Die ganz große Lebensfrage John Neumeier rührt mit seiner Version von „Anna Karenina“ beim Hamburg Ballett an Lebensfragen: mit den feinsten Mitteln des modernen Ballett-Theaters

Leidenschaft in Anna Karenina

Die erotische Liebe und ihre Kraft: Anna Laudere als „Anna Karenina“ und Edvin Revazov als Graf Wronski im gleichnamigen Ballett von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Es ist doch die Frage aller Fragen: Sollte die erotische Liebe in Form einer Beziehung das ganze Leben bestimmen oder nicht? Wenn Anna Laudere als „Anna Karenina“ im Ballett von John Neumeier über die Bühne wirbelt, hat man allerdings den Eindruck, dass es für eine leidenschaftliche Person gar keine Alternative dazu geben kann. Lebe deine Lieben und zahle den Preis dafür, scheint die Botschaft des Abends – und doch schrecken immer wieder unerwartete Einbrüche aus der harten Realität auf. Die Szenenfolge ergänzt die Geschichte der Titelheldin mit verschiedenen weiteren Lebensentwürfen: ebenfalls ergreifende Miniatur-Dramen entstehen, zugleich mit der Haupthandlung. Erstmals nutzt Neumeier auch die Video-Simultanübertragung als Kunstmittel, über Cat Stevens lässt sich hier sehr gut streiten, und sogar eine schmerzhafte Geburt ist auf der Bühne ausgiebig tänzerisch gestaltet. Starke Bilder, starke Emotionen: Die Uraufführung beim Hamburg Ballett wurde denn auch von Standing ovations gekrönt.

Später, auf dem Premierenempfang in der Hamburgischen Staatsoper, betonte Ballettdoyen Neumeier, wie viel ihm an der Compagnie des Hamburg Balletts liege. Nicht nur, dass sie sehr gut tanzt und gerade den Neumeier-Stil so überaus beherrscht. Auch das Vertrauen und die Zuneigung, die zurückkämen, seien sogar in der Ballettwelt ungewöhnlich.

Und so kamen, als es an eine vierzehnstündige (!) Lichtprobe für „Anna Karenina“ ging, unerwartet Tänzerinnen und Tänzer im Kostüm auf die große Bühne, um für Stimmung und Atmosphäre zu sorgen.

Vierzehnstündige Lichtproben?! Man macht sich vielleicht gar keine Vorstellung davon, wie viele Mühen, wie viel Arbeit in so einer Balletturaufführung stecken. Dafür ist gerade das Neumeier’sche Licht auch hier wieder vom Allerfeinsten – ich persönlich würde auch dafür anreisen, um nur diesen Lichtdurchlauf zu sehen.

Leidenschaft in Anna Karenina

Das Grün auf dem Lande… ist mehr grünes Licht! Lewin (Aleix Martínez) tanzte mit „Anna Karenina“ von John Neumeier auch schon in den „Tagesthemen“ in der ARD. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Da findet sich ein Green wie auf einem Golfplatz, aber als sei es gemalt von Salvadore Dalí. Ein leicht violett gefärbtes Nachtblau illustriert die schräge Schwüle einer verbotenen Liebesnacht. Und Sonnenaufgänge in Gelbgoldrot lassen dann die Bühne zum lebendigen Gemälde werden… doch dazu später.

Der Beginn gehört, ungewöhnlich genug für ein Ballett, dem Wahlkampf-Alltag eines Politikers. Ivan Urban als Alexej Alexandrowitsch Karenin probt hier für den Ernstfall. Er stellt einen Spitzenpolitiker dar, der getragen wird vom Beifall und von den Anfeuerungen seiner Anhänger. Das Johlen kommt aus dem Off, aber Wahlplakate mit Karenins Konterfei sind Gegenstand der Bühnenästhetik.

Das erste Solo dieses Mannes drückt seinen Willen zur Macht aus, auch seine Bereitschaft, sich dafür zu verbiegen und wortwörtlich krumm zu machen – stets im Takt mit sich selbst, wohlgemerkt. Ivan Urban tanzt im adrett sitzenden Dreiteiler (als Vertretung für den verletzten Carsten Jung) so akkurat wie glaubhaft, er lässt den Menschen unter der Politfassade ahnen – und unterliegt nicht der Versuchung, aus dem Politiker eine Karikatur zu machen.

Karenins Frau, die bildhübsche, elegante Anna Karenina alias Anna Laudere – diese wundersame, gar nicht für ihren Berufsstand typische Primaballerina mit den schönsten langen Beinen der Welt – unterstützt ihren Mann.

Auch der heranwachsende Sohn Serjoscha (von Marià Huguet mit jungenhaftem Schmiss und doch auch Feingefühl getanzt) jubelt dem Vater zu. Der allerdings ärgert sich über den Teddybären im Arm des nicht mehr ganz jungen Knaben – und reißt ihm den herzlos aus den Händen.

Schließlich sind Teddybären als Sympathieträger auch eine Konkurrenz für den Spitzenpolitiker – und sein Sohn soll nicht zurückgeblieben oder gar verweichlicht wirken.

Dem Image der Führerpersönlichkeit wird hier alles untergeordnet; innerhalb der Kleinfamilie entsteht entsprechend ein enormer Druck.

So führt die Spielzeugeisenbahn von Serjoscha an der gesamten Rampe entlang – und manchmal spielt der Junge da, lässt voller Freude seinen Zug durchfahren, als Ersatz für alles, auf das er für die Prominenz des Vaters verzichten muss.

Als Symbol fürs Leben und Sterben taugt die Spielzeugeisenbahn allemal: insofern stellt sie den gesamten Abend über auch eine Art stilles Mahnmal dar.

Die Familie Karenin aber ist gezwungen, sich ganz an den Vater zu hängen, wie ein Zug an eine Lok. Die Spielzeugbahn hier hat denn auch nur eine Lok und zwei Waggons, steht also ganz direkt fürs Trio Vater-Mutter-Kind der traditionellen Kleinfamilie.

Beim Spielen ist dieses Trio positiv konnotiert. Real aber gilt:

Der Zwang erzeugt soviel Druck!

Und noch während zwei Mitarbeiter von Karenin seine Gattin im blendend roten Outfit von AKRIS effektvoll hochheben und für ihren Mann präsentieren, ahnt man: Soviel Ausverkauf häuslicher Verhältnisse kann nicht gut gehen…

Immer wieder werden darum den ganzen Abend lang umgeworfene Stühle den Zwist und den Zoff illustrieren, der eine solche Demokratie von innen beherrscht.

Und dabei ist sie so eine sinnliche Frau, diese Anna Karenina Laudere von John Neumeier!

