Menschenmacht und Götterstaub Endlich wieder beim Hamburg Ballett zu sehen: Die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ in der genialen Choreografie von John Neumeier

Die "Dritte" ist ein Weltballett

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im ersten Satz der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Friedrich Nietzsche verpasste der Welt in seiner Vorstellung (frei nach seinem philosophischen Vorgänger Schelling) zwei Pole, benannt nach altgriechischen Götter: Zum Einen das Apollinische – das Lieblich-Geordnete, nach Apoll genannt – und zum Anderen das Dionysische, das Rauschhaft-Wilde, nach Dionysos so genannt. Liebe besteht aus beidem: Aus der sanften, poetischen Lyrik der Herzen ebenso wie aus dem dunklen, machtlüsternen Trieb. John Neumeier kreierte 1975 mit der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ ein Ballett, das sich zwar nicht ausschließlich auf Nietzsche und seine dualistische Weltsicht beziehen lässt. Aber die beiden Aspekte von großmütiger Zartheit und brandgefährlicher Aggressivität bestimmen latent das Widerspiel dieser Bild und Bewegung gewordenen Sinfonie. Deren einzelne Sätze bilden sowohl musikalisch als auch tänzerisch nicht nur eine Einheit, sondern könnten auch jeder für sich stehen. Das Hamburg Ballett beweist jetzt einmal mehr die Aktualität von Neumeiers Fantasien zwischen Kriegsgefahr und Friedenshoffnung, zwischen Liebessehnsucht, peripherer Erfüllung und Vergehen. Zumal die Tänzerinnen und Tänzer – solistisch zum Teil in derselben Besetzung wie 2000 und 2011 – ein Maximum an technischer und darstellerischer Vervollkommung und Reife bieten. Weltweit dürfte dieses Höchstmaß an sinfonischer Tanzkunst unübertrefflich sein.

Allen voran begeistert, fasziniert, berührt, entsetzt, ja erschreckt, beglückt aber auch, beruhigt und euphorisiert dann nachhaltig: Alexandre Riabko in der Hauptpartie. Er ist einfach fantastisch, und es ist schier unglaublich, was er hier leistet!

Er, der diese Saison schon als Neumeiers genialisch durchgeknallt leidender „Nijinsky“ und auch als liebenswert versponnener Drosselmeier im „Nussknacker“ (ebenfalls von Neumeier) ganz zu sich fand, verkörpert jetzt den jungen Mann, der in der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ pausenlos zwei Stunden lang das Leben, die Liebe, das Glück, den Lebenssinn und einen guten Grund zu sterben sucht.

Der Vorhang ist dieses Mal aus tiefblauem Samt, die Musik kommt – was selten ist bei Neumeiers Ballettabenden – vom Tonband.

Man wollte wohl Aufwand sparen und auch Kosten – bei der letzten Wiederaufnahme 2011 spielten unter der Leitung von Markus Lehtinen die Philharmoniker Hamburgs, es sang der Chor der Hamburgischen Staatsoper, und als Kinderchor kamen die Hamburger Alsterspatzen hinzu. Das war gut gemacht, aber nicht brillant.

Jetzt hören wir eine nachgerade von Virtuosität kündende Aufnahme aus dem Wiener Musikverein (das Datum ist leider auf dem Programmzettel vergessen worden, ich trage es hier nach: Die Aufzeichnung ist vom Februar 2001).

Es dirigiert darin der 2016 verstorbene Komponist Pierre Boulez: höchst brillant, dabei nicht pompös ausladend, fast reduzierend und das hier so wichtige Blech nochmals betonend. Die Interpretation wirkt dennoch weniger wuchtig als vielmehr musisch; wenn man dieses starke, vielschichtige, teils von Militärmärschen inspirierte Werk Mahlers überhaupt „pur“ dirigieren kann, dann hat Boulez das somit geschafft.

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Christopher Evans im ersten Satz der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Von 1893 bis 1896 tüftelte Mahler an dieser Sinfonie. Und versprach sich und den Seinen: „Meine Sinfonie wird etwas sein, was die Welt noch nicht gehört hat! Die ganze Natur bekommt darin eine Stimme und erzählt so tief Geheimes, das man vielleicht im Traum ahnt!“

Was Mahler verrätselte, enträtselt John Neumeier: mit konkret fasslichen, dennoch oftmals mehrdeutigen Bildern von Menschen. Diese gehen Beziehungen ein oder wollen sie eingehen. Sie laufen voreinander weg und finden sich dennoch.

