Traumteams auf dem Tortentrampolin 3sat sendete die smart-schmissige „Alice in Wonderland“ von Christopher Wheeldon aus London mit dem Royal Ballet

Alice im Wunderland ist was für Könner.

Starballerina Sarah Lamp und Federico Bonelli als ihr Herzbube nach „Alice in Wonderland“ im Covent Garden beim Schlussapplaus. Videostill von der 3sat-Sendung am 15.9.16: Gisela Sonnenburg

Schräg, schräger, Alice! Das muntere Mädchen, das seit seiner literarischen Erfindung durch Lewis Carroll 1865 durch die Kindsköpfe geistert, darf die Welt als absurd und widersprüchlich zeigen, darf durch aberwitzige Geschehnisse taumeln und dabei erleben, wie die Logik sich sozusagen um sich selber dreht. Christopher Wheeldon, wie Alice und Carroll Brite durch und durch, schuf für das Royal Ballet in London ein Ballett nach dem Kinderbuch „Alice im Wunderland“ – es wurde ein opulenter Augenschmaus und szenisch eine Zeitreise aus dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Wheeldon ist derweil nicht der erste Choreograf, der es unternahm, den Fiction-Klassiker als Ballett zu illustrieren. Aber ihm ist mit seinem kunterbunten Mix sicher der Erste, der im Covent Garden wie nebenbei eine Parodie auf das ehrwürdige „Rosenadagio“ aus Marius Petipas „Dornröschen“ serviert.

Alice im Wunderland ist was für Könner.

Die Herzkönigin auch in der Zuschauergunst: Zenaida Yanowsky beim Royal Ballet – beim Schlussapplaus darf sie auch mal freundlich sein! Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Mit diesem heimlichen Höhepunkt krönt Wheeldon sein abendfüllendes Werk, das zwar kurzweilig und unterhaltsam ist, das dramaturgisch aber nicht eben wenige Zitate und Anspielungen auf die Arbeiten anderer Choreografen enthält.

Sei’s drum: Für Sarah Lamb, die derzeit die aktuelle Primaballerina assoluta beim Royal Ballet ist – ohne offziell diesen Titel zu tragen – ist mit der Titelrolle eine Paradepartie drin, die ihresgleichen sucht. Sie darf lieblich und keck, drängend und weiblich sein, neugierig und spontan, selbstlos und mutig. Und sogar einsam – für Bühnentänzer ist das immer eine gute Möglichkeit für anrührende Soli.

Alice im Wunderland ist was für Könner.

Ein Blick aufs Ganze: Der Schlussapplaus im Covent Garden nach „Alice in Wonderland“. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Die Uraufführung war übrigens schon 2011, und „Alice in Wonderland“ war damals das erste abendfüllende Ballett seit 1995 am Londoner Covent Garden, das dort Weltpremiere hatte.

Man sieht, welchen Vertrauensvorschuss Wheeldon bekam; auch dem von ihm ausgesuchten Komponisten Joby Talbot schenkte man schon damals mehr Möglichkeiten, als es für ein junges Team von kreativen Künstlern sonst üblich ist.

Dafür mischt das Dreamteam hier aber auch ganz schön die Kulturgeschichte auf!

Beginnend mit einem neu erfundenen Vorspann, startet Wheeldons „Alice“ mit einer Gartenparty im 19. Jahrhundert, bei der der Schriftsteller Lewis Carroll als Gast erscheint.

Alice im Wunderland ist was für Könner.

Ein Tableau wie aus dem Märchenbuch: So beginnt Christopher Wheeldons „Alice in Wonderland“. Videsotill von 3sat. Gisela Sonnenburg

Im Hintergrund sind die Torten angerichtet, eine Klatsch- und Tratschgesellschaft feiert sich hier selbst, im Luxus, selbstredend, und die Jugendlichen tragen wie selbstgenäht anmutende Kostüme.