Schon zu Beginn tut sie einem richtiggehend Leid, weil ihr werter Gatte sie in eine so wattige, lustferne, karrieregeile Sphäre gebettet hat (statt in ein aufregendes lust- und gefühlvolles Dasein).

Leidenschaft ist Anna Karenina

Die absolute erotische Liebe – genügt sie als Lebenskonzept? Anna Laudere als „Anna Karenina“ und Edvin Revazov als ihr Wronski im Ballett von John Neumeier. Foto: Kiran West

Anna Laudere, sonst auch oft grandios kühl wirkend, dreht hier bereits voll auf, zeigt, dass unter der Oberfläche der High Society Lady tausendundein Vulkane brodeln.

Zu den großen Bildern im Stil von Mondrian, die bei den Karenins daheim hängen, passt diese spannungsreiche Ehe vorzüglich.

Choreograf John Neumeier sagt, er habe anlässlich Anna Lauderes Interpretation der „Tatjana“ in seinem gleichnamigen Ballett gespürt, dass sie „künstlerisch eine Stufe erreicht hatte, von der aus sie eine komplexe Rolle wie ‚Anna Karenina’ meistern könnte“. Und wie!

Jedes Stirnrunzeln, jeder fragende Blick, jede Handbewegung und, ach, jedes Anheben des hoch eleganten Ballerinenfußes stehen bei Anna Laudere für sich: als Ausdruck von Kunst. Sie versprüht eine Aura, die durch Bewegung umso stärker wirkt, ohne die anderen Protagonisten an die Wand zu spielen. Als Anna Karenina kann sie diesen Trumpf ihrer zugleich mädchen – wie divenhaften Ausstrahlung voll ausspielen. Einfach wunderbar.

Ivan Urban als Mann dieser extravaganten Dame, als hochgestellter Machtmensch Karenin – er könnte Kanzlerkandidat oder Bürgermeister sein – tanzt charakterstark und dennoch leichtfüßig durch sein erfolgreiches Politikerleben. Die Gattin Anna sieht er darin aber eher als eine beliebig austauschbare, wie selbstverständlich kooperierende Ehefrau, die im Hintergrund zu bleiben und sich privat selbst zu vergnügen hat.

Dass seine Frau ein Mensch mit eigenen Wünschen ist und ihm immer mehr entgleitet, ignoriert er; ihre emotionalen Anträge übersieht er oder beantwortet sie falsch.

Leidenschaft in Anna Karenina

Keine Zeit für die Liebe – eine Beziehung unter Zugzwang: Ivan Urban als Karenin und „Anna Karenina Laudere“ beim Hamburg Ballett. Man beachte die schicke Stehlampe mit dem außergewöhnlichen Ständer, Design by John Neumeier. Foto: Kiran West

Anna kämpft um das Innenleben dieser Ehe, aber für Karenin besteht die Aufrechterhaltung dieses Lebensbundes mehr und mehr nur in der Pflege der Fassade.

Choreografisch-tänzerisch sind hier sensible Paartänze entstanden, die das langsame Zerbrechen einer Liebe eindringlich illustrieren (siehe: www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-anna-karenina-probe-bericht/). Die verschiedenen Positionen der Figuren werden klar, ihr Miteinander entbehrt keiner Nuance dieses komplizierten Zusammenspiels.

John Neumeier verschränkt hier zudem die Handlungsebenen. Und oftmals ist der Szenenwechsel fließend; noch während einer musikalischen Einheit verändern sich Personal und Lokalität.

Zudem sind viele Mittel eingebracht, die das Stück zu einem veritablen Ballett-Theater werden lassen. Der Umgang mit technischem Equipment und Requisiten gehört da ebenso dazu wie das autistische Sprechen auf Französisch, das die Geister-Figur des Muschik praktiziert.

Neumeier hat ja die Figuren aus dem Roman „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi (der mehrere Jahre bis 1877/78, dem Ersterscheinen als Buch, daran schrieb) in die Gegenwart, ins 21. Jahrhundert, verlegt – und sich damit alle Möglichkeiten geschaffen, um die fragilen Gefilde von Beziehungen in Annas Leben und Verwandtschaft inhaltlich und formal neu auszudeuten. Inspiriert von Tolstoi sei das Werk, suggeriert der Untertitel, es handelt sich bewusst um keine Eins-zu-Eins-Übersetzung.

So hat Karenin, der unsportliche Rhetoriker, mit Wronski einen veritablen, körperlich beredten Gegenpart: Edvin Revazov als Oberst und Graf Wronski frönt, erotischerweise, demonstrativ ausgiebig der Körperertüchtigung.

Während seine spätere große Liebe Anna in Sankt Petersburg lebt, trimmt er sich und seine sieben Regimentsathleten für ein Lacrosse-Spiel (schön und kraftvoll anzusehen: Thomas Stuhrmann, Florian Pohl, Christopher Evans, David Rodriguez, Eliot Worrell, Pietro Pelleri und Matias Oberlin) in Moskau.

Lacrosse ist ein brutales, von den kanadischen Indianern abgeleitetes Ball-und-Schlagspiel, bei dem es ursprünglich oft zu schweren, auch tödlichen Verletzungen kam. Heute tragen die Spieler darum Schutzrüstungen. Lacrosse ist, neben Eishockey, ein kanadischer Nationalsport – und das Kanadische Nationalballett ist, wie auch das Moskauer Bolschoi Theater, einer der beiden Koproduzenten von John Neumeiers „Anna Karenina“.

So haben die Russen ihren Nationalheiligen Tolstoi und die Kanadier ihr Lacrosse mit diesem Ballett. Was sie vor allem aber haben: ein Gesamtkunstwerk aus John Neumeiers Hand zum Thema Liebe, Leben, Betrug.

Leidenschaft in Anna Karenina

Vor dem Spiel ist nach dem Spiel, nach dem Spiel ist vor dem Spiel: Anna Laudere und Edvin Revazov nach dem Lacrosse-Spiel in „Anna Karenina“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Und als Anna Karenina nach Moskau reist, um als familiäre Eheberaterin ihre Schwägerin Dolly zu beruhigen (weil deren Gatte, Annas Bruder Stiwa, chronisch fremd geht), da trifft die unbefriedigte Politikergattin – Knall auf Fall – auf den sportlich-schönen, vor Lebenslust nur so strotzenden Wronski.

Im Getümmel der Reisenden steht er in der Bahnhofshalle plötzlich vor ihr, nachdem er sie angerempelt hat. Natürlich entschuldigt er sich, hebt ihre Jacke auf, die sie bei dem Zusammenprall fallen ließ. Und sie schauen sich tief in die Augen, Wronski und Anna…

Doch der Zauber wird jäh unterbrochen.

