Ein Traumpaar und doch ein Anti-Paar Männer, Frauen, schönste Liebesqual: der Welthit „Onegin“. Jetzt auch mit Gästen vom Bolschoi beim Stuttgarter Ballett sowie beim Staatsballett Berlin

Onegin und Tatjana

Weltweit ein schönes, allerdings theaterwirksam kompliziertes Paar, wie hier beim Staatsballett Berlin: Onegin (Mikhail Kaniskin) und Tatjana (Nadja Saidakova). Die Kostüme stammen hier von Elizabeth Dalton.  Foto: Enrico Nawrath

Männer! Männer? Männer. Sie können Frauen zur Verzweiflung treiben. Und umgekehrt: Auch Frauen können Männern ganz schön zusetzen. Insbesondere, wenn sie von russischen Dichtern ersonnen sind. Dann leiden auch die stolzesten Herzen unter Liebesqualen. Wie der melancholische, des Lebens überdrüssige Verführer „Onegin“ und seine Fast-Geliebte Tatjana, denen der Poet Alexander Puschkin ein weltbewegendes Versepos widmete. Es schildert anhand der Geschicke des fiktiven Lüstlings und Lebemanns Eugen Onegin umfassend die damalige russische Gesellschaft – und eine unerfüllte Liebe, die ihresgleichen sucht. 1833 erstmals veröffentlicht, avancierte es in wenigen Jahrzehnten zum heimlichen Bestseller der Russen. Was „Peer Gynt“ (1867) für die Norweger, war „Onegin“ bis in die jüngste Zeit hinein für die Russen: ein literarischer (Anti-)Nationalheld, und zwar nicht durch gewonnene Schlachten, sondern durch die Irrungen und Wirrungen des Herzens.

Peter I. Tschaikowsky machte denn auch 1878 eine vielschichtige Oper daraus, der Stoff brüllte ja sozusagen danach. Aber: Erst der in Südafrika geborene John Cranko (1927-73) verlieh dem „Onegin“ eine auch sinnlich nachvollziehbare Note ohne allzu viel moralische oder gar sentimentale Meisterei. Cranko kreierte in zwei Schaffensschüben (erste Version: 1965, zweite Version: 1967, mit einer Überarbeitung 1969) sein bedeutendstes Werk, dessen Stellenwert innerhalb der Ballettgeschichte weit größer ist als der Roman in der internationalen Literaturgeschichte und die Oper in der Geschichte der Bühnenmusik. Cranko erzielte seinen Superwurf nicht ohne Verluste: Er hielt sich nicht allzu genau an die Textvorlage, sparte eine Menge an Details und Exkursen ein – und ließ sich zu einem neuen Fokus inspirieren. Und zwar unter rigoroser Veränderung der Psychologie von Eugen Onegin, verglichen mit Puschkins Romanhelden und auch der 2014 danach geschaffenen, moderneren Ballettcollage „Tatjana“ von John Neumeier (siehe mehrere Texte dazu unter „Hamburg Ballett“ hier im Ballett-Journal).

Cranko aber dampfte Puschins und Tschaikowskys Ideen ein, er kondensierte sie zu einem neuen, eigenständigen Werk; er fand unter Konzentration auf wesentliche Punkte einen selbständigen Impetus, die Geschichte tänzerisch zu erzählen. Mit einem irrsinnigen Erfolg, der erst in den letzten fünf Jahren seinen Höhepunkt erreichte: Crankos „Onegin“ ist ein weltweit verstandenes ballettöses Meisterwerk der Herzschmerz-Extraklasse. Es wird heute überall aufgeführt, wo man Tänzer beisammen hat, die technisch und darstellerisch ausreichend Können haben: von den bedeutenden Bühnen in Lateinamerika über die großen Opernhäuser des Westens bis zum Bolschoi.

Fazit: Wer den „Onegin“ nicht kennt, der hat eine gravierende ballettöse Bildungslücke. Umso schlimmer ist es darum, dass es das Werk, wie übrigens auch die anderen bedeutenden Cranko-Ballette, nicht als DVD im Handel gibt. Manchmal sind die Bedenken der Lizenzinhaber eben doch zu sehr am eigenen Vorteil und zu wenig am Dienst an der Kunst interessiert.

