten, sein Talent nicht nur abstraktem Tanz zu widmen, sondern sich eben auch „Dornröschen“ vorzuknöpfen. Manchmal ist Auftragsarbeit nicht die schlechteste Grundlage für einen Geniestreich, so wie hier!

Sowie sich der Vorhang hebt, wird man auch schon angelacht von einer rückhaltlosen Freude an einem neu interpretierten Barock, hinter dem sich ziemlich schamlos die Postmoderne verbirgt. Eine köstliche Mischung! Nicht verschmockte Schnörkel ohne Ende, keine Rosendekorationen ohne Ende und schon gar keine aufwändigen Samtvorhänge, sondern schlichte, wohldosierte Ornamentik in weißem Schleiflack mit ausgesucht wenigen Goldemblemen bietet das Bühnenbild von Angelina Atlagic. Ihr Motto: Think big, but simple! Und das gefällt. Sie zeichnet auch für die geschmackvollen Kostüme verantwortlich – Duato brachte sie von seiner Petersburger Premiere mit, und Atlagic ist ein großer Zugewinn für Berlin.

Es sei mal angemerkt: Die Hauptstädter neigen nämlich in jüngerer Zeit sonst dazu, entweder in puristischen Radikalkuren einerseits oder in ausschweifenden Opulenzorgien à la Wir-sind-wieder-wer andererseits ästhetisch regelrecht zu verelenden. In Duatos „Dornröschen“ jedoch kommt das wohl temperierte Schönheitsgefühl einer ausgewogenen Symmetrie zur Geltung, die sowohl die Bedürfnisse nach solider Wertarbeit als auch nach einem Hauch von Dekadenz vollauf befriedigt.

Dornröschen ist wach

Aurora (Iana Salenko) ist wach! Der Prinz (Leonid Sarafanov) hat’s geschafft… Und die zwei sind verliebt, was man sehen darf. Foto: Yan Revazov

Der legendäre Rosenhain, in dem Dornröschen seine hundert Jahre verschläft, wächst denn auch erst als Gestrüpp, dann als Blütenmeer – von nostalgischen Rosen inspiriert – aus dem Schnürboden. Warum auch nicht sollten hier Himmel und Erde vertauscht sein? In einem Märchen ist alles möglich, und sollten Prinz und Prinzessin hier schon vor der Vermählung wie Mann und Frau miteinander leben, würde einen das auch nicht weiter wundern. So weit ist dieses „Dornröschen“ von Librettozwang, überkommener Moral und auch vom adligen Elitebewusstsein seiner ursprünglichen Entstehungszeit entfernt. Es triumphiert der Tanz als Taktgeber fürs Szenario!

Catalabutte, der Zeremonienmeister, elegant-männlich und gar nicht betulich von Arshak Ghalumyan dargestellt, ist der erste Tänzer, der seinen Fuß ins feierliche Schleiflack-Interieur setzen darf. Später darf Catalabutte sogar mal direkt mit dem Dirigent der Aufführung sprechen: „Maestro!“ fordert er in den Orchestergraben hinein, als Spaß, damit wir wissen, dass die Tänzer wissen, dass uns auch die Musik sehr wichtig ist.

Gerade „Dornröschen“ gilt nämlich als musikalische Erfolgsbombe, und auch der Komponist Peter I. Tschaikowski selbst hielt es für sein gelungenstes Ballett. Wir wollen uns nun nicht darüber streiten, ob der „Schwanensee“ hier nicht doch noch einige Vorzüge an Melancholie und ähnlicher Palettenbreite fühliger Nuancen mehr aufzuweisen hat. Bei der „Dornröschen“-Premiere dirigierte jedenfalls Robert Reimer mit viel Gefühl für Einsätze und Tempi. Dass gerade Catalabutte mit ihm spricht, hat Gründe:

Es gilt recht oft in dieser Märchenwelt, ein Fest auszurichten. Als erstes ist da die Taufe der Babyprinzessin Aurora. Um seine Herkunft ist das Kind zu beneiden: Beatrice Knop und Michael Banzhaf sind als darstellendes Herrscherpaar gütig, als Elternpaar offenkundig schwer ineinander verliebt – und als Protagonisten von so geballter Präsenz, dass sich der Blick glatt an ihnen festfräst.

Applaus für die lila Fee

Applaus fürs Staatsballett Berlin bei der Premiere von „Dornröschen“: vorn Sarah Mestrovic, die „Fée des Lilas“. Foto: Gisela Sonnenburg

Dabei gibt es noch so viel weiteres zu entdecken! Der Thron steht von einigen Stufen erhöht vor einer Balustrade mit Ausblick ins Freie – alles glänzt nonchalant matt in Cremeweiß und würde auch gut zu einer heutigen Millionärsvilla passen. Das Balustraden-Stufen-Arrangement erinnert an das legendäre, damals moderne Bühnenbild von Rudolf Nurejews „Schwanensee“.