Auch der Zuschauer wird harsch aus aller Schwelgerei geweckt: In Gestalt einer Gummipuppe plumpst ein verunglückter  Straßenbauarbeiter (dem Ballerino Karen Azatyan sehr ähnlich) aus dem Schnürboden wie ein herabgestürztes Menetekel. Rums! Reglos liegt der Mann dann da.

Neumeier hätte den Unfalltod eines Arbeiters auch anders, weniger schockierend, inszenieren können. Er hätte zuerst die Menschenmenge, die sich rasch um den toten „Muschik“ bildet, auftreten lassen können und erst, wenn diese sich lichtet, die Leiche sichtbar werden lassen.

Er wählte aber die harte Variante mit Wums und hörbarem Aufprallen der Puppe; mit einer Art V-Effekt (einem Brecht’schen Effekt der Verfremdung) wird somit etwas vorgeführt, das hier zwar nur Theater ist, das aber tagtäglich auf Baustellen passiert.

Pro verbauter Million Euro, so sagt man in der Baubranche zynisch, sei mit einem Toten zu rechnen.

Leidenschaft in Anna Karenina

Anna Laudere als „Anna Karenina“ – Stühle sind hier die wichtigsten Requisiten. Sie bezeugen die Stimmung und den Tatendrang der handelnden Personen. Foto: Kiran West

Das kalkuliert man so ein, die Versicherungen sind auch drauf eingerichtet. Höhere Sicherheitsmaßnahmen werden darum nicht ergriffen. Fazit: Auf diese Weise bringt eine hoch technologisierte Gesellschaft dem Mammon noch Opfer, Menschenopfer.

Neumeier weist aber nicht nur auf den hohen Realitätsgehalt so eines Unfalls hin. Er zitiert mit der fallenden Puppe auch noch eine andere russische Liebesgeschichte in einer anderen Inszenierung in einem anderen Genre (vielleicht ohne es zu wissen, aber das ist gerade jetzt eine schöne Hommage): „Iwanow“ von Anton Tschechow endete, von Dimiter Gotscheff legendär inszeniert, in der soeben beendeten Ära von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit ebensolchem unromantischem Herabstürzen von Stoffpuppen aus dem Theaterhimmel (dort war es leise fallender Stoff). Die Puppen trugen Kostüme wie die Darsteller – und Birgit Minichmeyer hatte, stets lautstark heiser krächzend, in einem Harlekinsoutfit zuvor dargelegt, dass den Frauen nichts bliebe als die Liebe, während der Mann ja seinen Beruf habe, um sich auszuleben.

Das ist sicher ein Problem, das auch Anna Karenina hat (dem sie sich aber nie stellt, wie so viele Hausfrauen von Besserverdienern): Sie hat keine berufliche oder kreative Eigenständigkeit, lediglich das Shoppen und Styling bleiben ihr als Mittel des Selbstausdrucks, der Selbstbehauptung nach außen.

Da haben es die Männer bei Tolstoi besser. Zum Beispiel der junge, tiefsinnige, dennoch tatkräftige Landadlige Konstantin Dmitrijewitsch Lewin, kreiert und absolut hervorragend getanzt und gestaltet von Aleix Martínez.

Er sitzt, romantisch und versonnen, in der Lederhose zunächst auf einem Berg Strohballen und findet dann – tanzenderweise – langsam, aber sicher zu sich selbst.

Leidenschaft in Anna Karenina

Aleix Martínez als Lewin im Heu: ein adliger Gutsbesitzer mit viel Sinn für Natur… so zu sehen in „Anna Karenina“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Er streckt sich, dehnt, dreht, biegt, reckt und streckt sich wieder. Was für ein naturverliebter Bursche! Wie er mit seinem Cowboyhut spielt, wie er sein kariertes Holzfällerhemd hin- und herschleudert! Und er zeigt, dass man auch in Gummistiefeln Sexappeal und Charakter haben kann. Wow!

Dazu gibt es den mysteriös-elegischen Song „Moonshadow“ von Cat Stevens.

Hätte man hier nicht Joan Baez oder Stevie Nicks verwenden können? Oder Red Hot Chili Peppers? Nein, es mussten Klänge sein, die mit schlängelnder Smartheit und einfachem Humtata direkt ins Ohr, ins Ohr, ins Ohr drängen – ohne Umwege.

Und schließlich träumte auch Cat Stevens’ Hauptkundschaft, die 68er Generation, vom scheinbar einfachen Landleben, von einem Dasein als muntere, revolutionär gestimmte Gutsherrn oder Bauern.

Insofern ist die Musikauswahl doch trefflich.

Noch etwas zur Musik generell hier:

Leidenschaft in Anna Karenina

„Anna Laudere Karenina“ und Karen Azatyan als Geist des Muschik: Der Untote gewinnt immer mehr an Macht… Foto: Kiran West

Mit dem Komponisten Alfred Schnittke war Neumeier bis zu Schnittkes Tod 1998 befreundet. Ballette wie „Endstation Sehnsucht“ und „Peer Gynt“ sind Früchte dieser außerordentlichen Künstlerverbindung.

Tschaikowsky ist als Ballettkomponist wohl jedem geläufig. In „Anna Karenina“ gibt es aber nicht die ballettüblichen Gassenhauer zu hören, sondern Filetstücke aus Werken wie „Souvenir de Florence“ und „Suite Nr. 1“.

Dass sich hier zwei Tschaikowsky-Stücke doppeln, ist Kalkül und kein Zufall: Das Andante cantabile aus dem 1. Streichquartett steht hier für das Leiden unter der Unterdrückung durch die Familie.

Das Melodrama aus den „Schneeflöckchen“ op. 12 hingegen, das sich ebenfalls doppelt, steht für die trostreiche Liebe, die Lewin seiner Kitty zu geben hat.

Allein die Tatsache, dass zwei Stücke sich in verschiedenen Szenen wiederholen, erinnert zum Beispiel an John Crankos „Onegin“, aber auch an John Neumeiers „Kameliendame“.

Wenn die Szenarien inhaltlich passend dazu gefügt sind, ist es ja auch schlüssig, Musiken solchermaßen zu wiederholen.

Zumal das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Simon Hewett präzise und wohldosiert das Schwelgen in diesen kapriziösen Schönheiten ermöglicht.

Bei den eingespielten Songs von Cat Stevens hingegen – die fürs einfache Landleben stehen – hört man hier die Texte besonders gut: Oft ist es absurd-lakonische Lyrik.