Dem Übermut und Hochhinauswollen des Komponisten setzt der Choreograf Demut und Unermüdlichkeit entgegen.

Sie treffen sich im Bestreben, in der Leidenschaft. Die, so Georges Bataille, ein geistiger Nachfahre von Friedrich Nietzsche, ist keineswegs ungefährlich oder harmlos:

„Was die Leidenschaft kennzeichnet, ist die Aura des Todes“, heißt es in Batailles „Der heilige Eros“.

Aber ohne diese Aura wäre sie womöglich noch gefährlicher… dann wäre sie vielleicht der Tod, die Destruktion, die Vernichtung, der Mord selbst.

Bataille zitiert denn auch an anderer Stelle den Marquis de Sade: „Es gibt kein besseres Mittel, sich mit dem Tod vertraut zu machen, als ihn mit der Vorstellung einer Ausschweifung zu verbinden.“

Und Bataille weiter: „Die Erotik ist im Bewusstsein des Menschen das, was das Sein in ihm in Frage stellt.“

In diesem Sinne sind auch die Elemente der Militärkapellenmelodien, die Mahler in seinem Ersten Satz der „Dritten“ häufig auffährt, in erster Linie die Zeugnisse seiner erotischen Erregung. Diese sucht sich die militärisch-kämpferische Komponente nur zum Schein, sie gibt sie vor wie ein Alibi.

Krieg – er wird als Pornografie entlarvt. Als obszön.

Der Beginn schneidet denn auch gleich ins Herz, glatt und gut geschliffen wie ein Skalpell.

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Alexandre Riabko (mittig), Edvin Revazov (hinten) und Carsten Jung (diagonal) im aufwühlenden ersten Satz der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Das Stück beginnt nämlich mit einer Fanfare in d-Moll – und jeder, der sie einmal gehört hat, wird sie wohl nie vergessen können: Den die Welt verkündenden Trompeten folgen Paukenschläge, denen sich das weitere Blech leise anschließt. Das ist hier das Verblüffende: Auf die lauten, heftigen Paukenschläge folgen bald leise, ganz leise Endmoränen an akustischen Zuckungen.

Dieser erste Satz, spannende 33 Minuten lang, gehört im Ballett von Neumeier den Männern. Er ist eine Antwort auf die erotischen Männerballette von Maurice Béjart und auch auf die furios tanzenden Männertruppen im „Spartacus“ des Bolschoi-Titanen Yuri Grigorovich.

Vor allem ist die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ der entscheidende abendfüllende Meilenstein weltweit in der Kategorie abstrakter (sinfonischer) Ballette. 

Vorläufer wie „Das Lied von der Erde“ in der Choreografie von Kenneth MacMillan in Stuttgart – dieses Ballett erlebte John Neumeier 1965 aus Tänzerperspektive mit – sind nicht abendfüllend und kleben zudem noch sehr an konventionellen Handlungsabläufen.

Für Neumeiers „Dritte“ gilt: Kein anderer abendfüllender Tanz zuvor, zumal nicht von dieser Hochkarätigkeit, schaffte es, ohne eindeutige äußere Handlung und ohne Libretto-Personal auszukommen.

Man könnte von der Neuerfindung des sinfonischen Balletts im abendfüllenden Format sprechen. 

Vielleicht war das 1975 weder John Neumeier noch den damals aktiven Kritikern klar. Ich bin meines Wissens nach die Erste, die das so festgestellt hat.

Aber es geht bei John Neumeier auch um nichts Geringeres als um die Suche einer Urgesellschaft nach Werten, die das Überleben lohnen.

Das ist ein brenzliges Thema, bei dem man es sich mit allen verscherzen kann, wenn man will.

Man kann aber auch versöhnend wirken damit – und das ist nachgerade die Spezialität des Künstlers John Neumeier.

Werte. Hier werden nicht einfach die vorhandenden idealtypischen Klischees heruntergebetet.

So wurde dieser erste Satz der „Dritten“ von Gustav Mahler zwar schlicht mit „Gestern“ betitelt und dazu noch mit einem Motto aus William Shakespeares „Macbeth“ versehen: „Und alle unsre Gestern führten Narrn den Pfad des staub’gen Tods.“

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Noch einmal diese denkwürdige Pose, dieses Mal mit Konstantin Tselikov (stehend), im ersten Satz der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“. Foto: Kiran West

Aber dieser Pessimismus wird von schwelendem Tatendrang sowohl in der Musik als auch im Tanz aufgefangen.