Der Hort der reinen Lehre des „Onegin“ aber ist, selbstredend, derselbe: Stuttgart. Dort fanden beide Uraufführungen statt, mit Marcia Haydée und Ray Barra, bei der Überarbeitung mit Heinz Clauss in den Hauptrollen. Dort wird außerdem mit jeder neuen Tänzergeneration ein neuer Maßstab gesetzt, was die Darstellung des Hauptpersonals angeht. Legendär in jüngerer Zeit: Evan McKie als Onegin. Aber das ist nur ein Name von vielen, die man hier auflisten könnte.

In Hamburg reüssierten Alexandre Riabko, Edvin Revazov und Carsten Jung in der Titelrolle, in Berlin entzückt Mikhail Kaniskin. Er trifft vor allem mit seinem Abgang als Onegin den Nerv einer Neuinterpretation: Er läuft nicht, wie die meisten Onegins, entsetzt und fast panisch davon, sondern er schwankt, er torkelt nachgerade, wie ein Tier, das angeschossen und waidwund ist. Als Sinnbild für die Lebensflucht vor Liebe, die Onegin betrifft, ist das herzergreifend.

Azzoni und Riabko in Onegin

So fängt die fatale Lovestory zwischen Onegin und Tatjana an: bei einem Spaziergang. Hier mit dem Hamburg Ballett, mit Alexandre Riabko als Onegin und Siliva Azzoni als Tatjana. Die Ausstattung hier ist die von Jürgen Rose. Foto: Holger Badekow

Kostüme und Bühnenbild folgen übrigens oft noch den Entwürfen aus den 60er Jahren von Jürgen Rose. Tatjanas Outfit und Frisur im dritten Akt muten da zwar seltsam hausbacken an, aber genau das passt ja auch zur Entwicklung der Rolle. Onegin in seinem schwarzen Frack wirkt düster und extravagant zugleich, genau wie der Armand in der „Kameliendame“, dem Jürgen Rose ein sehr ähnliches Kostüm zukommen ließ.

Aber welchen Spielraum haben die Tänzer – übrigens in beiden Balletten – mit ihrer Ausdruckskraft! Es gibt schon so viele hervorragende Interpretationen, und dennoch wird man kaum enttäuscht, wenn man mit einer neuen Besetzung auch noch auf eine neue Nuance hofft.

Diese Saison tanzen die Stuttgarter Stars erst ab der zweiten Vorstellung – die erste geht ans Bolschoi Theater, das fünf Gaststars sendet (siehe weiter unten). Danach werden die expressive Sue Jin Kang und der männliche Jason Reilly das Hauptpaar tanzen, alternierend mit der zarten Alicia Amatriain und dem eleganten Friedemann Vogel. In weiteren tragenden Rollen werden Elisa Badenes (Olga) und Daniel Camargo (Lenski) zu sehen sein.

Und gerade die tänzerische Gestaltung beweist bei jeder Vorstellung aufs neue: Das Ballett „Onegin“ hat eine einzigartige Position. Die verzwickt unerfüllt bleibende Liebe zweier Menschen, die zwar nicht sterben, sich aber dennoch nicht haben können, zeigt, wie wenig erhabene Gefühle im Kampf mit der Gesellschaft ausrichten können. Ein ganz neuer Begriff von Tragik dräut hier.

DIE GESCHICHTE AN SICH

Die Geschichte an sich ist schnell berichtet: Onegin erbt, wird reich und noch arroganter, als er es ohnehin schon ist. Im schwarzen Frack betört er dennoch die junge, tiefsinnige Tatjana. Sie träumt, er würde ihre Liebe erwidern und sie sozusagen in den siebenten Himmel heben. Sie schickt ihm einen Liebesbrief, den er ihr mit beleidigender Geste zurück gibt. Dann flirtet er verwegen mit Olga, der Verlobten seines besten Freundes Lenski, der darüber so erzürnt ist, dass er Onegin zum Duell fordert. Der Ausgang liegt auf der Hand: Der erfahrene, zynische Snob erschießt den schwärmerischen Anfänger-in-jeder-Hinsicht. Tatjanas Hoffnung auf eine Ehe mit Onegin wird damit vollends hinfällig: Er ist durch das Duell zum Mörder des Verlobten ihrer Schwester geworden. Er wurde vom Freund der Familie zu deren Feind.