Leidenschaft in Anna Karenina

Aleix Martínez als Lewin: immer auf der Selbstsuche, höchst tätig dabei… in „Anna Karenina“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Allerdings: Ein so edelmütiges, auf Utopie und Kulturgeschichte begründetes Klangniveau wie von Peter I. Tschaikowsky und Alfred Schnittke kann mit solch eher simplen Popmusik nicht erreicht werden.

Diesen Preis zahlt Neumeier, dafür hat er mit Cat Stevens, der auf dem Programmzettel auch unter seinem islamischen Namen Yusuf Islam firmiert, gleich noch einen Konvertiten mit im Programm.

Sehr vorausschauend: Es ist ja damit zu rechnen, dass die Frauenverächter mit dem Koran in nicht allzu ferner Zukunft als zweite Staatsreligion in Deutschland anerkannt werden. Und vielleicht werden sich Menschen bald wieder öffentlich auspeitschen lassen – vorerst noch freiwillig, selbstverständlich. Ich könnte mir vorstellen, dass diverse Islamwissenschaftler und Juristen für die Legitimation dessen schon bereit stehen.

Und während sich im Normalfall der intolerante Teil einer Gesellschaft – gemeinhin sind das die Religiösen – dem toleranteren Teil gegenüber öffnet, läuft es hier hübsch verkehrt herum: Die tolerante Seite öffnet sich der intoleranten. Das ist Fortschritt à la Globalisierung.

Ich bin übrigens für ein generelles Verbot von religiösen Abzeichen bei Minderjährigen.

Denn wirklich frei können Kinder und Jugendliche sich nicht für oder gegen die Religion ihrer Familien entscheiden. Sie sind ihnen ja untertan – wie im 19. Jahrhundert die Ehefrauen den Ehemännern.

Cat Stevens aber steht für die Gegenwart, ebenso wie das Handy, der Trolley, die Handtasche, die Zigaretten hier im Stück.

Leidenschaft in Anna Karenina

Aleix Martinez als Lewin in „Anna Karenina“: vom Strohballen zur Sinnsuche… beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Aber auch die weitere Natur und ihre Idyllbilder kommen in „Anna Karenina“zu ihrem Recht. Neben einer surreal schönen Wolke mit einer dunklen Wetterseite am Horizont in Italien schuf John Neumeier – hier auch der Ausstatter – mit Licht starke Natur(t)räume.

Der Figur Lewin fehlt zudem nur noch das Etikett „Bio“, um im marktwirtschaftlichen Jargon zu reden – an sich aber hat er alles, was er an Potenzial zum Weltverbesserer benötigt.

Und wenn er dann mit seinen Landarbeitern – die er zunächst aufmerksam bestaunt – bei aufgehender Sonne einen Sicheltanz aufführt, dann vergisst man vor Seligkeit alles um sich herum, auch die Musik, wieder von dem gewissen Cat Stevens („Morning has broken“).

Da gab es (und das war nicht die einzige Szene der Uraufführung, die das bewirkte) heftigen, herzlichen Szenenapplaus!

Leidenschaft in Anna Karenina

Sicheltanz der Landarbeiter in den „Tagesthemen“: John Neumeier und seine „Anna Karenina“ machten es am 1. Juli 2017 möglich, mit Filmaufnahmen von der Bühnenprobe. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Diese Bilder waren – auszugsweise – übrigens auch schon im Fernsehen zu goutieren. Caren Miosga kündigte in der ARD die Uraufführung in Hamburg in den „Tagesthemen“ am Vorabend an – sie nannte John Neumeier darin allerdings einen „Ballettmeister“, vielleicht im Sinne eines „Ballett-Meisters“.

„Ballettgenie“ hätte es aber auch getan.

Oh, und was für entzückende Steps er für die junge Nachwuchsballerina Emilie Mazon kreiert hat!

Emilie Mazon als Kitty ist ein leuchtender Stern, der just am Balletthimmel aufgeht. Sie hat als Tänzerin bereits ein ganz eigenes Profil, hat den Mut zum Anderssein, auch mehr zum Komischsein als die meisten Ballerinen.

Was manche Kritiker allerdings schreiben, nämlich dass sie körperlich große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter Gigi Hyatt habe, ist rasch als nicht richtig zu entlarven. Denn manche Leute sehen eben nur, was sie sehen wollen.

Gigi Hyatt hatte eine kindlich-schmächtige Figur, sie war so zart gebaut, dass sie vermutlich auch mit Anfang 30 noch Kinderkleidung tragen konnte. Ihre Proportionen entsprachen mit schmalen Hüften dem damaligen, von Twiggy geprägten Modegeschmack, und der flache Po wirkte bei ihr nicht banal, sondern höchst subtil.

Emilie Mazon hingegen hat zwar auch ein Mordstalent, ist aber vom Knochenbau her ganz verschieden von der Mutter. Eigentlich kommt man nicht darauf, dass sie verwandt sind, wenn man sie nicht gut kennt.

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Emilie Mazon als Kitty in „Anna Karenina“: nächtens weint sie, tanzend aus Liebeskummer, bis zum Nervenzusammenbruch… so zu sehen beim Hamburg Ballett, mit Video-Simultan-Übertragung. Foto: Kiran West

Mazon hat, nachdem sie zunächst mit einem klapprigen Magerformat bei sich experimentierte, das sie aber nur dürr, nicht zart wirken ließ, mit einigen Pfunden mehr nun genau ihre richtige Figurine gefunden. Fast ländlich muten ihre runden Arme und ihre nicht engen Hüften manchmal an. Aber gerade das macht sie besonders, und weil sie so gut tanzt, stimmen die Linien der Anmut aufs Detail genau. Sie hat einen propperen, gesunden, frischen Ausdruck – und ist, im Gegensatz zu ihrer Mutter damals, gerade nicht das zierliche Püppchen, dem man das Ballett (und nicht den Ausdruckstanz) schon von weitem ansieht.

Dafür hat Mazon eine erdverbundene Kraft, die sie neben der Klassik auch exzellent moderne Choreografie tanzen lässt.

John Neumeier hat nun mal ein unbestechlich gutes Auge für Talent!

Er nahm (und er hatte Recht damit) es in Kauf, dass man ihn schalt, weil er Emilie seit Beginn ihrer Hamburger Zeit (2013) bevorzugte. Andere Tänzerinnen müssen viele Jahre warten, bis sie einen Solopart erhalten, Emilie Mazon aber tanzte gleich bereits die Marie im „Nussknacker“. Und zwar sehr gut!

Wie hat sie sich seither entwickelt! Sie hat ihren Typ gefunden, sie hat ihre Art zu tanzen stabilisiert.

Bemerkenswert ist ihr Ausdruck. Sie kann ohne viel Aufhebens auf der Bühne schmollen oder sich freuen, sich sehnen oder leiden – ein großes schauspielerisches Talent ergänzt ihre sich Richtung Virtuosität entwickelnde Tanztechnik.