Damit ist dieser erste Satz, wiewohl mit den Mitteln der Militärmusik agierend – mit den Marschrhythmen und den Schellen, den Pauken und den Trompeten – eine glanzvolle Absage an den Krieg.

Tänzerisch werden hier Bewegungsmuster kreiert, die sowohl an Auf- und Abmarsch als auch an komplizierte Rituale erinnern. Selbstfindungen, Bemühungen, miteinander zurecht zu kommen, prägen das Bild.

Diese männliche Menschheit hier, sie übt das Miteinander als Truppe.

Wir sehen eine Gruppe von Männern, die, zunächst in Blousons, dann mit nacktem Oberkörper zu weißen Leggings, einerseits eine Art Urhorde darstellt, andererseits eine geordnete, sich in großer Kampfbereitschaft befindende Truppe.

Unser Held, wie oben geschildert bravourös getanzt von Alexandre Riabko, begegnet diesen Männern wie ein Neuankömmling in einer dubiosen, von Patriarchen phänotypisch konstruierten Kriegerwelt.

Mit Carsten Jung, dem unergründlich Göttlichen, findet Riabkos Part ein Pendant, er tanzt mit ihm wie fremd und doch auch freundschaftlich synchron – aber letztlich sucht er weiter, findet bald Neues.

So in Karen Azatyan, der sich hier in seiner sportlichen Energie allerdings sehr zurücknimmt. In Alexandr Trusch, der ganz hervorragend tanzt: sehr anmutig, sehr präzise, sehr an die Musik sich gebend.

In Edvin Revazov, der hier wunderbar und unersetzlich ist, vor allem in Sachen Linie, Musikalität und Sicherheit. Und auch mit Christopher Evans, der in diesem Part hoch interessant ist und noch Potenzial hat.

Teils zu fünft, teils zu sechst demonstrieren diese Männer, wie sie sich gegenseitig rekrutieren, wie sie sich Mut zusprechen, wie auch jeder für sich ein Held sein will. Sie leiden dabei, sie stehen unter Druck, und sie lauschen den Signalen der Musik wie rituell evozierten göttlichen Zeichen.

Was tun in dieser Welt aus Schmach und Endlichkeit? Nicht umsonst nannte Mahler Shakespeares blutrünstigen „Macbeth“ vorab… Die Verunsicherung in der immer enger werdenden Welt ist groß, und sie gebiert: Aggression.

„Meine Träume sind Alpträume“, sagte John Neumeier damals im Kontext seiner Arbeit über den Komponisten Gustav Mahler. Alpträume sind aber wohl nur auf Ballettbühnen von so großer Poesie und Ästhetik.

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Und als Ensemble, in dem mehrere Aktionen gleichzeitig ablaufen: Die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier 2017 beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Immer wieder rüsten sich die Tänzer mit nach vorn gedrehten Passés zum Marsch, halten die Füße in die Flex-Position, ziehen also die Fußsohlen an, zwei Mal klatschen sie sich sogar auf die Oberschenkel, um sich selbst anzufeuern.

Es wird teilweise mit geballten Fäusten getanzt!

Und oft schlagen sich die Tänzer die Fäuste auf die Brust, wie Paviane, denen das Imponiergehabe schon fast Lebenszweck genug ist.

Im Stehen, Gehen, Liegen wird forsch voran getanzt, sich verbogen, wie es beim Militär üblich ist, aber auch Freiheitsdurst und Edelmut brechen sich Bahn.

Da springen die tollkühnen Helden ihre „Vogelsprünge“ und bilden in der Luft mit den gespreizten Beinen synchron V-Figurationen.

Aber auch die Gruppendynamik ist stets wichtig: Im Pulk fühlt man sich sicher, und es ist Alexandre Riabko, der immer wieder ausschert und verloren suchend, zugleich unendlich ergreifend, ins Publikum schaut.

Mal stellt er sich gegen die ganze Truppe, wenn diese sich eng zusammen schart. Da zerbricht er fast an ihr, lässt sich fallen, scheint zu träumen oder dem Tod nur knapp zu entrinnen.

Dieses Ballett ist eine Erschütterung, kein Märchentanz!

Dann wieder türmen sich die Kerle auf, als wollten sie die Welt zum Guten bekehren.

Einer an ihrer Spitze scheint jeweils der Gewinner. Aber die Siegeslust ist nur von kurzer Dauer.