Sehenswert aber auch die Kostüme, die frei von ironischer Selbstüberladung sind und dafür glücklich gelungen mit edlen Linien brillieren. Das feminine Ensemble trägt zunächst lachsfarbene Ballkleider, auch die zur Taufe gratulierende Feenkolonie trägt Zartes, die Herren sind passend gewandet. Pastellene und Eisfarben dominieren, und bei all dem Weiß und Creme auf der Bühne wähnt man sich schon fast in einer Werbung für Light-Schlagsahne. Wäre da nicht der liebliche Tanz!

Auf den ersten Blick erscheint da alles beim Alten. Oder ist es etwa nicht Marius Petipas gute, bewährte, immertaugliche Choreografie von 1890, aus dem zaristischen Sankt Petersburg, ein Glanzpunkt der internationalen Ballettkultur? Im Untertitel des Berliner Ballettabends wird Petipas Name allerdings nicht mal erwähnt, nur Nacho Duato wird da als Urheber der Choreografie vermerkt. Ein kleiner Faux pas, denn ganz ohne Petipa geht es auch hier nicht ­– und sollte es auch nicht. Nur: So richtig typisch klassisch ist das, was man sieht, eben auch nicht. Nacho Duato hat Petipa überformt – und manchmal paraphrasiert.

Nur als Grundlage taugen Petipas Vorarbeiten in dieser puderfarbenen Welt des steten Glücks! Einzelne Schrittkombinationen, ja, die erkennt man wieder. Aber ihre Abmischung mit delikat erneuerten Posen und Haltungen – ist absolut neu. Eine neue Schönheit der Noblesse ist geboren; eine Idee, das Alte zu bewahren, um Neues hervorzubringen; ein konsequent zu Ende gedachtes und geführtes Experiment aus verschiedenen Ästhetiken. So etwas hätte auch schief gehen können, wäre Duato nicht ein Könner und sich seiner ballettösen Sache instinktiv sehr sicher.

Premiere und Applaus

Ein glückliches Ensemble beim Schlussapplaus: das Staatsballett Berlin mit Leonid Sarafanov (in Weiß) beim Premierenapplaus nach „Dornröschen“. Foto: Gisela Sonnenburg

Nun war Nacho Duato, als er sich ans Werk machte, kein Anfänger mehr. Mit Petipas Klassik war er als Choreograf zwar zuvor noch nie konfrontiert worden. Aber er genoss eine zwar mit 18 Jahren spät begonnene, aber solide Grundausbildung zum Balletttänzer, er holte sich in London beim Ballet Rambert den exquisiten Schliff der englischen Schule. Ein starkes Verständnis auch für Petipa wächst da wie von allein in einem werdenden Tänzerhirn!

An Maurice Béjarts Mudra-Schule sowie in New York bei der Alvin Ailey Truppe lud sich der gebürtige Spanier gleich nach seinem Weggang aus London die Moderne auf. Es war sicher harte Arbeit, sich dort einzufinden und körperlich eine Heimat in den „unklassischen“ Bewegungen zu finden. Andererseits bleibt ein Künstler, der seine inneren Bedürfnisse nach neuen Stilen und nach tänzerischer Weiterentwicklung nicht stillen kann, zutiefst unglücklich. Dann lieber harte und härteste Arbeit! Das zumindest ist die Einstellung von Nacho Duato, und mit dieser fleißigen Haltung hat er sich auch seine neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Berlin erobert.

Man spürte bei der Premiere von „Dornröschen“, dass hier überwiegend an einem Strang gezogen wird; man sah, dass das gemeinsame Interesse an der ballettösen Tanzkunst sowie an der Kreierung eines neuen künstlerischen Profils des Staatsballetts vereint und den neuen Chef und die altneue Truppe bereits stark zusammen schweißt.

Auch wenn die Gewerkschaft ver.di, in der neuerdings ein Großteil der Berliner Tänzer organisiert ist, derzeit zähneknirschend versucht, mit der Geschäftsführung des Berliner Staatsballetts neue Tarifverträge auszuhandeln. Was offenbar nicht so richtig funktioniert, weshalb ver.di am Premierenabend vorm Opernhaus zweisprachige Info-Blätter darüber verteilte, dass verhandelt werden müsse. Wer mehr dazu wissen wolle, so das Flugblatt, könne direkt den Fachbereich 8 von ver.di in Berlin kontaktieren (fb08@verdi.de).

Allerdings sei angemerkt, dass die Verträge zumindest der Ersten Solisten immerhin bereits so kulant sind, dass diese zum Einen häufige Gastauftritte außerhalb Berlins wahrnehmen können und zum Anderen so geschmacklose wie moralisch zweifelhafte Werbung für hochprozentige Alkoholika machen dürfen – beides sind finanzielle Luxusgeschäfte.

DARF EIN JUGENDVORBILD SCHNAPSWERBUNG MACHEN?