Zehn Jahre später treffen Onegin und Tatjana erneut aufeinander. Sie hat mittlerweile den Fürsten Gremin geheiratet und an Selbstbewusstsein gewonnen, sie glänzt als gesellschaftliche Schönheit. Onegin wird scharf auf sie. In einem letzten großen Pas de deux versucht er sie zu gewinnen – und obwohl sie ihn nach wie vor liebt, schickt sie ihn davon.

Die Schlusspose ist weltberühmt: Tatjana hebt und senkt die zu Fäusten geballten Hände. Sie hat einen Kampf mit sich selbst ausgefochten und gewonnen. Aber auf die große Liebe muss sie fortan verzichten – bis mal ein neuer Choreograf eine Fortsetzung erfindet.

PSYCHOLOGISCHE UNTERSCHIEDE

Ähnlich wie die „Kameliendame“ von John Neumeier zählt Crankos Tatjana zu den Paraderollen der großen Ballerinen der Gegenwart. Und ähnlich wie Neumeiers Armand aus der „Kameliendame“ ist der Onegin fast ein Muss für jeden männlichen Weltstar des Balletts. Allerdings: Während Onegin bei Puschkin, Tschaikowsky und auch in Neumeiers „Tatjana“ wegen des Duell-Mordes unter starken Schuldgefühlen leidet, ist er bei Cranko bis zum Schluss ein siegesgewisser Rechthaber, der lediglich bereut, früher die schöne Tatjana übersehen zu haben. Er ist und bleibt bei Cranko ein zynischer Schwerenöter, zu dem eine so jungfräuliche Seele wie die von Tatjana allerdings nicht wirklich passen kann. Nun fragt man sich: Warum verliebt sie sich dann in ihn? Fühlt sie am Ende eben doch auch die dunklen Seiten der Psyche ebenso wie er?

Sie hat sich wohl eine Synthese gewünscht, aus beidem: aus den hellen Seiten des liebenden Glücks ebenso wie aus den schwarzen Abgründen der exzessiven sexuellen Lust.

Onegin hingegen kennt bei Cranko nur einen Weg: die Frauen zu nehmen, zu genießen und abzustoßen. Das deckt sich mit der Begründung in Puschkins Roman, mit der er Tatjana zunächst den Korb gibt. Er sagt ihr nämlich, er wolle gar nicht heiraten, niemals, und darum könne er auch sie nicht lieben. Im Klartext heißt das: Weil er sie nicht zur Dirne machen wolle, schlafe er nicht mir ihr. Sie sind nämlich allein in der Natur, als sie diese Unterhaltung führen, und Tatjana ist offenkundig bereit für eine voreheliche Defloration. Auf die Ehe zu verzichten, ist allerdings nicht ihre Sache. Darum ja auch ihre spätere Hinwendung zu Fürst Gremin, dessen Frau sie wird.

ONEGIN IST JEDES MAL EIN ANDERER

Bei Onegins Psyche spielt aber noch etwas eine Rolle: Inwieweit ist er wirklich so gewissenlos, wie Crankos Inszenierung es nahelegt? Nun ist die Ausdeutung des Duells nicht einfach: Onegin hätte riskiert, sich selbst totschießen zu lassen, hätte er absichtlich daneben gezielt. Insofern hat Cranko die Figur nicht unbedingt radikalisiert, sondern eher der Realität des 19. Jahrhunderts angepasst, wenn er Onegin nicht allzu sehr über den Verlust seines Freundes trauern lässt. Das Moralin, das Puschkin, Tschaikowski und Neumeier hier eingeben, ist in der Tat insofern schwer nachzuvollziehen, als Onegin mit dem Todesschuss sein eigenes Leben sozusagen in Notwehr rettete. Auch, wenn er der Erste war, der zu schießen hatte: Ein Duell ist kein Spiel, sondern ein Unterfangen auf Leben und Tod. Das ist sein Sinn. Und so wütend, wie Lenski auf Onegin war, war kaum damit zu rechnen, dass er absichtlich daneben schießen würde. Onegin hatte von daher eigentlich keine Wahl. Hätte er Lenski leben lassen, hätte dieser versucht, ihn totzuschießen. Die Frage ist zwar, ob Lenskis Nerven und Schießkünste dazu ausgereicht hätten. Aber man kann es Onegin nicht verdenken, dass er sich nicht auf etwaige Mängel beim besten Freund verlassen wollte. Dennoch sind in den Nicht-Cranko-Versionen für Onegin das Bedauern, das Schuldgefühl, die Reue durchaus Optionen. Anders bei Cranko: Hier gibt er sich selbst weiterhin nur Recht.