Die Ungewissheit geht weiter, und wären die unerbittlich drängenden Marschrhythmen nicht – wohin würde sie wohl führen?

So aber geben sich die Menschen anhand der Musik gegenseitig Halt.

Das Herren-Corps ist mit Jacopo Bellussi, Leeroy Boone, Daniel Brasil, Filip Clefos, Nicolas Gläsmann, Marià Huguet, Marc Jubete, Aljoscha Lenz, Marcelino Libao, Aleix Martínez, Matias Oberlin, Pietro Pelleri, Florian Pohl, David Rodriguez, Mathieu Rouaux, Pascal Schmidt, Thomas Stuhrmann, Konstantin Tselikov, Lizhong Wang und Ilia Zakrevskyi im Vergleich zur letzten Saison stark verjüngt und entsprechend vor Kraft und Schnelligkeit strotzend. Kaum zu fassen, wie agil und selbstbewusst sie wirken, wiewohl doch andererseits die Musik sie auch fast zu erdrücken scheint.

Männer-Soli, Kleingruppen, Ensemble-Formationen: alles geht im Zeichen des Seins und Nichtseins mit der Natur von statten, der inneren – eigenen – wie der äußeren, der Umwelt.

Mitunter scheinen Tänzer, sich synchron am Boden verrenkend und einzelne Gliedmaßen wie Fremdkörper hochschießen lassend, so sehr im Ringen mit unsichtbaren Mächten, die vor allem aus ihnen selbst entspringen, dass sie wie aus einem Science-Fiction wirken.

Sieht der neue Mensch so aus?

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Blick ins aktuelle Programmheft, welches Fotos von 2011 enthält, die von Holger Badekow, dem langjährigen früheren Fotografen des Hamburg Ballett, gemacht wurden. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Es ist John Neumeiers Genius, welches solche Grenzgänge, Ritualzwänge und Ambivalenzen sichtbar machen kann. Und zwar ohne dabei in Langatmigkeit oder gar in Unentschiedenheit abzugleiten.

Neumeiers Männer müssen hier das Leben so tanzen, wie es ist: vor Lust triumphierend schön, aber auch erschreckend grausam.

Die Männer springen, nein: fliegen, wie Riesenvögel: mit Flügel-ähnlich abgespreizten und gestreckten Armen.

Dann wieder mit kraftvollen Engelsschwingen, zu denen sie ihre Arme strecken. Es ist verblüffend, wie viele verschiedene Nuancen Armpositionen haben können, obwohl sie doch auf den ersten Blick so gleich und so ähnlich aussehen.

Die Männer sind hier Helden und Anti-Helden zugleich.

Ihre nackten Oberkörper zeigen schweißglänzend die Anspannung der Muskeln, und die heftige Atmung während der Kunstausübung wirkt manchmal selbst wie ein künstlerischer Akt.

Vor allem, wenn Alexandre Riabko vorn zentral an der Rampe steht und sich in angespannter Pose mit erhobenen Armen von den Strapazen der Sprünge kurz erholen darf, arbeitet die Bauchdecke wie ein eigener Organismus.

Der Körper macht Mitteilung – über die Vergangenheit, auch über die Gegenwart und die Zukunft. Denn die Anspannung im Körper weist den Weg: dort entlang, niemals aufgeben, weiter machen!

Doch wozu? Natürlich ist es die Liebe, die hier fehlt, in dieser reinen Manneswelt aus Kraft und Testosteron. Und wenn ein Tänzer im Verlauf des Abends die Arme kreuzt, um sich selbst in den Nacken zu fassen, dann ist das eine deutliche Anspielung auf die ewige Einsamkeit des denkenden und fühlenden Individuums.

Der Mensch – ist er auch nur ein Tier?

Das Dionysische ist animalisch, keine Frage, so auch hier im ersten Satz der „Dritten Sinfonie“.

Dionysos ist der Gott der Ekstase, der Trunkenheit, der ausgelassenen, enthemmten Freude, der entfesselten Triebe, der Orgien gleichermaßen. Das Animalische im Menschen ist tierischer als jedes Tier. Es ist die Finsternis.

Aber auch das Apollinische entstammt der Natur, der Tier- und Pflanzenwelt. Apoll ist ja nicht nur der Gott der Künste und der Musen. Er hat auch eine sehr sanfte natürliche Seite, denn er ist der Gott des Lichts und des Frühlings. Das Apollinische ist die hellste Freude!