In „Anna Karenina“ tanzt sie als Kitty die Verlobte von Graf Wronski.

Das ist ja so ein Mini-Drama: Da kommt Anna Karenina Laudere mit einem Blumenstrauß, um Kitty zu gratulieren – und kennt den Verlobten nicht.

Kaum hat sie – Bussi, Bussi – die Blumen an Kitty übergeben, steht Wronski an ihrer Seite. Er ist der Mann vom Bahnhof…

Die Sache ist schnell entschieden. Er und Anna sind füreinander wie gemacht – und die kleine Kitty kann nur noch heulend davon laufen, wann immer sie auf dieses heimliche und doch schon so miteinander vertraute Pärchen trifft.

Das passiert während der Verlobungsfeier öfters. Denn da stehen Stühle aus Plexiglas in einem Vorraum, in dem auch geraucht werden darf. Ein idealer Rückzugsort, zudem ein Treffpunkt für Verschwiegene. Der Vorraum ist hier der Hauptraum der Bühne, im Hintergrund stehen die schon jetzt legendären, überdimensionalen Hochschränke, die hier als Wände dienen.

Leidenschaft in Anna Karenina

So sieht die Szene auf der Probe aus: Wronski (Edvin Revazov) gibt Anna Karenina (Anna Laudere) Feuer… Foto: Gisela Sonnenburg

Hier gibt Wronski seiner Anna Feuer, und es funkt wörtlich. Zigarette und Gesundheit hin oder her – ungezählte Beziehungen begannen schon mit dem Satz: „Haben Sie Feuer?“

Es ist eine verspielte, lyrische, helle Liebe, die sich da entfacht. Ach! Wie er sie ansieht, wie er sie hebt! Edvin Revazov macht das so erfrischend, als tanze er das erste Mal mit dieser Frau (die indes doch privat seine Gattin ist).

Anna Laudere zeigt dabei die kokett-mondäne Facette der Karenina, und mir fällt kein Mann ein, der da wohl nicht einen zweiten Blick riskieren würde. So eine berückende Lady! Aber niemals affektiert! Sie neckt Wronski, wird unwillkürlich zärtlich zu ihm. Sie ist kultiviert von Natur aus, und wenn sie lächelt und den Kopf zurück wirft, sich von Wronski fangen und festhalten lässt – dann weiß man, falls man es vergaß, was Liebe ist.

Emilie Mazon hat darum später noch einen ganz großen, einen auch in der Ballettgeschichte bislang einzigartigen Auftritt. Wir sehen sie nämlich bei Nacht, unglücklich und hilflos dem Liebeskummer und der Eifersucht ausgeliefert, derart, dass sie sich in einen Nervenzusammenbruch hinein steigerte und in einem Sanatorium befindet.

Was für ein Solo!

Sie tanzt es in einer Art Nachthemd, das auch ein Mädchenkleid sein könnte, dazu trägt sie leichte Turnschuhe. Laufschuhe. Alltagsschuhe. Aber hier hat dieses Outfit so viel Poesie, dass man schon beim ersten Anblick der störrisch vor sich hin tanzenden Emilie genau weiß, dass es um eine Herzenssache und um einen Neuanfang geht.

Sie kauert, sie sitzt und zuckt im Herrenspagat, sie hat den Kopf vornüber gebeugt und schüttelt sich die Haare wie verzweifelt. Als könnte sie damit die unliebsamen Gedanken loswerden. Und dann findet sie einen Stuhl aus Pappe, setzt ihn sich auf den Kopf wie einen Hut, sieht nichts mehr, zappelt weiter…

Liebeskummer – das heißt, die Nacht durchzuheulen.

Jetzt passt Cat Stevens, vom Text und der mitleidigen Melodie her, auch wenn Kitty nicht Lisa heißt: „Sad Lisa“. Und so modern dieses Solo ist, so modern auch sein Bühnenarrangement.

Leidenschaft in Anna Karenina

Emilie Mazon und Aleix Martínez in „Anna Karenina“: Zuvor zog Lewin seiner frustrierten Kitty die Schuhe aus, liebkoste ihre Füße und bot ihr dann den Arm zum Pas de deux nebst Haus und Hof. Foto: Kiran West

Erstmals arbeitet John Neumeier hier mit jener Simultanlive-Videoübertragung, die von Berlin aus ein Markenzeichen für Frank Castorf als Regisseur geworden ist. Schon wieder ein Anklang an die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz! Jedenfalls fand dieses durch Castorf bekannt gemachte Prinzip, mit Video und Schauspiel umzugehen, bereits weltweit Nachahmer – und kam nun endlich auch im Universum der Hochkultur des Balletts an.

Wir sehen also den Oberkörper von Emilie Mazon zweifach: einmal real und dann, links auf die Scheibe eines Pavillons projiziert, in Großaufnahme. Dazu wird Aleix Martínez in Sandwich-Technik geswitcht – was für ein Kino-Erlebnis mit Ballett!

Tatsächlich kommt Martínez als Lewin nicht nur als Videoaufzeichnung dazu. Er hatte ja bei der verpatzten Verlobung Kittys mit Wronski heftig um Kitty geworben. Und er war so frohgemut dort aufgetaucht, als wüsste er, dass es mit dem Grafen und der Kitty nichts werden würde. Oder auch: als sei ihm diese Verlobungsfeier seiner Angebeteten ganz egal, denn eine Verlobung ist keine Heirat, und einer wie Lewin gibt so schnell nicht auf.

Dank der Lovestory zwischen Wronski und Anna hat er nun bei Kitty gute Karten. Mit zärtlichen Gefühlen schaut er sich unbemerkt an, wie ihr Kummer ihren Körper fast zerreißt.

Dann geht er auf sie zu – tröstet sie… und kann punkten. Kitty sieht ihre Chance, geliebt zu werden und einen Mann mit Land und Visionen zu bekommen. In ihrer finstersten Zeit steht er zu ihr, ein gutes Zeichen – und auf der Suche nach einem Mann ist sie ja ohnehin.

Cinderella - ein Märchen für Menschen.

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Ihr erster Kuss, in der Verandatür stehend, während der Pavillon sich dreht, ist so modern wie romantisch wie anrührend inszeniert. Man mag an die pubertäre Liebe alter James-Dean-Filme denken. Man kann sich aber auch an die vornehme „Pride and Prejudice“-Verfilmung mit Colin Firth erinnern.

Tatsächlich ist diese Liebesgeschichte die glücklichste in „Anna Karenina“.