Unsere Titelheldin Alice, also Sarah Lamb, brilliert in einer Art Fliederfee-Outfit – und das Thema „The Sleeping Beauty“, also „Dornröschen“, zieht sich denn auch ballettmäßig wie ein roter Faden durch den Abend.

Lewis Carroll setzt sich auf’ne Bank und liest vor. Als er später von Alice ein Foto macht, scheint die Welt in seinem Fotoblitz zu erstarren.

Er öffnet seine Reisetasche, die wird größer und größer, er versinkt darin.

Vorher aber platzt Starballerino Edward Watson als Carroll noch die Hose, und zwar die gesamte Mittelnaht am Podex entlang, sodass sein weißes Hemd herausquillt. Man hat die Aufzeichnung von 2013 trotzdem so belassen und gesendet und nichts herausgeschnitten – Lob dafür, denn so eine kleine Klamottenpanne trübt natürlich nicht wirklich den Genuss der Show.

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Philip Mosley verkörpert perfekt die fressgeile Herzogin in Christopher Wheeldons „Alice in Wonderland“. Videostill von 3sat. Gisela Sonnenburg

Mit Ross MacGibben wurde ohnehin ein äußerst fähiger Fernsehregisseur für die Sache gewonnen, man hat aus dem Land der BBC allerdings auch nichts Geringeres erwartet.

Jedenfalls zieht Carroll die aufgeregte Alice gleich mit in die Monstertasche hinein – auf welche Art von Sex das nun eine Anspielung sein könnte, lassen wir mal außen vor.

Kopfüber, in einer akrobaten Slapsticknummer, verschwindet also auch Alice aus der bürgerlichen Sphäre – und fällt und fällt und fällt und fällt, was als Filmprojektion zusammen mit einem psychedelischen Spiraltunnelmuster und torkelnden einzelnen Buchstaben zu sehen ist.

Das Fallen im Traum gilt seit Sigmund Freud bekanntlich als Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg in den Rang einer Hure. Bei jungen Mädchen stellt sich da stets die Frage, ob sexuelle Belästigung oder gar Missbrauch solchermaßen verarbeitet wird oder ob sich die Sehnsucht nach Erotik in der (vor)pubertierenden Seele solchermaßen mit Angst mischt.

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Die lieben Kleinen scharen sich um Lewis Carroll… in Christopher Wheeldons „Alice in Wonderland“ am Covent Garden. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Wheeldon ist indes kein Psychologe und hat leider auch keinen Dramaturgen. Daran kranken seine abendfüllenden Ballette stets; sein „Winter’s Tale“ von 2014 verflacht Shakespeare denn auch mehr, als dass es der Literarvorlage in puncto Hochkarätigkeit auch nur annäherend gleich kommen könnte.

Mit „Alice“ ist es ein gutes Stück besser:

Wheeldon unternahm einen Streifzug durch die Ballettgeschichte, sammelte vor allem bei Marius Petipa und John Neumeier ein, schaute tief bei Giorgio Madia in die Trickkiste (der auch schon mal ein „Alice’s Wonderland“ machte) und würzte mit einigen Ideen von David Dawson.

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Alice in Einsamkeit: Daraus erwachsen ihre filigranen Soli… Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

So schuf er eine putzmuntere Balletttheatergeschichte, die zwar keinen symbolischen Tiefsinn offenbart, die aber dem Nonsense von Lewis Carroll – der manchen ja als Vorläufer der Popliteratur gilt – einen eigenen, durchaus eigensinnig schönen Nonsense entgegen setzt.

Sinnsucherei sollte man hier also tunlichst vermeiden, es sei denn, die romantische Mär, dass die erotische Liebe über alles siegt, ist einem genug.

Alice ist nämlich in einem Alter, in dem Mädchen erwachsen werden sprich sich erstmals heftig verlieben.