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

So sieht das aktuelle Programmheft der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ mit Cover aus. Es lohnt sich, es aufzuschlagen und darin zu lesen und zu schauen! Faksimile: Gisela Sonnenburg

Und unter allen Tieren sind die Menschen, ob sie es nun noch wissen wollen oder nicht, letztlich nur ein Teil (vielleicht nicht nur der großartigste, sondern auch der destruktivste).

Wenn diese Spezies Mensch nicht endlich damit aufhört, sich über alle Maße fortzupflanzen und alles andere dafür zu zerstören, werden die Idioten siegen. Keine Frage.

Auch das macht dieses Ballett einem klar.

Es stammt ja von 1975, und damals gab es bereits die ersten Überbevölkerungsprognosen. Aber bis heute weigern sich diejenigen, die an daran verdienen, dass Menschen Menschen im Überfluss und ohne Chance auf eine gute Zukunft produzieren, das zu ändern. Die Wirtschaft, die Industrie, die Politik, die Religionen: Sie alle reden der Menschheit ein, es müsse immer noch mehr Menschheit her.

Weil noch mehr billige Arbeitskräfte und noch mehr Konsummärkte her sollen. Noch mehr Windeln und noch mehr Särge sollen verkauft werden. Noch mehr Parfums, Autos, Lebensmittel. Noch mehr Parteien wollen gewählt werden.

Die Äcker werden ausgelaugt, die Wälder gerodet. Die Meere? Vermüllt. Die Atmosphäre? Versaut.

Die Städte wuchern, verdrecken, verkommen – und nur die Reichen können es sich noch leisten, das zu übersehen.

Der Umgang der Menschen miteinander wird wieder roh, vor allem in den Familien, in denen nur noch die Stärksten zu ihren Rechten kommen.

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Und so sah das Cover vom Programmheft beim Hamburg Ballett 1982 aus: weniger puristisch, aber auch schön. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Wir haben gute Gesetze. Aber faktisch regiert viel zu oft das Faustrecht.

Das schwemmt die Terroristen und die Donald Trumps nach oben. Die AfD und gleichermaßen die Mafia.

Und die Oberschicht? Wird hungrig, gierig auf noch mehr. Noch mehr Geld, Profit, Zuwachs. Ohne Kriege ist das irgendwann nicht mehr möglich.

Dichtestress“ – so nennen Biologen die Kriegsgefahr bei Tieren, die nachweislich auch Menschen befällt, wenn ihre natürliche Aura nicht mehr genügend Raum hat.

Tiere ändern dann ihre Hormonpegel, sie bekommen dann weniger Junge und passen auf, dass sie sich nicht die letzten Grundlagen ihrer Nahrung so lange gegenseitig streitig machen, bis nichts mehr nachwachsen kann.

Menschen haben an die Stelle dieses natürlichen Regulativs anscheinend die Gier nach Expansion gesetzt.

Darin sind Arm und Reich sich dann einig: Hauptsache, es wird viel geboren. Noch mehr Menschen werden dann gemeinschaftlich noch mehr Dreck machen – und das Kriegsgeschrei wird unvermeidlich werden.

Weil der Druck so steigt, wenn die guten Arbeitsplätze knapp sind, wenn das gesunde Essen so viel teurer ist als das süßlich vergiftete Industriezeugs – und wenn menschlich zu nennender Wohnraum nur noch mit guten Beziehungen erhältlich ist.

Auch vor dieser Welt warnt die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, sowohl die Musik – die schon vor dem Ersten Weltkrieg ahnend warnte – als auch der Tanz, der unbewusst alle Stränge der Menschheitsprobleme aufnimmt.

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Die „flliegenden“ Männer aus dem ersten Satz der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“, choreografiert von John Neumeier. Ein sehr beliebtes Fotomotiv von 2011 von Holger Badekow

Insofern ist die „Dritte“ ein existenzialistisches Ballett.

Das Bühnenbild besteht denn auch nur aus Licht (das vom Choreografen John Neumeier selbst stammt).

Oder auch: Die durchtrainierten Körpern einer Urgesellschaft bilden selbst zugleich auch das Bühnenbild.

Wenn sie für einige Sekunden still stehen, dann sind sie Skulpturen von Menschen, die mal gelebt haben. Mahnmale. Die dann wieder zum Leben erwachen und weiter suchen…

Was sie suchen? Vielleicht die Moderne.

Vielleicht den Götterstaub des Nichts.

Vielleicht nur irgendeinen Ausweg aus der Endlosschleife, in die sie hinein geboren wurden.