Iana Salenko, die begnadete Primaballerina und auch „Dornröschen“-Darstellerin der Premiere, hat in diesem Sinn zeitweise mit Likörwerbung im Fernsehen zwar zusätzlich zu ihrem durchaus guten Gehalt als Führungskraft noch ein weiteres Einkommen an Land gezogen, aber nicht gerade Fan-Punkte bei mir gesammelt. Vielleicht sollte man sie, die im Interview stets scheu wirkt, das mal direkt fragen: Will sie wirklich, dass die Jugendlichen, für die sie ein wichtiges Vorbild ist, sich auf ihr Anraten hin billigen Schnaps kaufen? Will sie wirklich daran verdienen, wenn sich noch mehr Menschen in eine Alkoholsucht trinken? Hat sie, die aus der Ukraine stammt, noch nie davon gehört, dass Alkohol – und zwar gerade solcher Billigfusel – ein Riesenproblem in westlichen wie östlichen Gesellschaften ist, eines, das Menschen, Familien, Karrieren und Liebesbeziehungen systematisch zerstört?

So gesehen, ist es vielleicht naiv von mir, Iana Salenko dennoch unverdrossen als Künstlerin auf der Bühne weiterhin zu loben. Aber sie tanzt nun mal auf außerordentlich hohem Weltniveau; es dürfte zwischen Moskau, Tokio, Paris und New York nur sehr wenige Ballerinen geben, die es mit ihr aufnehmen können. Dennoch sie hat es faustdick hinter den Ohren – obwohl sie selbst schon Mutter ist und das auch ganz gern stolz mitteilt, hat sie ja offenbar keine Hemmungen, andere junge Menschen zum Saufen zu animieren. Wohl bekomm’s, liebe Iana!

Banzhaf, Knop, Salenko

Die Eltern (Beatrice Knop, Michael Banzhaf) von Aurora (Iana Salenko, am Boden) können es noch gar nicht fassen: Ihr Kind fiel unversehens in einen Tiefschlaf. Foto: Yan Revazov

In „Dornröschen“ hat die ausgewachsene Titelheldin allerdings erst im zweiten Teil ihren ersten Auftritt. In der Taufszene des Prologs wird sie als Wickelkind in den liebenden Armen der adligen Mutti geschaukelt, und die schöne Beatrice Knop spielt das, als sei sie für solche Rollen geboren. Wer weiß, vielleicht wird sie, die auch über ein angenehmes stimmliches Timbre verfügt, uns mal in Film oder Fernsehen als ernstzunehmende Schauspielerin begegnen. Und hoffentlich nicht in für andere ungesunden Werbeclips!

Im Duatos „Dornröschen“ existieren indes keine solche gravierenden gesellschaftlichen Probleme wie Alkoholismus, Arbeitslosigkeit oder Armut. Es ist ein Märchen, ein Paradies – und das Auftauchen einer schillernden Bösewichtin, die sich unmäßig für eine Unaufmerksamkeit ihr gegenüber rächen will, hat einen ebenso unterhaltsam-komischen wie drastisch-gruseligen Effekt. Gemeint ist Carabosse, die böse Fee, die traditionell von einem Mann getanzt wird und hier zusätzlich noch einem Film von Pedro Almodóvar entsprungen scheint. Es ist eine Köstlichkeit, diese Transe anzusehen, ihre männlichen, breiten, aber schönen Schultern im schwarzsilbern schimmernden Abendkleid! Kein Wunder, dass sie aus Wut darüber, dass sie nicht zur Taufe von Aurora eingeladen wurde, selbige mit einem Fluch belegt. Sie tut das schon der Aufmerksamkeit wegen, die sie dafür erntet!

Carabosse mit ihren Boys

Carabosse (Rishat Yulbarisov) ist eine starke Persönlichkeit – und lässt es nicht auf sich sitzen, wenn man sie nicht einlädt. Foto: Yan Revazov

Diese Carabosse ist eine dramatisch begabte Diva des Boshaften, eine badeschaumgeborene Anti-Venus, eine Göttin der paillettenfreudigen Travestie, und Mary & Gordy hätten noch jede Menge von ihr lernen können. Rishat Yulbarisov genießt es denn auch, diese Rolle zu verkörpern; er ist ein markanter, starker Tänzer mit Spaß an der Kledage, mit dem Willen zu frivoler Unterhaltung – und das Publikum kann sich vor Begeisterung kaum noch zurückhalten, sobald es ihn erblickt. Yeah, das bringt Pfeffer in die Show! Und man darf sich auch schon auf Michael Banzhaf in dieser Rolle freuen, wobei man aufpassen muss, Catalabutte mit ihrer meterlang flatternden schwarzen Seidenschleppe nicht versehentlich zur heimlichen Hauptperson des Abends zu küren.

Denn an sich geht es nicht nur um die temperamentvolle Verwünscherin, deren Mitarbeiterstab zudem noch aus sechs so fantastisch springenden Jungs wie Vladislav Marinov und Alexander Abdukarimov besteht. (Der blonde, noch sehr junge Abdukarimov kam übrigens jüngst aus Kiel, jawohl, aus Kiel in Schleswig-Holstein nach Berlin – und er wird, bei seiner Präsenz und seinem Ehrgeiz vielleicht einen flotten Aufstieg zum Solisten absolvieren.)