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Sarah Lamb und Federico Bonelli in den Hauptrollen in Christopher Wheeldons „Alice in Wonderland“. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Ihr Opfer ist ein Domestik namens Jack, der ihr, weil er Gärtner ist, eine Rose schenkt, was sie mit einem Cookie beantwortet.

Als Jack mit der Leckerei erwischt wird, nimmt man an, er habe sie geklaut. Alice kann ihm nicht helfen – er wird schlecht behandelt.

All dies geschieht noch, bevor sie dank Lewis Carroll aus der elterlichen Spießbürgergesellschaft flüchten kann.

Sie erwacht, nach dem Fall in unendlich erscheinende Tiefen, in einem Lichtkreis – und tanzt fortan allein die schönsten, filigransten Jungmädchensoli, die man nur bei John Neumeier und seiner „A Cinderella Story“ (1992) abgucken kann. Nun ja, es handelt sich nicht um urheberrechtliche Verstöße. Aber die Ähnlichkeiten sind doch da, und es ist ja nicht das erste Mal, dass mir Wheeldon sichtlich von Neumeier inspiriert scheint (siehe Text „Die Liebe als eine fremde Macht“ über das Wiener Staatsballett hier im ballett-jornal.de, unter „Diverse Compagnien“, 2015).

Nun wird im Ballett viel abgeguckt, auch Neumeier hat sich von früher existierenden Werken anderer Tanzschöpfer immer wieder anregen lassen, bevorzugt von John Cranko und Frederick Ashton. Aber in Wheeldons „Alice“ hat das Neuauflegen bekannter Poesien einen Hintersinn: Er will damit nicht nur die Löcher in seinem Stück stopfen, sondern auch darauf hinweisen, dass es hier um eine Reise durch die Kultur- und also die Ballettgeschichte geht.

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Alice im Kampf mit sich selbst, nachdem sie durch ein kniehohes Türchen kroch… so zu sehen in „Alice in Wonderland“ im Covent Garden. Videostill von 3sat. Gisela Sonnenburg

Natürlich reist man mit Lewis Carroll im Gepäck nicht chronologisch noch örtlich geradlinig. Man befindet sich dann gerade nicht morgens am Ort A, um abends an Ort B zu sein.

Vielmehr geht der Trip kreuz und quer, und je kruder das Ambiente, desto später der Morgen, könnte man kalauern.

Alice im Wunderland ist was für Könner.

Bunt wie Bonbonpapier: Die Kostüme und die Deko in „Alice in Wonderland“ am Covent Garden. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Alice trifft auf die unvermeidliche Teegesellschaft eines weißen Hasen, der verblüffende Ähnlichkeit mit Carroll hat und auch tatsächlich ebenfalls von Edward Watson mit großer Virtuosität getanzt wird.

Sprünge und Hüpfer fließen nur so ineinander, ein charakterisches Sich-im-Gesicht-Kratzen kennzeichnet den zweibeinigen Hoppelmann – und dass er eine Sonnenbrille trägt und sein Stummelschwanz zwischen zwei Frackschößen hervorsticht, verleiht ihm die Anmutung eines Freaks.

Ein tierischer Freak ist er!

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Edward Watson als weißer Hase – und er hat viel zu tanzen in Christopher Wheeldons „Alice in Wonderland“. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Der weiße Hase übernimmt fortan die Rolle eines Drosselmeiers oder Zeremonienmeisters. Drosselmeier ist der Pate im „Nussknacker“, der das von der Liebe träumende Mädchen Marie in ein Traumzauberland entführt.

Und wie Marie im „Nussknacker“ (von Marius Petipa im Original), so träumt hier auch Alice vom Erwachsenwerden mit einem kussgeeigneten jungen Mann an ihrer Seite.

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Sie haben die schönsten Pas de deux, voll Action und Kommunikation: Alice und der weiße Hase im Wunderland. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Natürlich taucht da Jack, der Gärtnersbursche, zur rechten Zeit auf.