Nach 23 Minuten (in der Aufzeichnung mit Boulez aus dem Wiener Musikverein) wiederholt sich die Fanfare vom Anfang.

Dieses Mal mündet sie aber in ein deutlich ruhigeres Fahrwasser als zu Sinfoniebeginn, sie kommt gar zum Stillstand.

Stille herrscht, für zwei Takte.

Zwei Choreografen - ein Abend.

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Dann erhebt sich ein erneut triumphierendes Trompetengeschrei – und es wirkt doch zugleich kläglich. Die Kämpfer sind müde.

Das Blech mäandert in den tiefen Sphären wie gebrochen vor sich hin.

Bis sich erneut ein Melodiestrang erhebt und von marschierenden Rhythmen Nahrung erhält.

Diese fünf Minuten sind vielleicht die spannendsten, weil zartesten im ersten Satz.

Sie sind dem Tode nahe. Um erneut aufzutrumpfen. Denn bald ist das Orchester wieder erstarkt und fährt auf, was es hat: im Gesamtklangbild zwar zarter als zuvor, aber mit mächtiger rhythmischer Kraft.

Die Menschenmacht ist da, um so Vieles zu bewirken und zu bewerkstelligen!

Das spiegelt sich auch in den Tänzen auf der Bühne, die nun erneut anziehen.

Bis zum Ende dieses Satzes drei Minuten später: ein letzter fröhlicher Abmarsch ist das!

Auf der Bühne aber bleiben Körper liegen. Es sind drei Tänzer.

Man weiß nicht, ob sie tot sind. Man muss es sich denken, ob sie überleben oder nicht. Man muss es selbst für sich entscheiden.

Das war schon immer so, 1975, als das Stück uraufgeführt wurde, 1982, als ich eine besonders exzellente Vorstellung mit Live-Orchester in der Hamburgischen Staatsoper sah (mit Francois Klaus in der Hauptrolle), bei all den Vorstellungen in Hamburg (sowohl in der Hamburgischen Staatsoper als auch im Operettenhaus in Hamburg, als zeitweiliger Zweitspielstätte) – sowie natürlich auf etlichen Gastspielen. Und natürlich Einstudierungen bei anderen Compagnien: 2013 etwa beim Ballett der Pariser Opéra und 2015 beim Boston Ballet in den USA.

Aber auch zur Millenniumswende im Jahr 2000, als das Stück nach sieben Jahren Abwesenheit endlich wieder auf dem Hamburger Spielplan stand, und auch 2011, als im November die vorletzte Wiederaufnahme war.

Auch damals tanzte Alexandre Riabko den Hauptpart, und seine Frau Silvia Azzoni tanzte den „Engel“, den fünften Satz, der einst von Zhandra Rodriguez kreiert worden war.

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Historisch: Max Midinet in der „Trummitte“ im Programmheft zur „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ von 1982. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Ach, die Urbesetzung der „Dritten“! Viele werden sich noch an den bereits verstorbenen Max Midinet erinnern, der im ersten Satz der Sinfonie einen faszinierend-psychedelischen „General“ abgab.

Mir scheint, die Choreografie hat sich gerade hier deutlich geändert – Weiterentwicklungen gibt es bei Neumeier-Balletten ja häufig.

Aber Midinet mit seinen dürren Beinen und seiner hageren, biegsamen Gestalt war ein Charakterdarsteller par excellance. Kein Schönling und kein besonders begabter Techniker. Aber er hatte eine Bühnenpräsenz wie sonst kaum ein Ballerino.

Um diese wurden er und John Neumeier sogar von Boy Gobert, damals ein illustrer Sprechtheaterintendant, beneidet.

Midinet hatte einen ganz bestimmten Sprung im ersten Satz, der ihn in einer Attitude über einen Wall, bestehend aus liegenden Tänzern, führte. In meiner Erinnerung war diese Szene besonders prägnant für den Part des „Generals“, wobei die Bezeichnung „General“ von mir stammt.

Zuletzt sah ich Kiran West, den heutigen Fotografen vom Hamburg Ballett, mit diesem Sprung – das war 2011. Aktuell tanzt Karen Azatyan diesen Part.

Und, so scheint es mir, da wurde das Werk hier und da verändert oder die Interpreten verändern es durch ihren Tanz: Das Gewicht der gesamten „Handlung“ im ersten Satz verlagerte sich auf die Gruppe, vor allem auf den Gruppenkern, also die sechst Solisten.