Ebenfalls verdichtet sind bei Cranko die Gegensätze, die sich aus dem Personenreigen im „Onegin“ ergeben. Die Liebhaberrollen hier sind dichotomisch angelegt, sodass für jeden etwas dabei ist. Das macht sein Ballett so theaterwirksam und auch geeignet, als Mikrokosmos die ganze Gesellschaft abzubilden.

Malakhov als Lenski

Beim Staatsballett Berlin tanzte Vladimir Malakhov, hier mit der zarten Corinne Verdeil als Olga, den Lenski: lyrisch, verliebt, melancholisch. Foto: Monika Rittershaus

Drei Männertypen und zwei Mädchenrollen schildern in Grundzügen die emotionalen Szenarien der Liebe. Was fehlt, ist das fraulich-mütterliche Element, von Puschkin und auch Cranko rigoros ausgespart beziehungsweise nur in Form der Mutter von Tatjana als Matrone charakterisiert. (Neumeier hat hier noch die Figur von Tatjanas Amme dazu gestellt, die – von Niurka Moredo kreiert – Erotik, Boshaftigkeit und Mütterlichkeit in sich zu einen weiß.) Im Zentrum bei Cranko aber steht das romantisch-wallende Gefühl, die heiße Liebe, die einen von innen her zu verbrennen scheint und für deren Ausgang niemand eine Garantie geben kann. Und die offensichtlich in einer Gesellschaft mit Rangordnungen gar keine Chancen auf glückliche Erfüllung hat.

Dem entgegen stehen Lenski und Olga als kurz blühende Hoffnung einer wahren Liebe. Doch dazu später. Zunächst mal zu den russischen Besetzungen, die jeweils noch eine eigene Farbe mit ins Spiel bringen, denn es ist wirklich hochkarätige Ballettpower, die da vom Bolschoi nach Stuttgart kommt.

DIE RUSSISCHEN BESETZUNGEN

Da ist zunächst Olga Smirnova, die 1991 in Sankt Petersburg geborene Newcomerin vom Bolschoi (wo sie aufgrund ihrer Jugend trotz entsprechender Rollen noch keine Principal ist). Sie tanzt am 6. Januar die Tatjana. Was für eine Prachtballerina! Sie hat Verve, Stimmung, Flair. Sie verbreitet dieses elegante Über-den-Schritten-Stehen, das eine Tänzerin zu wahrer Größe auflaufen lässt. Musikalisch und anschmiegsam, verkörpert sie den neuen Bolschoi-Typus: nicht zu zart, aber auch nicht zu stark gebaut, voll Passion und Hingabe, aber keinesfalls mit dem Rampensau-Syndrom des Sichvordrängelns behaftet. Im Gegenteil: Smirnova ist eine demütige Untergebene ihrer jeweiligen Rolle, und statt sich selbst in den Vordergrund zu stellen, bemüht sie sich, die Befindlichkeiten ihrer Bühnenfigur vollends wiederzugeben.

Olga Smirnova

Olga Smirnova, eine hoch begabte Petersburgerin, tanzt, obwohl noch blutjung, bereits Rollen wie Myrtha in „Giselle“ und eben die Tatjana in „Onegin“. Foto: Bolshoi

Sie kommt ja von der Vaganova Akademie, dem Heiligtum der Ballettausbildung, und sie tanzte bereits unter anderem die Myrtha in „Giselle“, die Nikia in „La Bayadère“, „The Diamond“ von Balanchine und den zart flatternden, ungeheuer liebreizenden Pas de deux „Thais“ von Roland Petit. Auszugsweise tanzte sie zudem den Weißen Pas de deux aus der „Kameliendame“ – umjubelt! Mit diesem Spektrum ist Olga Smirnova hervorragend auf die Tatjana vorbereitet: von der kühlen Eleganz einer Myrtha (die Tatjana im letzten Akt auch sehr zugute kommt) über den Traum vom Glück der Thais und auch der Kameliendame (was gut ist für die Traumszene beim Liebesbriefschreiben in „Onegin“) bis hin zur entflammten Leidenschaft einer Nikia für den Beginn der Liebe zu Onegin.