Kittty assimiliert sich problemlos in Lewins Welt und gibt als tätige Gattin des Gutsbesitzers eine handfeste Bäuerin ab. Im Blaumann mit Holzfällerhemd – quasi im Partnerlook mit ihrem Mann – reitet sie später mit dem gemeinsamen Kind im Arm auf dem Traktor ein. Ja, auf dem Traktor – mit Idyllen aus dem einstmals real existierenden Sozialismus darf das durchaus zu tun haben.

Und nur zu gern tanzt Aleix Martínez den neuen modernen Vater… und steigt am Ende bei seiner Frau auf den Wagen. Juchei!

Aber auch Anna und Wronski haben ihre glückliche Zeit. Nachdem durch einen Unfall Wronskis beim Lacross-Spiel und auch durch eine Schwangerschaft Annas ihre Affäre rauskam und der Gedanke an eine glückliche Ehe zu dritt mit Karenin nach wenigen Tanzminuten vom Tisch ist, reisen sie nach Italien.

Anna Laudere und Edvin Revazov begeistern mit Stil, Innigkeit, Modernität – technische Klippen, akrobatische Hebungen, viele Umwirbelungen meistern sie scheinbar mühelos.

Ihr Paartanz hier ist geprägt von ständiger Veränderung, die choreografisch von ihm ausgeht. Er ist der Motor dieser Beziehung, er lenkt Anna vor und zurück, er hebt sie, lässt sie hüpfen, kreisen, und ständig hat er sie in der Hand oder im Arm – und sie gleitet dahin, lacht, genießt das Spiel und seine Stärke.

Leidenschaft in Anna Karenina

Ein Paartanz, leicht wie der Sommerwind: Anna Laudere und Edvin Revazov in „Anna Karenina“ von John Neumeier. Ein früherer Pas de deux wäre allerdings nicht so gut ins Bild zu setzen… Frisch verliebt, halten die Körper der beiden kaum still. Foto: Kiran West

Zu fotografieren ist dieser Pas de deux allerdings sehr schwer: Die Körper der frisch Verliebten sind ständig im Bewegungsfluss, keine Pose wird auch nur eine Viertelsekunde gehalten, sondern kaum hat sie sich vollendet, da entwickelt sie auch schon eine Metamorphose zur nächsten.

Dieser Leichtigkeit stand die nahezu notgeile Nummer der Zeugung ihres Kindes entgegen. Im lilablauen Gefilde einer heißen Nacht entspinnt sich mit Alfred Schnittke ein ganz bestimmtes Szenario. Das Animalische, das Entgrenzte hat hier die Oberhand – Laudere rutscht untern Stuhl, sie turnen darauf herum, sie umklammern einander und entketten sich zugleich. Bis zur Erschöpfung toben sie sich aneinander aus wie wilde Tiere, die man aus der Gefangenheit frei und aufeinander los ließ.

Eine unglaublich heiße Sache im Ballett! Der „Schwarze Pas de deux“ aus Neumeiers „Kameliendame“ mutet dagegen fast an wie ein braves Gebet. Im Libretto wird diese Szene lediglich als „Leidenschaftliche Gedanken an Wronski“ bezeichnet. Aber es ist mehr als nur Denken, was hier geschieht, und es hat, mit einer Schwangerschaft, auch konkrete Folgen.

Und dann zeigt Anna Laudere – mit einer struppigen Kurzhaarperücke, die an „Manon“ im dritten Akt von Kenneth MacMillan erinnert – einen weiteren Höhepunkt mit Neuigkeiten in der Ballettgeschichte:

Auf einem Bett mit goldenen Pfosten (das an das Vergewaltigungsbett in „Endstation Sehnsucht“ von Neumeier erinnert) gebärt sie symbolisch in ausgedehnter, qualvoll schmerzensreicher, nicht naturalistischer, aber sehr verständlicher Weise. Der konkrete Geburtsvorgang als das, was er ist – und nicht als verschämtes Hervorziehen einer Babypuppe. Enorm.

Hier gibt es keine Tabus mehr, auch das ist ein Kennzeichen der Modernität dieses Balletts.

Man hat den Eindruck, es gelingt Neumeier, in seiner ästhetischen Tanzsprache nahezu jedes Detail des Lebens zu beleuchten und künstlerisch darzustellen. Großartig – und unzweifelhaft fortschrittlich.

Vier Hebammen (Sara Coffield, Yaiza Coll, Yun-Su Park und Maria Tolstunova) umtanzen während der Wehen das Bett, haben zunächst gerollte Tücher im Arm, als seien es Babies – aber ausgerollt ergeben sich Stoffbahnen, von denen die Gebärende gleichermaßen bezwungen wie auch gehalten wird. Schwere, dramatische Musik von Alfred Schnittke lässt das zu einem existenziellen Fest werden.

Leidenschaft in Anna Karenina

Anna Laudere als „Anna Karenina“ während der Geburt ihrer Tochter von Wronski… erstmals ist in einem Ballett ausführlich ein Geburtsvorgang zu sehen, künstlerisch gestaltet. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Als Anna Laudere Karenina dann endlich ihre Tochter als Puppe in der Hand hält, wird sie ihr von Karenins Assistentin abgenommen. Ohnehin scheint Anna das Kind nicht wirklich zu wollen.

Es forciert ihren inneren Konflikt – sie ist eine Frau, die zwischen zwei Männern steht.

So gibt es auch einen Pas de trois mit Karenin und Wronski im Bett, und die Männer rangeln um die Liebe dieser Frau. Letztlich gewinnt Wronski ihr Herz und ihren Körper. Aber ohne Zweifel geht das nicht vonstatten.

Noch ist die Ehe ja nicht geschieden – aber auch Karenin orientiert sich neu.

Die adlige Lydia Iwanowna, seine Assistentin, dezent und doch sehr weiblich von Mayo Arii getanzt, wird fortan eine immer wichtigere Rolle in Karenins Leben spielen.

Sie tröstet Karenin nämlich, als dessen Frau ihn endgültig verlässt. Der Pas de deux von Ivan Urban mit Mayo Arii bezeugt die integren Gefühle, die eine solche Verbindung haben kann.

Und: Man kann sie verstehen, die beiden!

Leidenschaft in Anna Karenina

Mayo Arii und Ivan Urban tanzen die tröstende Assistentin und den einsamen Spitzenpolitiker: in „Anna Karenina“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Weniger leicht fasslich ist das, was sich zwischen Wronski und Anna in Folge abspielt. Sie schwankt, er entweicht ihr, er kommt wieder zu ihr, sie erwischt ihn beim erotisch aufgeladenen Tanz auf einem Ball mit der Prinzessin Sorokina (die von Greta Jörgens in altroséfarbenem Atlas hinreißend und unbedingt als Hingucker getanzt wird).