Aber außer Carabosse gibt es auch noch das Gute in einer ganz grazilen Gestalt in dieser schönen Welt, denn sogar ein Paradies wie dieser freundlich geweißte Palast aus Märchenbarock braucht noch so etwas wie die personifizierte Gütigkeit. Sarah Mestrovic ist hier die Queen des Abends, in fliederhellem Tutu, mit sanftmütig-schelmischer Miene, und mit soviel Sorglosigkeit in den schlanken Beinen, dabei aber edel geführten Armhaltungen, dass all die technisch schweren Drehungen und Hinwendungen wie leichthin pikante Details eines – naja, eben: Feentanzes anmuten.

Feen zeichnen sich ja normalerweise dadurch aus, dass sie über ihr Sichselbstsein gar nicht weiter nachdenken. Diese frohlockende Lebensfreude versprüht auch Mestrovic in der Rolle, das macht sie so gut darin. Sie zelebriert sich nicht als das moralisch Wertvolle des Abends oder gar als letztlich siegende Weltmacht. Sie wirkt von innen nach außen, wirkt durch den gegenwärtigen Tanz und das situationsbezogene Spiel – das ist eine durchaus angebrachte und uneitle Naivität, ohne die das Märchen „Dornröschen“ womöglich vor die Hunde gehen würde. Denn zuviel Draufsetzen aufs eigentliche Leben kann unterschwellig depressiv machen, und es gibt „Dornröschen“-Inszenierungen, nach denen man sich am liebsten entleiben möchte, weil der schöne Schein darin so offensichtlicher Schein ist.

Gut und Böse

Gut und Böse: Die Fée des Lilas (Sarah Mestrovic, rechts im Bild) und Carabosse (Rishat Yulbarisov) in direkter Konfrontation. Auch das bietet „Dornröschen“! Foto: Yan Revazov

Hier aber darf man mitleiden und mitschauern, und wenn Carabosse sich der süßen Fliederfee nähert (die hier ganz ordentlich französisch und historisch korrekt „Fée des Lilas“ heißt, also „Lilienfee“) – so befürchtet man schon das Schlimmste. Aber die Kraft der Liebe rettet die schöne Fliederfee, und so wird sich am Ende noch alles zum Guten wenden. Sie muss allerdings ganz schön aktiv dafür werden, das ist ein Unterschied zu einigen anderen „Dornröschen“-Versionen, in denen die „Fliederfee“ oft nur so etwas wie pirouettierende Dekoration ist.

Alles andere als Deko sind auch die übrigen Feen, die zu diesen Hoffestivitäten eingeladen werden müssen und die zu „Dornröschen“ im Ballett noch stärker dazu gehören als etwa die Dornen oder die Rosen.

Im ersten Teil sind es vor allem die solistischen Virtuosenparts von fünf feenhaften Damen, die bei der Premiere vor allem von Krasina Pavlova, Marina Kanno und Elisa Carrillo Cabrera mit Brillanz und Verve getanzt wurden. Ob maliziös zuckend oder vogelartig vibrierend: Sie verströmen Spaß – und beweisen mit der Mischung aus technischen, oft blitzschnellen Raffinessen und der modern-elegischen Anmutung à la Nacho Duato in den Zwischenschritten und Posen einmal mehr, dass diese Überformung der Petipa-Choreografien wie ein Geschenk ist.

Schließlich haken sich die sechs Feenmädchen in einer Reihe unter, aber nicht so simpel wie die vier kleinen Schwäne in „Schwanensee“, sondern erstens mit den schönen Rücken zum Publikum und zweitens auf eine verwirrend armschlängelnde Weise. Es gibt ein Foto davon, zum Glück, wir können es alle hierauf sehen.

Feen à la moderne

Die sechs tollen guten Feen aus Nacho Duatos „Dornröschen“: klassische Figuren mit moderner Anmutung. Foto: Yan Revazov

Aber, ach, das Böse und sein Leidensdruck lassen nicht auf sich warten. Zunächst also verzaubert die gekränkte Carabosse ganz ohne Nebel, aber mit vielen gestischen Flüchen die kleine Aurora: Sie soll sich dereinst an einer Nadel stechen und dabei tot umfallen. Unsere Fliederfee kann den Fluch gerade noch abmildern: Aurora wird nur schlafen statt sterben, wenn auch hundert lange Jahre…

Wenn sich der Vorhang wieder hebt, ist es Sommer und Aurora sechzehn Jahre alt. Der Blick nach hinten ist jetzt einer in den Schlosspark: Grüne Bäume, blauer Himmel, es lockt das Leben, und die Balustrade mit dem Fenster sieht noch immer aus, als sei sie von Nurejews „Schwanensee“ inspiriert. Die Geburtstagsfeier verläuft zunächst nach Plan: Aurora alias Iana Salenko ist das perfekteste kleine Wesen in hautfarben-rosa Tüll, das man sich nur denken kann.

Iana Salenko

Iana Salenko im Spagatsprung: Ihre „Dornröschen“-Darstellung stimmt bis aufs letzte „i“-Tüpfelchen. Foto: Yan Revazov

Aurora, und das unterscheidet sie von anderen Ballettprinzessinnen, ist nämlich die klügste und vornehmste von allen, denn das gehört zum Fluch der Carabosse. Damit ihr Verlust möglichst schmerzhaft sein würde, wünschte sie Aurora alle nur erdenklichen positiven Eigenschaften an den Hals.