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Alexandre Riabko (vorn), Orkan Dann (links) und Florian Pohl (rechts) im Werbetrailer des Hamburg Ballett für die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, in Aufnahmen von 2011. Videostill: Gisela Sonnenburg

Damit gibt es in der aktuellen Version nicht mehr den einen Verführer zum Krieg, wie Midinet ihn noch darstellte, sondern es gibt statt dessen gruppendynamische Prozesse, demokratische Prozesse, wenn man so will, die zu kriegerischen Handlungen führen oder auch nicht.

Das wäre in der Tat eine Neuerung und eine gut passende Angleichung an die globalisierten politischen Verhältnisse.

Ich bitte um Schonung, falls hier was falsch gesehen oder interpretiert wurde – ich werde in der kommenden Woche erneut über dieses Stück berichten, nach einer zweiten Ansicht, und dann werde ich mich dieser Frage „Sprung oder nicht Sprung eines Generals“ erneut widmen können.

Jetzt zurück zum weiteren Verlauf des Stücks.

Im zweiten Satz ist alles anders. Man könnte zunächst meinen, es handle sich um ein ganz anderes Ballett, das gilt auch musikalisch.

Sommer“ nannte Mahler diesen Teil der Sinfonie, die im übrigen ursprünglich „Ein Sommermorgentraum“ im Untertitel hieß.

Und hier kommt, endlich, die Liebe ins Spiel! Und wie!

Der ganze Satz ist harmonisch und apollinisch durch und durch, wir haben es mit fließenden, geschmeidigen, smarten Bewegungen und Posen zu tun, mit sanften Hebungen und vielen liebevollen Blicken.

Carolina Agüero und Christopher Evans, Leslie Heylmann und Alexandr Trusch bilden hier die beneidenswert glücklichen, uns durch ihren eleganten Tanz mit sich geistig erhebenden Paare, die sich „Held“ Alexandre Riabko teils staunend, teils mit Befremden, anschaut.

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Hier tanzt der „Sommer“ in der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ beim Hamburg Ballett. Vorn das bezaubernde Paar Christopher Evans und Carolina Agüero. Foto: Kiran West

Das graziöse Damen-Corps, bestehend aus Kristina Borbélyová , Sara Coffield, Naka Hiraki (so eine Begabung!), Greta Jörgens, Hayley Page (wundervoll!), Yun-Su Park, Maria Tolstunova, Priscilla Tselikova und Miljana Vracaric, bildet ein harmonisches, die Erwartungshaltung schürendes wandelndes Umfeld.

Riabko, für den es ein exotisches Umfeld ist, legt sich gar hin – die Erschöpfung glaubt man ihm nach dem ersten Satz – und er erlebt das Bühnengeschehen als Träumer.

Ist es gar alles nur ein Traum, sein Traum?

Da war ein Mädchen, dem er begegnete, das er dann aus den Augen verlor…

… und nach einigen kanonischen, fein ziselierten Paartänzen erwacht unser „Held“ und erblickt erneut dieses Mädchen, dem er flugs nachgeht…

Und schon beginnt der dritte Satz.

Es ist der „Herbst“, wie Mahler ihn auch nannte. Anna Laudere und Edvin Revazov sind hier das elegante Paar in silbrigem Hellblau, und sie tanzen die stille, unaufgeregte Liebe dieses Adagios so herzzerreißend schön, dass man diesen Pas de deux zu gern nochmals und nochmals sehen möchte.

Schwelgerisch auch die Musik – und mit dem Paar Lucia Ríos und Florian Pohl sowie mit Aleix Martínez im Gruppenkern ergeben sich zusätzliche Highlights.

„Held“ Riabko kommt derweil nicht weiter als bis zur stummen Anschauung. Da steht er, knapp einen halben Meter in Distanz zu einem Mädchen, sie stehen still und schauen sich an, rechts vorn an der Rampe. Dann sitzen sie, spiegelbildlich zueinander je ein Bein übers andere gelegt, ihre Fußspitzen berühren sich dabei. Sie schauen einander in die Augen – aber mehr geschieht nicht.

Dieser Mann, dieses Mädchen, sie freunden sich nur langsam mit der Idee an, dass man ja auch als Paar durchs Leben gehen könne. Allzu langsam…

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Noch ein Blick ins aktuelle Programmheft mit Fotos von Holger Badekow aus dem Jahr 2011: Die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, choreografiert von John Neumeier, ist ein zeitlos gültiges „Werk eines Genies“, wie schon der US-Kritiker Clive Barnes im letzten Jahrhundert feststellte. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Und die Hauptfigur, Riabko in seinen fleischfarbenen Leggings, wirkt zudem immer noch wie ein Fremdling, der sich, wie Friedrich Schiller es einst formulierte, zu Menschen nur verirrt hat. Ein Außerirdischer, seiner Gefühlswelt nach?