Er trägt jetzt ein Herzbubenkostüm, sieht darin gebührend lächerlich aus, was die Probandin in Paarbeziehungen aber nicht weiter stört.

Neckische, liebevolle, manchmal sogar stürmische Pas de deux sind die unvermeidliche Folge…

Die Teegesellschaft hingegen ist so seltsam, dass Alice in ein Theater flüchtet, das kurzzeitig am Horizont erscheint.

Auch das ein Zitat aus John Neumeiers Arbeiten, aus seinem „Nussknacker“ nämlich.

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Nur weg von den Spießern daheim: Alice unterwegs… Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Aber bei Wheeldon ist das Theater an sich funktionslos, Alice stürmt weiter und springt voll kindlicher Lebenslust erstmal eine Runde auf dem Trampolin.

Das indes ist ein vergrößertes Abbild einer sahnigen Schichttorte, die es zu Beginn auf der Gartenparty zu sehen (und zu essen) gab.

Solche Einfälle sind irgendwie typisch für Wheeldon.

Mit Nicholas Wright fand er den richigen Bühnenbildner, um solche Klamaukideen mehr kind- als erwachsenengerecht umsetzen zu lassen.

Nun ja, wenn etwas nervt an diesem Ballett „Alice im Wunderland“, dann, dass es so verdammt jugendfrei ist!

Ein wenig stärker könnte der erotische Bezug Alices zu ihren Traumfiguren schon sein – ganz unsinnig sind erträumte Teegesellschaften, sprechende Hasen und Liebhaber im Herzbubenwams ja nicht.

Aber hier ist alles clean und soft und gar nicht so schlimm – dafür greifen die Choreografien der Szenen jeweils tief in die figuralen Klischeekisten und reihen sittsame Hausmädchen, nicht ganz synchron tanzende lebende Spielkarten und quicklebendige Anmaler von Rosenbüschen aneinander.

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Alice und ihr Herzbube unter Engelsgesicht: Wheeldons „Alice in Wonderland“ zitiert bewusst viel Kitsch. Videostill von 3sat. Gisela Sonnenburg

Hand aufs Herz: Wheeldon ist ein kongenialer Meister der kleinen Form. Das große, abendfüllende Handlungsballett liegt ihm nicht wirklich, und eigentlich, so habe ich da ständig das Gefühl, würde er lieber mehr komprimierte Themenballette kreieren als diese cineastisch angehauchten Großprojekte zu stemmen.

Aber hat man als Künstler immer die Wahl?

Man feiert die Feste, wie sie fallen und nimmt die Honorare, Gagen und Lizenzgelder, wie sie angeboten werden.

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Ein Mädchen namens Alice und ihr Herzbube – in Christopher Wheeldons „Alice in Wonderland“. Videostill in 3sat: Gisela Sonnenburg

Nicht viele Choreografen haben den Schneid, „no“ zu sagen, wenn das Royal Ballet mit einem Scheck, mit fantastischen Arbeitsmöglichkeiten sowie mit der Aussicht auf Erfolg bishin zur Weltkarriere lockt.

Dennoch bin ich fest davon überzeugt, dass Wheeldons Talent die kleine Form ist, und er könnte darin noch mehr großartige Meisterwerke schaffen, die einen wirklich berühren würden, anstatt solche ballettös aufgeblasenen Monstermärchen wie „Alice in Wonderland“ und „A Winter’s Tale“.

Schwung erhält seine „Alice“ allerdings durch die gelungene Zeichnung der bösen Herzkönigin.

Sie wird zunächst nur auf einem übergroßen Herzwagen hereingefahren, aber bald darf sie auch die Tanzbeine schwingen.

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Die böse Herzkönigin auf ihrem Wagen – am Covent Garden in London. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Zenaida Yanowsky tut das bravourös, sie ist eine große, schlanke Frau und hat hier den Charme eines Travestiten.