Entsprechend sind Prinzen angereist, um Aurora zur Eheschließung zur verführen. Oh, und einer hat tatsächlich Chancen bei ihr! Es ist hübsch inszeniert, wie Aurora, die mit den drei anderen zuvor mehr oder weniger ohne innere Anteilnahme tanzte, dann beim vierten, einem hübsch dreinschauenden, hoch gewachsenen Mann in schimmerndem Grasgrün, große Augen macht. Sie stockt mit dem Atem und kippt beim Pas de deux glatt rückwärts tief in seine Arme: kunstvollendet. Olaf Kollmannsperger, neu im Ensemble und in Madrid ausgebildet, ist Kerl genug, um das ebenfalls zu genießen – ach, sie wären ein hübsches Paar, diese Aurora mit diesem Prinzen.

Doch es wird nichts werden. Eine hutzlige Alte schenkt der Prinzessin zum Geburtstag einen seltsamen, glitzernden, länglichen Gegenstand, den Aurora übermütig annimmt – und sich daran am inneren Unterarm sticht. Denn die Alte ist, wie könnte es anders sein, Carabosse! Die zepterlange Nadel, die Dornröschen nun bald zur Verkörperung der Titelverheißung macht, könnte hier eine Anspielung auf eine Heroinspritze oder dergleichen sein – zumindest wirkt sie weniger rückständig als die ewige Spindel, die es im Original ist und die aber zum Stück oder auch zu irgend einer weiteren Gegenwart keinen weiteren Bezug hatte.

DORNRÖSCHEN – EIN GETANZTER TRAUM NOCH IM TAUMELN

Es ist unbedingt sehenswert, wie Salenko als Aurora nun taumelt und weiter tanzt, taumelt und weiter versucht, sich gegen die Wirkung der Nadel zu wehren. Anmutig, dennoch schwer getroffen, zart, aber von unbeirrbarer Kraft beseelt, dreht sie noch einen Halbkreis durch die schockierte Hofwelt auf der Bühne, bis sie schließlich in die Arme des Vaters sinkt, der sie nur noch sanft auf den Boden betten kann. Muttern bricht es fast das Herz – nur der tänzerisch exquisit von Michael Banzhaf geleistete Beistand ihres Gatten hält sie noch am Leben. In einem extrem modernen, leider kurzen, dafür minimalistisch aufregend-perfekten Pas de deux im Stehen hält Banzhaf die sich vor Leid biegende Knop aufrecht. Oh, was für ein Kummer in einer so schönen Welt!

Der Skandal des Schrecklichen wirkt im Märchen ja umso drastischer, desto gefügiger die Menschen dort sonst sind. Insofern ist Ballett mit seinen Symmetrien und Balancen, seinen Sychronizitäten und Harmonien für solche Szenen hervorragend geeignet. Kein Schauspiel, kein Gesang kann das Aufeinanderprallen positiver und negativer Mächte so eindringlich illustrieren. Wirklich, der scheinbare Tod von Dornröschen geht einem nahe, und es zeichnet Nacho Duato hier und in weiteren Momenten des Stücks aus, dass er auch der Kinderseele, die in jedem wohnt, genüge tut.

Das vorläufige Schlusswort hat die Fliederfee: Bevor sich jetzt der Vorhang schließt, beschwört sie uns, das Publikum, mit beredter Körpersprache, nicht zu verzweifeln, sondern Mut und Zuversicht zu bewahren: eine Rettung wird kommen…

Dornröschens Jäger

Die Jagdgesellschaft und der Prinz (Leonid Sarafanov): typisch für die dezent moderne Schönheit in historischer Einbettung, die diese Inszenierung von Nacho Duato beim Berliner Staatsballett auszeichnet. Foto: Yan Revazov

Eine Rettung vor dem Rokoko-Bombast, der mitunter nach Ablauf der hundert Jahre Dornröschenschlaf in den entsprechenden Ballettversionen auf uns wartet, dräut denn auch flugs, sowie es weiter geht: Eine Jagdgesellschaft, wie aus einem englischen Gemälde des frühen Biedermeiers entnommen, tanzt in rein moderner Schönheit zu den bekannten Tschaikowski-Klängen in der fein stilisierten Waldlandschaft mit See im Hintergrund. Die Ausstatterin Angelina Atlagic (die übrigens in Belgrad ausgebildet wurde und in Montenegro eine Professur inne hat) ließ sich mal wieder was einfallen.

Dass Duatos Stil in historischer Einbettung funktioniert, ohne anachronistisch oder aufgesetzt zu wirken, ist ein Stück weit auch der richtigen Wahl der Ausstatterin zu danken. Elegant schieben sich die Körper in dieser traumhaften, aber nicht überfrachteten Kulisse über die Bühne. Die Hebungen sind zwar in etwa dieselben, wie man sie aus abstrakten Duato-Balletten kennt. Aber sie erhalten im Bühnenbild und im Geschichtenkontext neue Bedeutungen. Eine einander umsorgende Freundesclique ist diese Jagdgesellschaft also, es sind Menschen, die miteinander an der Liebe wie an der Schönheit bauen, als sei das eine Frage der Statik und der Architektur. Es ist wie eine Entdeckung von bisher übersehenem Neuland. Toll.