Tatjana hat ja im ersten Akt, auf ihrer Namenstagsfeier, ein entzückendes Solo: voller niedlicher Posen und eleganter Drehungen, bei denen sie ihr Herz öffnet und mit fast kindlicher Kraft dem Snob Onegin öffentlich ihre Gefühle erklärt. Smirnova wird auch dieses – und nicht nur die Pas de deux – in allen Farben leuchten lassen.

Vladislav Lantratov

Er ist ein Onegin wie aus Crankos Geheimschatulle: Vladislav Lantratov, spezialisiert auf ballettöse böse Jungs – vor allem, wenn sie attraktiv sind. Foto: Bolshoi

Und auch Vladislav Lantratov als „Unhold“ Onegin verspricht zu begeistern. Er war schon ein überzeugender Bösewicht als Crassus im „Spartacus“ von Juri Grigorovich, ein smarter Albrecht (in „Giselle“) und ein hartnäckiger Armand an der Seite von Superstar Svetlana Zakharova als „Kameliendame“. Mit Olga Smirnova hat er schon zahlreiche reguläre, aber auch Gastauftritte geleistet: trotz ihrer Jugend bildet sie mit Vladislav bereits ein eingespieltes Team. Bei den komplizierten Hebungen und auch emotional nicht gerade einfachen Szenen im „Onegin“ beste Voraussetzungen!

Dazu gibt es noch Anna Tikhomirova als Olga (also als Tatjanas Schwester, deren Verlobter von Onegin erschossen wird): sanft und hell muss ihr Temperament sein, um der düster-tief liebenden Tatjana etwas entgegen zu setzen. Die gebürtige Moskowiterin Tikhomirova tanzte bereits Grigorovichs Julia („Romeo und Julia“), die Kitri im „Don Quixotte“, aber auch in „Herman Schmerman“ von William Forsythe. Mit dieser Bandbreite dürfte die naiv-selige Olga ihr keine Probleme bereiten. Ein Leuchten wird von ihr ausgehen, denn sie verkörpert die reine, feine, leichtherzige Jugendliebe hier.

Ihr Liebhaber Lenski ist in der Bolschoi-Besetzung kein Geringerer als Semyon Chudin. Der blonde Lockenkopf ist ein Phänomen, hat Charme und Raffinesse und eine unerhört wandelbare Ausstrahlung. Lenski ist ja der lyrische Part im „Onegin“, er ist der heißblütige Jungliebhaber, der noch keine Verdorbenheit, aber auch keine Selbstbeherrschung kennt. Todessehnsucht kennzeichnet ihn, trotz oder gerade wegen seiner großen Liebe zu seiner Verlobten Olga. Tänzer wie Vladimir Malakhov in Berlin und Alexandr Trusch in Hamburg verliehen dem Lenski die Farben des ganzen Lebens, als sei die Figur Lenski von dem Maler Emil Nolde erfunden worden und als Aquarell hoch emotional ins wasserweiche Papier getuscht.

Chudin wird hier sein Übriges zur Ausdeutung des Lenski beisteuern. Freunde des überstreckten Spagatsprungs (zu denen ich übrigens nicht gehöre) kommen dabei ebenso auf ihre Kosten wie Anhänger einer gewissen Zartheit bei Männern. So tanzte Semyon Chudin in Alexei Ratmanskys Rekonstruktion von „Der helle Bach“ eine Sylphidengestalt im langen Tutu und in Spitzenschuhen – Travestie war das Credo dieses neu belebten 20er-Jahre-Balletts. Und in seinem großen Solo (voller Arabesken und Balancen) wird dieser Lenski, unmittelbar bevor er im Duell stirbt, noch einmal alle Chimären der Hoffnung beschwören. Um sie wehmütig ziehen zu lassen – die für Weltschmerz Sensiblen im Publikum dürfen das Tränentaschentuch bereit halten.

Aber es gibt noch einen Liebesentwurf im „Onegin“, und der ist nicht zum Scheitern verurteilt: Fürst Gremin, vom Bolschoi mit Vitaly Biktimirov besetzt, besticht durch die gleichmäßig harmonische, Rückhalt gebende fürstliche Liebeskonzeption. Hier schwelen noch nicht mal Geschlechterkämpfe aus Eifersucht, denn eine solche Beziehung könnte zur Not sogar den einen oder anderen Seitensprung überleben. Gremin lässt Tatjana darum auch allein Onegin empfangen, am Ende des Stücks. Er vertraut ihr – zurecht. Denn sie vertraut ihm! Gremin hat denn auch wunderbare Hebungen mit Tatjana, er leitet sie und lässt ihr doch Luft zum Atmen. Anders als Onegin überwältigt er sie nicht, sondern lässt sie langsam zu sich selbst finden. Damit verdient er sich ihr Lob und auch ihre Treue – und ob sich darin am Ende nicht sogar mehr Pluspunkte der Liebe befinden als in der sturmgewaltigen Empfindung zu Onegin, muss jeder Zuschauer für sich entscheiden.