Das ist genau richtig für die Rolle!

Mal abgesehen vom Klischee der bösen Ehefrau, füllt Yanowsky eben dieses so prall mit theatraler Lebenskraft, dass man über sie heftig staunen und auch lachen muss.

Der Gatte, Herzkönig Christopher Saunders, ist köstlich wehleidig geschminkt (ein Lob der Maske!) – und kann seine Königin bestenfalls ein wenig beruhigen, wirklich was zu sagen hat er in seiner Ehe und wohl auch in seinem Reich eher gar nicht.

Die Pantoffelhelden… wenn sonst nichts zieht, sind sie auf den Brettern, die die Welt bedeuten, halt immer ein paar Lacher wert.

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Eine Parodie aufs „Rosenadagio“ von Marius Petipa („Dornröschen“) bei „Alice in Wonderland“ von Christopher Wheeldon. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Die Herzkönigin nun tanzt mit ein paar feschen Jungs von der Waterkant (Hilfe! Eine kleine Matroseninvasion! Wie in Nacho Duatos Version vom „Nussknacker“!).

Aber was sie da tanzt, das hat schon Schmackes: Eine astreine, ganz gemeine, gallige, bitterböse Parodie auf das berühmte „Rosenadagio“ aus Marius Petipas „Dornröschen“.

Und es kommt noch was: Auch Tangoklänge bekommt die böse Königin!

Und mit wem tanzt sie dann den Tango? Nicht etwa mit dem König, oh nein.

Mit dem Henker!

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Die Königin und der Henker – was für ein Tanzpaar, gruselig-schön! Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Denn sie ist blutrünstig und sadistisch, die Herzkönigin, und während bei Carroll beide Herrscher, Mann und Frau, einfach so mal wieder einen Kopf rollen sehen wollen, ist es bei Wheeldon allein die Dame, die so fies und hartherzig sein muss.

Da kommt ihr der Herzbube gerade recht!

Er könnte ja ihr Sohn oder sonst ein Verwandter sein, nach der Logik der Kartenspiele allemal, denn beide tragen das Zeichen der Herzen.

Aber darum geht es hier ja: Um die Verwirrung und Verdrehung der Verhältnisse, also darf auch gelten: Herzkönigin will Herzbuben hinrichten lassen.

Der junge Mann wird verhaftet und aufs Schafott gestellt.

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Spielkarten als Corps de ballet – keine neue (Revue-)Idee, aber immer wieder nett. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Es wird Zeit, ein paar Worte zur Besetzung der männlichen Hauptfigur zu sagen.

Federico Bonelli ist zweifelsohne ein hübscher Bursche. Zumal mit so viel Make-up.

Und er kann auch partnern, in den Pas de deux mit Superstar Sarah Lamb wirkt er keineswegs stümperisch.

Aber damit hat es sich auch schon.

Als Prinzenmann ist Bonelli schlicht keine Besetzung mehr. Er ist seit 2003 Principal beim Royal Ballet und gewiss ein verdienter, erfahrener erster Junge.

Aber was zuviel ist, ist zuviel – und seine Sprünge lassen jenes Feuer vermissen, das ein Märchenprinz eines Teenagers nun mal haben muss.

Obwohl sein darstellendes Spiel gewiss viele Nuancen hat – es kann die fehlende tänzerisch-technische Frische nicht ausgleichen.

Alice im Wunderland ist was für Könner.

Ein Bemaler von Rosenblüten – in „Alice in Wonderland“ wohl ein Traumjob… Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Und so genießt man in den zahlreichen kurzen Paartänzen – auf einen Grand pas de deux verzichtet Wheeldon hier – vor allem die Primaballerina: Wie sie die Füße vorstreckt, sich in den Arabesken führen lässt, wie sie sich heben und absetzen lässt, ist einfach vorzügliches Handwerk.