Und ihre Nerven halten nicht. Er hat ja nur getanzt, im Anzug, mit Fliege – aber für Anna Karenina bricht die Welt zusammen. Offenbar hat sie die Leidensgeschichte ihrer Schwägerin vor Augen…

Dolly, getanzt von Patricia Friza, erwischte ihren Mann (Dario Franconi als triebgeplagter Dauercharmeur) im Bett mit dem Kindermädchen (siehe www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-anna-karenina-probe-bericht/).

Später vergnügt er sich mit diversen Bolschoi-Tänzerinnen (diese Familie lebt in Moskau).

Als Dolly den Entschluss fasst, ihre Familie (mit sechs Kindern: Gabriel Alain, Merit Laengner, Elisa Muller, Liv Kukla und Caspar Sasse) zu verlassen, ertönt Tschaikowskys herzerwärmendes Andante cantabile aus dem Streichquartett Nr. 1.

Und fast wäre sie gegangen – kämen da nicht die Kinder aus dem Haus. Man trinkt zusammen Tee aus dem Puppenporzellan… und ein Gehen ist Dolly fortan unmöglich. Sie lebt für ihre Kinder, nicht für ihren Mann – und auch nicht für einen anderen.

Sie wäre, stärker wohl noch als Anna Karenina, eine Ausgestoßene.

Leidenschaft in Anna Karenina

Patricia Friza und Dario Franconi als Dolly und ihr Mann im Zwist – nachdem sie ihn in flagranti erwischte… in „Anna Karenina“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Patricia Friza tanzt die Dolly mit sehr viel Würde, mit Stolz trotz der entwürdigenden Situation, um die es bei ihrer Figur geht. Die erschütternden Emotionen, all die inneren Erdbeben, die Eifersucht und Herabsetzung bewirken, legt sie allerdings nicht zutage.

Da muss man sich an Emilie Mazon halten – trotz ihrer Jugend ist diese zweifelsfrei die größere Künstlerin, ein ganz anderes Kaliber sozusagen.

Das langsame Zerbrechen einer großen Liebesbeziehung zu zeigen, bleibt hier Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vorbehalten.

Von den fröhlichen, gelösten, stets im Fluss befindlichen Pas de deux des Beginns ihrer Beziehung sind sie bald weit entfernt, ebenso vom fast alptraumhaften ersten leidenschaftlichen Koitus.

Dieser, in violettblaues Licht getaucht, mit Kissen unterm Stuhl und mit surrealen Schnittke-Klängen inszeniert, bleibt als großer Höhepunkt der ballettösen Liebeskunst in Erinnerung.

Er war die logische Fortsetzung einer Beziehung, die zunächst verboten war – und Anna Laudere Karenina versuchte etliche Male, vor ihr zu fliehen. Aber dann kam sie freiwillig zu ihm, um innerlich nie mehr zu gehen.

Leidenschaft in Anna Karenina

Anna Laudere als „Anna Karenina“ unterm Stuhl: erst mit Lust, dann mit Frust… Foto: Kiran West

Als sie befürchtet, er würde sie betrügen, mehren sich ihre geisterhaften Alpträume, in denen der verunglückte Straßenbauarbeiter eine tragende Rolle spielt.

„Muschik“ nennt Neumeier diese Figur, denn bei Tolstoi gibt es diesen anstelle des Bauarbeiters. „Muschik“ ist ein russisches Wort für einen Bauern, noch aus der Zeit der Leibeigenschaft stammend.

Annas Schuldgefühle kulminieren in diesem Geist des toten Muschik, er kehrt wieder und wieder, stört und zerstört ihre Beziehung zu Wronski.

Interessanterweise geht es hier im Ballett aber meiner Meinung nicht mehr – wie bei Tolstoi – um die Schuld durch sexuelle Untreue.

Karenin hat seine Frau gefühlsmäßig so vernachlässigt, dass er wohl kaum ein Recht auf Treue geltend machen kann. Das ist meine feministische Deutung.

Aber Anna ist in anderer Hinsicht schuldig geworden: Denn außer für ihre Outfits, ihre Familie und für ihr Vergnügen hat sie sich nie für irgendetwas wirklich interessiert.

Draußen sterben die Muschiks, die Straßenbauarbeiter oder andere Menschen – und Anna Karenina überlegt, ob sie fremd gehen sollte.

Sich der Welt zu öffnen und ihr etwas zu geben – und nicht immer nur zu nehmen – das ging an Anna Karenina vorbei…

Außer für ihre Liebesleidenschaft brennt sie für nichts.

Das ist die Generalfrage des Stücks: Soll man so leben?

Soll man das intimste erotische Vergnügen als oberste Priorität behandeln und alles darauf ausrichten, das gesamte Dasein?

Leidenschaft in Anna Karenina

Anna Laudere und Edvin Revazov: „Anna Karenina“ sieht überall den Muschik-Geist, auch in ihrem Geliebten… Der halbnackte Wahn! Foto: Kiran West

Anna Karenina bricht zwar Konventionen, indem sie ihren Ehemann verlässt und mit ihrem Liebhaber zusammen zieht.

Aber: Obwohl sie die Frau eines einflussreichen Politikers war, hat sie nie auch nur irgendwas versucht, um etwas außerhalb der eigenen Situation zu verbessern. Auch nach ihrer Trennung vom Gatten interessiert nur ihr eigenes Glück sie.

Liebe ist sich selbst genug, das war schon die Kritik der Romantiker wie Ludwig Tieck, der mit „Des Lebens Überfluss“ eine reizend satirische Kommntierung dieser Problematik der Welt mit den Paaren und Familien verfasste.

Anna aber ist eine Egozentrikerin per se – und vielleicht gilt darum der biblische Satz, den Tolstoi (nicht Neumeier!) als Motto ihrer Geschichte voran stellte: „Die Rache ist mein; ich will vergelten.“

Anna Karenina, negativ gesagt, ist die wandelnde Ignoranz, in einer Art, die typisch für Personen ist, die zu sehr auf Äußerlichkeiten achten.

Zeitgleich entwickelt sie psychische Probleme, halluziniert immer wieder vom toten Muschik.

Die Momente der Einsamkeit, schon in ihrer Ehe mit Karenin ihr großes Unglück, mehren sich auch später. Erschütternd ist es, wenn Anna Karenina Laudere sich allein an die Wand lehnt, wenn sie auf der Bühne hockt, als sei sie völlig vereinzelt, wenn sie zu Boden schaut, weil sie keinen Halt mehr hat.