Vitaly Biktimirov

Vitaly Biktimirov tanzt den ausgeglichenen, vertrauensvoll liebenden, aber auch domestizierenden Fürsten Gremin: Er gehört zu den aufsteigenden Tänzern am Bolschoi in Moskau. Foto: Bolshoi

Biktimirov ist ein aufsteigender Tänzer am Bolschoi und noch keiner der führenden Solisten. Aber er tanzte bereits den Drosselmeyer in Grigorovichs „Nussknacker“ und den Hofmeister Catalabutte in „Dornröschen“. Etikette kann er also auf der Bühne – und das ist schon mal eine wichtige Voraussetzung für den Gremin. Ansonsten kommt es auf das Zwischenmenschliche an, zwischen ihm und Tatjana muss die Chemie stimmen. Es gibt einen großen Pas de deux vor Onegins Augen, in dem Fürst Gremin allen zeigt, wie gut er sein Frauchen mit sanfter Hand domestiziert hat. Smirnova und Biktimirov sollen sagenhaft darin sein…

Gremin und Tatjana: Dieses Modell der spekulativen Warmherzigkeit und vordergründigen Treue erinnert zwar von fern an die Zwangsehe, aber sowohl Puschkin als auch Cranko können nicht anders, als sie zu propagieren. Liebe als beständige Konstante im Leben, Liebe als etwas, das vor allem gesellschaftlich sanktioniert und schon darum auch zumindest äußerlich tragfähig ist. Motto: Da kommt die Emotion dann von ganz allein. Natürlich glauben die Zuschauer das nicht wirklich und fiebern darum umso heftiger in der Schluss-Szene zu. Ob sich Tatjana nicht doch noch für Onegin entscheidet, der sie – ganz anders also noch vor zehn Jahren – innigst bedrängt und unbedingt besitzen will?

Cranko hat Tatjana als hässliches Entlein gesehen, das erst, nachdem es sich zum schönen stolzen Schwan gemausert hat, Chancen bei den Männern hat. Wirklich modern ist so ein Frauenbild natürlich nicht. Es setzt voraus, dass die Frau an sich nur als äußere Erscheinung ihren Wert hat. Sexiness aufgrund einer Eigenständigkeit oder aufgrund bestimmter sozialer Tugenden sprachen sowohl Puschkin als auch Cranko den Frauen hier noch ab. Leider bringt auch die Oper hier wenig Erhellendes, und Neumeiers „Tatjana“-Entwurf ist zu komplex, um Onegins Wahrnehmung von Tatjana unter diesem Gesichtspunkt zu erörtern. Darum scheitert Eugen Onegin bei Neumeier ja auch – weil er sich in Details verloren hat, statt das Wichtige (nämlich die tiefe Liebe einer Frau) zu suchen und rechtzeitig zu erkennen.

BEMERKENSWERT: DIE RAUSCHHAFTE MUSIK 

Bemerkenswert ist an Crankos „Onegin“ noch etwas anderes: die Musik. Sie klingt so bombastisch wie ein Soundtrack für einen Film à la „Krieg und Frieden“ oder „Doktor Schiwago“, und tatsächlich ist sie nicht wirklich von Tschaikowsky, der sich trotz gelegentlicher Opulenz dagegen fast bieder ausnimmt. Der Dirigent und Arrangeur Kurt-Heinz Stolze (1926-70) mixte für Crankos Belange verschiedene Werke von Tschaikowsky neu ab, orchestrierte sie nach Gutdünken und sorgte dafür, dass bis auf einen bedeutenden Akkord (im Schluss-Pas-de-deux) keine Note an Tschaikowskys Oper „Onegin“ erinnerte. Na, die Walzer auf der Namenstagsfeier sind schon sehr der Tanzeinlage des Chores in der Oper „Onegin“ verwandt.