Leonid Sarafanov

Leonid Sarafanov als Prinz Desiré in Nacho Duatos „Dornröschen“ in Berlin: ein Held der Sehnsucht und auch der Tatkraft. Foto: Yan Revazov

Und endlich hat auch der mit heißem Gemüt erwartete Gaststar Leonid Sarafanov als Prinz Desiré seinen Auftritt. Oh, diese Anmut, dabei diese Trittsicherheit – es ist ein Glück, ihn zu sehen, und auch, wenn er keine zwanzig Jahre mehr jung ist, so ist er mit seinem bubihaften Gesicht und seiner konzisen Körpersprache doch genau der Richtige als Starbesetzung für diesen Prinzen. Es ist ja so eine Sache mit Desiré: Er mag seine Leute, seine Jagdgesellschaft, zwar, aber im Innern ist er abgrundtief gelangweilt. Sarafanov macht das mit wenigen Gesten klar – er verkörpert eine noble Seele, die ein Stück weit abenteuerlustig und risikobereit ist.

Seine Sprünge und Arabesken sind dabei glasklar, voller Spannung und voll von romantischer Sehnsucht. Hier geht es nicht um Kunststückchen, sondern um Darstellung – Leonid Sarafanov zählt deshalb zu den ganz Großen der aktuellen internationalen Ballettwelt.

Sarafanov wurde in Kiew geboren und ist am Mariinsky-Theater in St. Petersburg zum Weltstar geworden. Wo auch immer er gastiert, ist er ein Publikumsmagnet. In Petersburg hat er vor einigen Jahren das Theater gewechselt und ist zum Mikhailovsky gekommen. Dort tanzte er für Nacho Duato, und zwar gerade auch diese Prinzenrolle aus „Dornröschen“.

Leonid Sarafanov im Sprung

Der schöne Leonid Sarafanov im Sprung: Ein Prinz Desiré, wie der Name der Rolle schon sagt: ein Gewünschter! Foto: Yan Revazov

Nun hat dieser Prinz nicht allzu viel zu tun. Es ist keine mörderische Anstrengung, ihn zu tanzen. Darin liegt indes auch eine Schwierigkeit, und zwar die, keine Sekunde auf der Bühne zu vertun. Dieser Prinz muss hundertprozentig wach sein und komplett fasslich als Charakter, sonst wird er langweilig. Sarafanov kann eben das: mit wenig Möglichkeit auf der Bühne viel aussagen.

So ist man nicht verwundert, dass ihm bald im Wald unsere Fliederfee begegnet. Ob er sie halluziniert oder ob sie wirklich zu ihm tritt – wer weiß. Jedenfalls erzählt sie ihm in modern-anmutiger Pantomime von der armen schönen jungen Frau, die da zu hundert Jahren Schlaf verdonnert wurde. Es ist ja nun bald Zeit, sie aufzuwecken! Ob er das nicht besorgen wolle? Ein so stattlicher Prinz wie er sollte es für die Prinzessin Aurora schon sein!

Der Prinz will erst mal Näheres wissen. Wie sieht die junge Dame aus? Was hat sie zu bieten? Kein Problem für eine Fee, solche Fragen zu beantworten. Wusch, erscheint auch schon Aurora, lieblich, trippelnd, somnambul, aber sympathisch – und der erste Pas de deux der späteren Liebenden ist somit ein Pas de trois, verkuppelt von einer Lilienfee.

Wenn das nicht mal entzückt! Prinz und Prinzessin beschnuppern sich, klopfen sich auf Herz und Nieren ab – und befinden, jaaaa, man könnte sich füreinander interessieren. Süß ist das, dieses fast kindhafte, dennoch sinnliche Kennenlernen zweier junger Menschen, unter so ungewöhnlichen Umständen – das hat Delikatesse.

Und weil es im Ballett stattfindet, geben sowohl Aurora als auch der Prinz jeweils ein großes starkes bildschönes Solo voller Pirouettentricks (sie) und Sprungherrlichkeiten (er) aus. Es ist schon fast wie beim Grand pas de deux, und dieser Vorgeschmack schürt denn auch die Vorfreude auf den letzten Akt.

Iana Salenko und Leonid Sarafanov

Iana Salenko als Aurora mit Leonid Sarafanov als Prinz Desiré in Nacho Duatos „Dornröschen“ beim ersten Pas de deux, also im Wald: modern, dennoch passend, und zudem sehr leidenschaftlich. Foto: Yan Revazov

Bei diesen Superstückchen Tanzkunst zeigen sich zudem erneut die Vorteile der modernen Machart von Nacho Duato: Er kann sich der Klassik und ihrer Technik bedienen, wenn er sie braucht, er kann aber auch alle Regeln und Konventionen des klassischen Balletts brechen oder konterkarieren. Und das tut er ausgiebig, mit Erfolg: Die ausdrucksstarken Figurinen, die er kreiert, bleiben im Gedächtnis haften und spenden noch lange nach Vorstellungsende viel Freude.

