Tanze mit mir, Apoll! "Mary Wigman - The Soul of Dance": Die Wahrheit über die Tanzpionierin

Eine rudum empfehlenswerte DVD: Mary Wigman in einer neuen Sicht. Foto: Arthaus

Eine rudum empfehlenswerte DVD: Mary Wigman in einer neuen Sicht. Foto: Arthaus

Pionierinnen gibt es nicht viele, denn allzu oft sind die Männer schneller, besser oder einfach nur besser vernetzt und weniger diskriminiert. Es ist zudem selten, daß Film-Dokumentationen auf erforschten Feldern noch wirklich Neues zutage fördern. Zumal, wenn es um Bereiche jenseits der Skandalhuberei geht.

Den Autoren Norbert Busè und Christof Debler gelingt das mit einem fast zweistündigen Beitrag über eine Tanzikone. Unter dem deutschen Titel „Mary Wigman. Die Seele des Tanzes“ wurde das Resultat, im Auftrag des ZDF gedreht, 2011 bereits auf arte gesendet. Jetzt erschien der Film mit englischem Titel („Mary Wigman – The Soul of Dance“) als DVD bei Arthaus. Und beleuchtet Werden und Wirken dieser einmaligen „wilden Frau“ mit dem Künstlernamen Mary Wigman: unaufdringlich, aber eindringlich – und die Erfinderin des Ausdruckstanzes erscheint in einem hintergründig politischen Licht.

Wie hart die Anfangsjahre der „freien“ Tänzerin waren, als noch niemand sie verstand, wird anhand von Fotos und Schriftstücken deutlich. Das Unbehagen beruhte ja auf Gegenseitigkeit, auch Mary, geboren als Karoline Sofie Marie Wiegmann, fühlte sich in der bürgerlich-beschwingten Belle Époque in Deutschland nicht wohl. Tanzwissenschaftler Norbert Servos sagt sogar: „Sie hat schon in ihrer Ausbildung zur Rhythmik-Lehrerin ständig gemeckert.“ Denn: „Das war ihr alles zu schematisch, sie wollte nicht Musik illustrieren, sondern Bewegung als was Eigenes, Unabhängiges sehen.“

Mary Wigman: Tanz war ihre Religion – sie selbst die Begründerin einer ganz neuen Form von tänzerischer Bewegung. Foto: Cover-Ausschnitt der DVD

Mary Wigman: Tanz war ihre Religion – sie selbst die Begründerin einer ganz neuen Form von tänzerischer Bewegung. Foto: Cover-Ausschnitt der DVD

Ihre Tourneen bestanden aus fast leeren Sälen, in München, Stuttgart, Berlin. Als Helfershelfer erwies sich dann aber das politische Geschehen: der Generalstreik im Herbst 1920 in Dresden machte nolens volens die rebellische Tänzerin bekannt. Anders als geplant, wurde damals die Abreise aus Dresden unmöglich; Mary Wigman beraumte, wie aus verzweifelter Langeweile, weitere Auftritte an. Und siehe: Im revolutionären Lebensgefühl rührten sich Abenteuerlust und Sehnsucht nach Existenziellem beim Publikum. Plötzlich sprach es sich herum, daß da eine interessante Frau beim Tanzen zu sehen war. Schön war sie nach damaligen Maßstäben zwar nicht, auch ihre Kostüme waren schlicht und streng. Und der Begriff „Ausdruckstanz“ war noch so fremd, daß er kein Lob war.

Doch dank des Streiks hatten die Dresdner Zeit, sich auf Unbekanntes einzulassen, statt in der Mühle aus Arbeit und Kneipe festzustecken. Die Wigman wurde schlagartig berühmt. „Es ist das Anderssein, das uns erhält“, hatte sie schon als Studentin notiert. Sie flehte den Künstlergott Apoll an: „Auch ich kann tanzen. Laß doch die Musen für heut. Tanze mit mir!“ Und auch, was das Tanzen des gereiften Körpers angeht, war sie – etwas später nach überstandener Tuberkulose – eine Pionierin. Eine Fachfrau sagt im Film sehr treffend, Mary Wigman sei eine Lebedame gewesen. Das unterschied sie von Fachidiotinnen, sie kannte das Leben und wusste, wie es zu genießen sei!

Bei ihrer ersten USA-Tournee war Mary übrigens bereits 44 Jahre alt, faszinierte aber gerade deshalb. Besieht man ihren berühmten „Hexentanz“, fällt auf: Sowas kann man erst ab einem gewissen Alter tanzen. Da gehört Lebens-, Gefühls- und Denkerfahrung dazu, auch eine gewisse Hormonlage. Die Versuche heutiger Jungtänzerinnen, unter Anleitung der Tanztheaterfrau Susanne Linke Rekonstrukte zu tanzen, gehen daher eher schief: Auch das zeigt der Film. Sehr verdienstvoll. Ein Verneigung vor den Machern, ihnen gelang eine rundum empfehlenswerte DVD!
Gisela Sonnenburg

„Mary Wigman – The Soul of Dance“ von Norbert Busè und Christof Debler, Arthaus Musik, 2014, Cat.No.NTSC 102 204

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