Ob der 1840 geborene russische Ballettkomponist Tschaikowsky von Stolzes Werk nun erbaut oder empört gewesen wäre, ist hinfällig zu erörtern. Natürlich hätte er sicher am liebsten selbst eine neue Ballettmusik geschrieben! Da er aber seit 1893 verstorben ist und somit auch sein Urheberrecht keine Lizenzkraft mehr hat, durfte Stolze machen, was er tat. Die orthodoxen Anhänger der Werktreue von Tschaikowsky murrten zwar bis in die 70er Jahre vergrätzt dagegen auf, aber letztlich setzte sich die passionierte Pathetik von Stolzes Tschaikowsky-Fantasien durch. Die Sogkraft dieser Musik ist wirklich hörbar maßgeschneidert für die dramaturgisch ebenso wie die Musik verschachtelte Choreografie. Ballett als Multimediakreation.

Die Wiederholung einiger musikalischer und auch choreografischer Passagen aus dem „Spiegel-Pas-de-deux“ – in dem die junge Tatjana beim Briefeschreiben von Onegin träumt – im Schluss-Pas-de-deux am Ende, also gespielte zehn Jahre später, ist da eine Delikatesse. Überhaupt ist das ganze Ballett ja dramaturgisch zugespitzt, auf das Ende hin. Die Spannung ist entsprechend hoch, wenn dann die rauschenden Klänge, die Stolze aus Tschaikowskys op. 32 („Francesca da Rimini“, e-Moll von 1876) gemacht hat, einsetzen. Das orchestrierte Duett aus „Romeo und Julia“ bildet dann das höchste Plateau der Liebe – wie eben auch schon im „Spiegel-Pas-de-deux“ im ersten Akt des „Onegin“.

Und ist es nicht eine Romeo-und-Julia-Liebe, diese unglaublich starke, aber unerfüllte Bindung zweier Herzen?

Ich kenne kein Ballett und kein Szenario, das so unverhüllt die sexuelle Anziehung zwischen zwei so gar nicht zueinander passenden Menschen in den Mittelpunkt zu stellen vermag. Sie sind ein Traumpaar, aber eben auch ein Anti-Paar. Crankos Onegin ist ein Zyniker, ein „versauter“ Mensch, einer, der von Liebe einfach gar nichts hält. Tatjana hingegen ist die Liebe in Person, sie lebt davon, Dingen und Menschen liebenden Blicks zu begegnen.

Das Ende dieser Liebesgeschichte, würde sie sich erfüllen, wäre wohl absehbar traurig. Würde Tatjana mit Onegin durchbrennen – er würde sie bald sitzen lassen, wenn der Reiz des Neuen gestillt wäre. Oder sie würde ihn, der emotional verflacht ist, bald langweilig finden. Er würde sie – seiner Zügellosigkeit entsprechend – vermutlich auch nicht gerade mit Treue beehren. Was sie ganz sicher nur mäßig aufregend finden würde.

Würden sie beim letzten Pas de deux hingegen eine heimliche Liebschaft anfangen, stünde Tatjanas Ehre auf dem Spiel. Und auch ihre gesellschaftliche Stellung, denn Scheidungen waren im 19. Jahrhundert für die Frauen zumeist sehr riskant und mündeten in ein Dasein im gesellschaftlichen Aus. Die soziale Sicherheit, die Tatjana sich durch ihre Ehe mit Gremin in ihr Leben holte, wäre vermutlich ebenfalls stark gefährdet.

Doch gerade die Versagung ermöglicht hier die Utopie von Liebe. Der Traum von einer Erfüllung hält solche Gefühle, wie Tatjana und Onegin sie füreinander empfinden, aufrecht. Und auch wenn die Lebenswege der zwei sich erneut trennen – wirkliche Ruhe werden sie nie ohne einander finden. Das ist schon rührend, und das übermittelt sich in der Cranko-Choreografie des Finales auch ganz genau so stark, wie es sein muss, um einen mit Tränen in den Augen aufzuwühlen und zu erschüttern.