Umgehend eilen jetzt aber erst einmal die grünen Nymphen, also die Waldfeen, herbei, um das Werk der Fliederfee vollenden zu helfen. Wunderhübsch schlängelt sich der weibliche Teil des Corps de ballet über die Bühne, in hellgrünen romantischen Tutus eine Augenweide.

Und mit niedlich vorgespreiztem Zeigefinger – was bei Petipa eine Sünde wider den Klassikkanon gewesen wäre – weisen sie Desiré den Weg, nicht umsonst heißt er so: „Desiré“, der Gewünschte.

Es folgt eine unvermeidliche Überfahrt in einer Gondel, denn wo ein See ist im Ballett, und zwar einer ohne verzauberte Schwanenmädchen, da ist auch so eine Kahnfahrt in Sicht. Der Prinz beginnt seine Reise in ein auch für ihn neues Leben…

Und dank der Fliederfee findet er Dornröschen, mitten im Wald, von einer Rosenhecke verborgen. Aurora schläft auf einem schräg nach vorn abschüssigen Bett, ein wahrer Thron als Bett, mitten in der Natur – ein rührender Anblick und auch eine Erinnerung an den locus amoenus, jenes Uridyll für die Liebe und zum Träumen, von dem schon in der Antike und im Mittelalter geschwärmt wurde.

Ein zarter Kuss, eine Berührung nur, und Aurora erwacht, steigt von ihrer Liegestatt herab, reicht dem Prinzen die Hand, man verliebt sich ohne weiteres beim bloßen Anblick ineinander – und er geht auf die Knie, küsst ihre zarten Finger, wir ahnen: Das wird jetzt mal gut gehen! Und der Vorhang darf sich schließen.

Applaus für Nacho Duato

Hier applaudiert das Staatsballett Berlin für Nacho Duato, Choreograf von „Dornröschen“ und Berliner Ballettintendant. Foto: Gisela Sonnenburg

Zeit für eine kurze Zwischenbilanz: Das Staatsballett Berlin hat sich an den neuen Stil bereits gewöhnt und vermag es, damit glanzvolle Leistungen zu vollbringen. Und: Man fühlt sich wohl mit dem neuen Chef.

Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit. Nacho Duato hat jedenfalls gar keinen Grund, wirklich unzufrieden zu sein. Da ist zum Beispiel mit Iana Salenko als Aurora etwas gelungen, das es so in Berlin bisher noch nicht gab. Ihr intelligibler Körper hat Duatos geschmeidig-großen Gesten aufgesogen und repliziert die typische Duato-Ästhetik schon fast wie von selbst. Zusätzlich hilft Salenko ihre brillante russische Technik, sie kann die Beine hoch fliegen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken, sie kann den Körper gern auch mal in Schieflage bringen und muss trotzdem, auf einem Bein auf Zehenpitzen stehend, nicht wackeln – und die Niedlichkeit ihrer zarten Figur mag ein Übriges tun. Salenko ist so perfekt, wie ein Duato-Dornröschen sein soll, und man wird gespannt sein, wie sich im Vergleich die an sich mindestens genauso großartige Polina Semionova ausnehmen wird, die am 15. März diese Partie als Gaststar tanzt.

Vorher aber gibt es noch einen Wechsel beim Prinzenpart: Marian Walter, Erster Solist vom Staatsballett Berlin, übernimmt die Rolle von Sarafanov und wird vermutlich noch lyrischer und dafür etwas weniger exzentrisch als der Prinz Desiré von Sarafanov sein. Aber das ist nur Vermutung – man wird es erstmal sehen wollen! – Die weiteren Paarbesetzungen sind dann Elisa Carrillo Cabrera mit Mikhail Kaniskin und, wahrscheinlich im Mai, Krasina Pavlova mit Dinu Tamazlacaru. Klingt sehr gut! Auch im Hinblick auf das tanzselige, für die Prinzen sprungmächtige Endstück von „Dornröschen“ – da dürften Krasina und Dinu dem Publikum ziemlich einheizen.

Denn gen Schluss geht es auf zum Hochzeitsfest! Hochzeiten sind in den klassischen Balletten ja der Höhepunkt des Daseins; dann wird gezeigt, was das Ensemble mit seinen Solisten hergibt. Das ist auch in der Fassung von Nacho Duato nicht anders.

Das Entrée besorgen Damen und Herren in Weiß, die Kostüme sind mit goldener Spitze noch verschönert – als seien es Debütantenpaare beim Opernball. Ein ganz in Gold gekleideter Junge (es ist erneut Olaf Kollmannsperger, der hier positiv auffällt) hat sprunggewaltige Soli – ein modifiziertes Zitat des „Goldenen Gotts“ aus der „Bayadère“? – und verkörpert mit seiner Dame Elisa Carrillo Cabrera das Edelmetall, während weitere Paare für Edelsteine stehen. Man erinnert sich unwillkürlich an George Balanchines „Juwels“, die das Staatsballett Berlin auch schon elegant im Repertoire hatte.