Leicht, anmutig, grazil und so präzise, dass man fast seinen Augen nicht traut – Sarah Lamb hat nicht umsonst einen Bombenruf.

Und Komponist Joby Talbot machte aber auch alles, um eine mitreißende Klangkulisse zu schöpfen.

Alice im Wunderland ist was für Könner.

Der Hase in Weiß darf auch mal Rot tragen: Edward Watson in Wheeldons „Alice in Wonderland“.Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Er klingt mal wie Lera Auerbach (deren Neumeier’sche „Mermaid“ auch tänzerisch manchmal anklingt), mal wie Richard Strauss.

Da wird mal Tschaikowsky zitiert, mal Gustav Mahler.

Da dröhnt es mal, dann zirpt es wieder versonnen.

Und nicht selten walzert es, dass die Schwarte kracht!

Mitunter scheint da ein Höhepunkt den nächsten zu jagen, die Akkorde folgen mit einer solchen Geschwindigkeit aufeinander, als würden sie sich gegenseitig übertrumpfen wollen – sie hat schon viel Theaterflair, diese Musik.

Manchmal allerdings wünscht man sich, Wheeldon würde nicht so passgenau jede Note und jeden Melodiefetzen wie Eins zu Eins umsetzen.

Etwas Sperrigkeit gegenüber der Musik verleiht manchmal auch Tiefe – eine Tiefenschärfe, die hier fehlt.

So bleibt das Böse unglaubwürdig und das Gute ebenfalls nur Klamauk.

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Sarah Lamb: eine hoheitliche „Alice in Wonderland“. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Das ist die Tragik dieser Inszenierung, die im übrigen nicht auf das Konto des Choreografen geht, sondern für die Bob Crowley, ein erfahrener Kostümdesigner und Theaterregisseur, verantwortlich zeichnet.

Traumteams findet man denn auch vor allem bei den Tänzern.

Wenn Edward Watson mit Sarah Lamb tanzt, dann geht nun mal die Sonne auf!

Und wenn „Hutmacher“ Steven McRae die flinken Haxen schwingt, dann ist es sowieso schon fast zu spät, noch darüber nachzudenken, in welchem Ballett man gerade sitzt und wieso eigentlich – McRae hat ein so starkes persönliches Flair in seinem Tanz, dass er auch aus einer solchen, beinahe kleinen Rolle eine große Besonderheit macht.

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Steven McRae total kostümiert: links als „Hutmacher“ beim Schlussapplaus nach Christopher Wheeldons „Alice in Wonderland“. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Er verkörpert den angloamerikanischen Spaßmacher per se mit bunten, gestreiften Hosen, Perücke und Riesenzylinder darauf – eine Art Gegenstück zum kontinentalen Zirkusclown.

Klar, dass Steven McRae in dieser Rolle abgeht wie die Luzi. Er ist ein Teufelskerl, ein Temperamentsausbund ohnegleichen, ein Vollbluttänzer, wie es nur wenige derzeit gibt.

Und auch die Köchin, die von 3sat fälschlich „Koch“ genannt wird (ein Übersetzungsfehler?), ist mit Kristen McNally sehr gut besetzt.

Als eine Mischung aus alter Jungfer und rachelüsterner Küchenfee schwingt sie das Hackebeil… kein Wunder, dass sie am Ende mit dem schwarz maskierten Henker ein Paar wird.

Es ehrt Wheeldon, dass er solche feinen Handlungsnebenstränge einflicht.

Aber die Gesellschaftskritik, die philosophische Dimension, die auch und gerade so eine Komödie haben muss, die psychologische Wirkung eines Balletts schließlich – all das fehlt.

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Ein komplexes Zitat aus John Neumeiers „Kameliendame“ als Ausdruck simpler Verliebtheit: so zu sehen in „Alice in Wonderland“ von Christopher Wheeldon. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Insofern muss man sagen: Christopher Wheeldon, entscheide dich. Entweder es heißt „üben, üben, üben“ – oder der Künstler zieht sich auf das zurück, was er kann, also auf relativ kurze, dafür intensive und vielschichtige Themenballette.