Alexandre Riabko und Silvia Azzoni

Man könnte eine Doktorarbeit über diese starken Leidenschaften schreiben. Hier eine Hamburger Besetzung: Onegin (Alexandre Riabko) und Tatjana (Silvia Azzoni) beim Schluss-Pas-de-deux von „Onegin“, der tatsächlich mit Neumeiers „Schwarzem Pas de deux“ aus der „Kameliendame“ Ähnlichkeiten aufweist. Foto: Holger Badekow

Aber auch die rührenden positiven Gesellschaftsbilder zu Beginn des Stücks im ersten Akt, in denen auch alte Leute auf die Bühne gebracht sind und in dem die verschiedenen Generationen zusammen ein Fest feiern (Tajanas Namenstag), haben ihre Berechtigung. Und Cranko schuf auch fürs Corps de ballet unvergessliche Szenen. Etwa die zweimal in Diagonalreihen über die Bühne gesprungenen Grand Jetés der festlich geschmückten Corps-Damen in den ihnen Halt gebenden Armen ihrer Kavaliere. Sie sind ebenfalls zum Weinen schön – und von einer aufregend-erregenden Musik unterlegt, die in herkömmlichen Balletten in jedem Fall den Figuren mit Fallhöhe vorbehalten wäre. Hier erweist sich Cranko als Demokrat oder sogar Sozialist des Herzens: Große Gefühle und deren Ausdruck sind nicht länger allein den Hauptpersonen vorbehalten.

Diesem kollektiven Glück und auch den witzigen Pantomimen anderer (namenloser) Pärchen im Ballett „Onegin“ stehen die Liebesverhältnisse von Tatjana und ihren Helden krass gegenüber. Onegin ist letztlich zu promiskuitiv, um als Ehemann in Betracht zu kommen, und Olga und Lenski lieben sich zwar, sind aber zu naiv und unbedarft, um ihr Glück festzuhalten und gegen Anfeindungen von außen zu verteidigen. Liebe als Lebensentwurf – das also steht erneut zur Disposition.

Cranko, der ja nicht nur ein großer Choreograf, sondern auch ein großer Choreografenförderer war, ruft von daher implizit zu weiteren Tanzschöpfungen auf: Jungs und Mädels, haltet euch ran, zeigt den Menschen, wie es in Sachen Liebe gehen könnte – und warum es so oft eben nicht gehen kann!
Gisela Sonnenburg

Am 8., 10., 14., 26., 27.2. im Stuttgarter Opernhaus mit dem Stuttgarter Ballett

Am 26.2. im Schiller Theater Berlin mit dem Staatsballett Berlin – mit Polina Semionova als Tatjana

Interview mit dem „Onegin“-Darsteller Alexander Jones:

www.ballett-journal.de/ein-taenzer-sollte-nie-aufhoeren-zu-experimentieren/

www.stuttgarter-ballett.de

www.staatsballett-berlin.de

UND BITTE SEHEN SIE HIERHIN: www.ballett-journal.de/impresssum/

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Januar-2015-News-aktuell:

P.S.

Weil Olga Smirnova überraschend erkrankt ist, tanzt die ihr durchaus ebenbürtige Bolshoi-Principal Evgenia Obraztsova am 6. Januar in Stuttgart die Tatjana. Sie ist ebenfalls gebürtige Petersburgerin und wurde ebenfalls an der Vaganova-Akademie ausgebildet. Sie begann ihre Karriere am Mariinsky-Theater in Sankt Petersburg und tanzt erst seit 2012 beim Bolschoi in Moskau. Kenner bescheinigen ihr Zartheit, Ausdruckskraft und ganz besondere Leidenschaft.

Vor allem verbindet sie eine mädchenhafte Niedlichkeit, die im ersten Akt von „Onegin“ zum Tragen kommt, mit großer dramatisch-expressiver Power, die sie bereits in einigen tragischen Rollen das Publikum mitreißen und erschüttern ließ. Insofern wird auch der finale Pas de deux das Highlight ihrer Darbietung sein.

Mit den Hauptrollen in „La Sylphide“, „Giselle“ und „Romeo und Julia“, mit tragenden Rollen in Alexei Ratmanskys „Buckligem Pferdchen“ und „Cinderella“ am Bolschoi sowie durch das dortige Einstudieren von John Neumeiers „Kameliendame“ (als die manche sie noch glaubhafter fanden als ihre Kollegin Svetlana Zakharova) ist sie eine der renommiertesten Ballerinen unserer Zeit. Die Rolle der Tatjana in Crankos „Onegin“ ist ihr bestens vertraut, sie tanzte sie unter anderem bereits mit David Hallberg.
Gisela Sonnenburg

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