Und dann folgt Highlight auf Highlight: Tier- und Märchenfiguren tanzen auf, und das Kindergeburtstagsbüffet wird damit komplett.

Kater und Kätzchen

Mitreißend und süß: Ulian Topor und Iana Balova als „Kater und Kätzchen“ in Duatos Berliner „Dornröschen“. Foto: Yan Revazov

Absolut top, auch absolut top getanzt: Als „Kater und Kätzchen“ (statt dem traditionellen „Gestiefelten Kater“) bringen Iana Balova und Ulian Topor höchst charmant das Anschmiegsam-Verschmuste, aber auch das Raubtierhaft-Wilde zweier Stubentiger zum Ausdruck. In Knallweiß sind ihre Rollen vermutlich Perserkatzen nachempfunden – zum Streicheln süß.

Der Pas de deux „Der blaue Vogel und Prinzessin Florine“, eines der großen Glanzstücke in „Dornröschen“, wirkt hier, von Nikolay Korypaev und Marina Kanno getanzt, noch ein wenig unsicher. Dafür drehen „Rotkäppchen und der Wolf“ so richtig auf: Maria Giambona und Dominic Hodal sind richtige Stars in dieser kleinen Nummer. Sie hat einen leeren – wohl schon geplünderten – Korb dabei und muss ihn die ganze Zeit mit beiden Händen vor sich halten, was aber grandios wirkungsvoll ist, weil Giambona dennoch so munter vor dem Wolf hin- und hertanzt, dass dieser bei den Versuchen, sein Rotkäppchen zu fangen, ganz wuschig wird. Wow!

Rotkäppchen mit Wolf

Haben ihren Applaus auch verdient: Maria Giambona und Dominic Hodal beim Curtain Call – als „Rotkäppchen und der Wolf“ sind sie ein witzig-erotisches Tanzpärchen auf Dornröschens Hochzeit. Foto: Yan Revazov

So reiht sich Vergnügen an Vergnügen, bis das Liebespaar mit seiner großen tänzerischen Referenz an seine Untertanen an der Reihe ist. Der Grand pas de deux steht auf dem Programm! Und es ist hier einer, wie man ihn sich wünscht, mit allen „Tricks“, die dazu gehören. Grand jetes en manège, Pirouetten, Hebungen, Liebesspiele in klassischer Ballettmanier.

Und dennoch obsiegt die Linienführung von Nacho Duato, verleiht den sonst oft etwas gewichtig wirkenden Brocken Technik eine verspielte, liebliche, dennoch nicht süßliche Note. Es wurde einfach auch mal Zeit, dass sich jemand traut, den großen Petipa umzuformen, nicht mit dramaturgischer, sondern mit tänzerischer Arbeit.

Die Früchte dessen ernten zunächst die Tänzer. So umjubelt man die beiden Supersolisten Iana Salenko und Leonid Sarafanov, es gibt allerbest gelaunte Brillanz in Weiß zu bestaunen – und als ein überdimensional großer Brautschleier hereingetragen wird (als weißes Gegenstück zu der schwarzen Seidenschleppe von Carabosse im ersten Teil), ist das ein weiterer theatralischer Supermoment, der zudem eine ganz leichte Selbstironie birgt. Schließlich sind solche Dinge – große Schals, die zu Teppichen umfunktioniert werden – im 19. Jahrhundert bei jeder Gelegenheit in Ballettszenen eingebaut worden, in denen die Vermählung zweier Herzen auch das Bühnenbild verändern sollte.

Dornröschens Ende

Ein imposantes Schlussbild, das an die Schlussposen von Balletten wie „La Péri“ und „La Bayadère“ erinnert – und somit in bester Tradition steht. Foto: Yan Revazov

Schließlich erklimmt das Paar die nach wie vor weißen Stufen, der riesenhafte, über die Bühne bis nach vorn ausgebreitete Brautschleier erfüllt sodann seine Funktion als Symbol für Frieden und Fruchtbarkeit – und der ganze Hofstaat geht topsynchron auf die Knie. Vorhang!

Auch, wenn Nacho Duato es vielleicht gar nicht mal gerne hört: Er sollte noch öfters Handlungsballette choreografieren. Wir bitten darum!
Gisela Sonnenburg

Auch in Besetzungen mit Marian Walter als Prinz Desiré oder mit Polina Semionova als Aurora.

Das ausführliche Portrait von Nacho Duato:

www.ballett-journal.de/der-grosse-melancholiker/

Ein TV-Film über Nacho Duato:

www.ballett-journal.de/echt-und-schmutzig-dabei-bildschoen-nacho-duato-im-portrait/

UND SEHEN SIE BITTE INS IMPRESSUM: www.ballett-journal.de/impresssum/

www.staatsballett-berlin.de

Rosen fürs Ballett

Rosen fürs Ballett! Dieser prächtige Bund Rosen besiegelte beim Schlussapplaus die Premierenfreude nach „Dornröschen“ auf der Bühne. Foto: Gisela Sonnenburg

 

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