Es rührt denn auch nicht wirklich, wenn erst der Herzbube für seine Begnadigung tanzen muss, dann sein Mädchen Alice und dann alle beide, was erst Erfolg hat, als sie mit Hebungen und Drehungen sozusagen massiv auffahren.

Dann aber kommt auf einmal – die geballte Kraft der Liebe im Traum macht’s anscheinend möglich – alles ins Beben, man glaubt sich schon in „La Bayadère“ am Ende des dritten Aktes.

Schließlich geht das Licht wieder an: Der Herzkönig kitzelt da seine unwillige Herzkönigin fast zu Tode, am Bauch ist sie offenbar total kitzelig (woanders vermutlich weniger) – und im allgemeinen Tumult, den diese Ehefrotzelei offenbar verstärkt, können die Liebesleute flüchten.

Alice im Wunderland ist was für Könner.

Herzkönig und Herzkönigin – ein Paar der inneren Gegensätze bei Wheeldon. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Das ist schön schräg, schmissig und zudem smart – aber, wie gesagt, der doppelte Boden, der ein Ballett auszeichnen würde, das, sagen wir mal, Weltkunst sein sollte, der fehlt hier.

Allenfalls die Bemaler der Rosenblüten, die eine Szene für sich haben, könnten satirische Bissigkeit haben: Wenn sie die Werbefritzen parodieren sollen, die uns gern ein X für ein U oder eine weiße für eine rote Rose vormachen.

Ansonsten aber müsste man metaphorische Gegenwartsbezüge mit der Lupe suchen.

Das Kartenspiel zerfällt insofern virtuell, wie ein Hinweis auf die Vergänglichkeit dieses Vergnügens.

Wir sehen wieder die Spirale aus der optischen Täuschung als Projektion, ein Tunnelgefühl stellt sich ein, am Ende lockt das Himmelblau.

Alice im Wunderland ist was für Könner.

Sie tanzen um sein Leben… in „Alice in Wonderland“. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Und ja, es ist Tag, als Alice sich wieder findet, auf einer Bank, als Mädchen von heute, mit einem Buch in der Hand, da ist sie wohl drüber eingeschlafen.

Oh, und auch der Traumtyp taucht auf, in Jeans und T-Shirt, passenderweise mit einem Herzen als Applikation auf dem rechten Fleck.

Alice im Wunderland ist was für Könner.

Ein neues Paar… und sie heißt Alice… aber wer ist er wohl? Doch nicht etwa Jack? Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Schnell lernt man sich kennen, tanzt, flirtet – und da kommt ein Spaziergänger, der netterweise ein Foto mit Alices Handy von den beiden frisch Verliebten macht – und zufälligerweise sieht er nicht nur so aus wie „Hase“ Edward Watson, er ist es sogar.

Alice darf etwas irritiert sein ob der prophetischen Kraft ihres Traums, vielleicht fragt sie sich, ob die böse Herzkönigin ihr nun auch noch begegnen wird, da löst sich aber schon alles in Wohlgefallen auf – und Watson als Passant entdeckt das Buch auf der Bank, nimmt Platz und beginnt zu lesen, nicht ohne sich nochmal mit der charakteristisch häsischen Geste im Gesicht zu kratzen.

Alice im Wunderland ist was für Könner.

Edward Watson auf der Bank, er fängt gerade an zu lesen… in „Alice in Wonderland“. Videostill von 3sat. Gisela Sonnenburg

Die Moral von der Geschicht: Walt Disney hätte es nicht anders gemacht.
Gisela Sonnenburg

3sat sendete das Stück am Samstag, 15.9.16, mit einer Kurzdoku vorab von 20.15 Uhr bis 22.20 Uhr

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