Dass sie sich dann umbringt, nachdem der Muschik (ihr eigenes Hirngespinst) sie fast vergewaltigt hat (in einer irren Szene, in der Karen Azatyan sie über Tisch und Stuhl langsam verfolgt hat), hat zudem ein langes Vorspiel. In ihr gärte es, und die Lust allein war es nicht!

Nach dem Abflauen der ersten harmonischen Zeit sieht Anna in Wronski nurmehr einen untreuen Charmeur (was sie vielmehr auch selbst war zu Zeiten ihrer Ehe war). Überall erscheint ihr der Muschik, auch der Geliebte, sogar der Ex-Ehemann mutieren zum Muschik in orangener Latzhose (eine ähnliche, jedenfalls orangene Latzhose trägt, allerdings als heiteres Moment, auch Amor in John Neumeiers Ballett „Anna Karenina“.)

Zudem riss auch die emotionale Bindung zu ihren Kindern ab (ihren Sohn darf sie nach einer vom Exmann zerstörten munteren Wiedersehensszene nicht mehr sehen, und ihre Tochter war ihr von Beginn an wenig willkommen).

Man muss vielleicht auch noch ein Urtrauma bei Anna Karenina vermuten, von dem wir nichts erfahren. Auf dieses baut der Druck durch Ausgrenzung und Ächtung auf.

Nach einem Opernbesuch von Tschaikowskys „Eugen Onegin“ (bei dem sie in einen tänzerischen Disput mit Tatjana, der verliebten Hauptperson, die Yaiza Coll sehr expressiv tanzt, tritt) erscheint ihr die ganze Gesellschaft als durch und durch groteske, schrill verzerrte Meute Mensch, die nolens volens eine einzige Danse Macabre aufführt: abstoßend, bedrohlich und beängstigend für Anna. Auch diese Szene verweist auf ein Kindheits- oder Jugendtrauma Annas, das vor Beginn der Bühnenhandlung gelegen haben muss.

„Anna Karenina“

Marià Huguet tanzt als Serjoscha, Sohn von „Anna Karenina“, zum Andante cantabile aus Tschaikowskys Streichquartett Nr. 1 die Einsamkeit eines Jugendlichen. Foto: Kiran West vom Hamburg Ballett

Will sagen: Anna Laudere Karenina würde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch vor den Zug werfen, wenn sie bei Karenin geblieben wäre. Denn auch dann wäre sie immer unglücklicher geworden.

In ihr läuft ein depressives Krankheitsbild ab, das nur einen Zielpunkt kennt: den Tod.

Sie wirft sich übrigens nicht melodramatisch – wie bei Boris Eifman in dessen Ballett „Anna Karenina“ – zu den Geräuschen einer Dampflok quer über die Bühne, um zu sterben.

Auch das Pathos des Balletts gleichen Namens von Alexei Ratmansky hat sie nicht nötig.

Sondern sie kniet nieder und kippt einfach um, fällt in einen Schacht, während die Spielzeugeisenbahn ihres Sohnes vorn an der Rampe einen Unfall, einen Kurzschluss, vermeldet.

„Personenschaden“ heißt das im Deutsch der Bahn.

Wronski – und das ist der größte Unterschied zu Tolstois Roman – zieht nun nicht lebensmüde an eine aussichtslose Kriegsfront, um sich abknallen zu lassen. Er muss kein Held mehr sein, im Jenseits schon gar nicht.

Er trägt jetzt Schwarz, er kommt herein, er ist traurig und deprimiert, aber gefasst und keinesfalls in suizidaler Absicht. Seine Trauerarbeit, am Grab Annas sitzend (das Grab ist der offene Schacht), läutet eine Art Anti-Finale ein, das so eher untypisch für Ballett ist. Also auch das ist eine Neuerung, eine Novität:

Vorn kniet nämlich Serjoscha, der nun Halbwaise ist, mit seiner Spielzeugbahn, erstarrt. Er ist in seiner weiteren Entwicklung gehemmt und vielleicht der unglücklichste Mensch von allen im Stück.

Schließlich rafft er sich auf, lässt das Spielzeug Spielzeug sein, geht, an seinem ihm stets mit Unverständnis begegnenden Vater vorbei, nach hinten – und versucht, erwachsen zu werden.

Neben ihm aber geht das Leben ohnehin schon weiter. Lewin muss mal wieder eine Sinnkrise bewältigen (vielleicht wechselt er die Religion, vielleicht wird er Tierschützer oder zumindest Vegetarier) – und er hebt, als er eine Lösung zu haben scheint, langsam die Arme.

Dieses Heben der Arme am Ende eines Balletts ist typisch für die letzte Hoffnung, die Choreograf John Neumeier seinem Publikum auf den Weg mitgibt. So auch hier: Sogar Karenin scheint jetzt menschlich und für einen Moment seinem ehrgeizigen Alltag entrissen.

Cinderella - ein Märchen für Menschen.

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Überflüssig zu erwähnen, dass hier wieder Cat Stevens alias Yusuf Islam herhält: „One Day at a Time“ nölt die Stimme vom Band. Und es passt…

Aber wer weiß, ob Wronski am Leben bleiben könnte, wenn Tschaikowsky das letzte Wort hätte. Vielleicht rettet ihm der etwas oberflächliche Pop sozusagen das Leben, indem es ihm das Heldentum erspart.

Tolstoi derweil konnte nicht wissen, zu welch trauriger Beliebtheit es die Selbstmorde via Zug noch mal bringen würden.

Heutzutage gibt es in einer Metropole wie Berlin durchschnittlich mehr als einen Menschen pro Tag, der sich vor die S- oder U-Bahn wirft und somit sein Ableben höchst makaber und auch traumatisierend für seine Mitwelt gestaltet.

Peter I. Tschaikowsky, den Leo Tolstoi persönlich kannte und vor allem als Komponisten sehr schätzte, brachte sich 1893 mit einer absichtlich herbei geführten Cholera-Infektion um…

Die Gründe für Suizide sind sicher vielfältig. Aber Eines eint die Selbstmörder aller Zeiten, aller Orte: Ihnen kam die Lebensfreude abhanden, die Freude, mit anderen Menschen in einer Zivilisation zu leben.

Leidenschaft in Anna Karenina

Hoffnung auf einen Neuanfang? Hier die Schlussszene von „Anna Karenina“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Kann oder muss man die Zivilisation neu erfinden? Ist es Zeit für eine global passende Lebensart, die den alten, überkommenen und sinnlos gewordenen Konventionen endlich den Abschied gibt?

Mit „Anna Karenina“ ist John Neumeier auf jeden Fall ein Meister- und ein Musterballett gelungen: Seht her, so macht man ein zeitgenössisches Handlungsballett, das im 21. Jahrhundert spielt!
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

www.hamburgballett.de

 

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