Oder einer, der sich für das Wesentliche nicht entscheiden kann?

Das Kostüm kennzeichnet ihn zumindest als den großen Außenseiter.

Es gehört zum Duktus dieses Balletts, dass es möglichst pur ist, und also auch die Kostüme fast ausschließlich aus Trikots bestehen.

Rotbraun sind hier die Kontrastfarben des Corps zum Hauptpaar in Silberblau und zu Riabko in Hautfarben. Er ist der Schutzloseste hier, darum ist er so karg gekleidet.

Aber es sind stylische Leotards, von John Neumeier für dieses Stück mit sehr viel Geschmack kreiert.

Das Ensemble trägt einen derweil sanft durch den Herbst dieser Sinfonie, der auch einer des Lebens sein könnte.

Da gehen die Hände manchmal in Flex-Position, sodass sich die Handflächen kräftig aufstellen – als wollten die Tänzer damit Unheil abwehren.

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Sie tanzen fulminant den „Herbst“ in der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ beim Hamburg Ballett: Anna Laudere und Edvin Revazov. Ein Extra-Bravo! Foto: Kiran West

Am Ende aber legt Revazov seine Partnerin hin – und Alexandre Riabko, der hier weiterhin den staunenden Zaungast spielte, hebt sie auf. Sie schläft tief, sodass man sie fast für tot halten könnte.

Die anderen scheinen das nicht zu bemerken. Sie leben ihr Leben, tanzen ihre Liebesgeschichten unbeeinflusst weiter…

Musikalisch zitiert das Ende des zweiten Satzes den ersten: mit einem ganz kurzen, fröhlich wirkenden Tusch. Er wirkt, vor der Folie der Geschehnisse mit der schönen Anna Laudere, indes wie Hohn.

Der folgende Satz ist denn auch der tiefsinnigste. „Nacht“ nennt Mahler diesen vierten Satz, und er ist die Urzelle des ganzen Balletts. Denn John Neumeier kreierte ihn bereits im Juli 1974, und zwar zur Erinnerung an den damals seit einem Jahr verstorbenen Choreografen John Cranko.

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Sie tanzten diese Partien auch schon 2011, ebenfalls mit jenem Schmelz, den man nur bei Neumeier-Tänzern findet: Anna Laudere und Edvin Revazov in der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“. Foto hier: Holger Badekow

Diese „Nacht“ ist ein Pas de trois, bestehend aus dem „Helden“ Alexandre Riabko, Carsten Jung (der schon im ersten Satz sein Alter ego tanzte) und die jetzt neu hinzu kommende Hélène Bouchet.

Bouchet tanzte diesen Satz auch schon 2011 – aber um wieviel schöner, geschmeidiger, sinnvoller, erotischer tanzt sie ihn heute!

Sie beginnt das Stück mit einem Solo zur Stille, die Neumeier der Musik voran gesetzt hat.

Ein großer Sprung, eine Handbewegung – diese Frau ist auch auf der Suche, wie die Männer im ersten Satz, aber mit einem ganz anderen Temperament, einer ganz anderen Feinfühligkeit.

Carsten Jung antwortet ihr indirekt mit einigen Schritten, dann kommt Alexandre Riabko hinzu. Jung will gehen, aber Riabko stellt sich ihm in den Weg, lässt den anderen nicht ausweichen. Schau mir in die Augen!

Jung bleibt. Und vollführt einen seitlichen Ausfallschritt, ein tiefes Plié – und Bouchet schlägt sich, weiter hinten stehend, die Hände vors Gesicht.

Scham, Schuldbewusstsein und Schönheit verbinden sich hier.

Es muss eben jeder selbst entscheiden, welchen Weg er gehen will: den der Liebe oder den des Krieges.

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Zwei Männer, eine Frau: Hélène Bouchet, eine Primaballerina comme il faut, getragen im vierten Satz der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ beim Hamburg Ballett von Carsten Jung und Edvin Revazov. Foto: Kiran West

Als die Musik beginnt, es ist ein Gesang, geht der Tanz organisch weiter, als seien die Klänge schon immer da gewesen.

Hélène beugt sich vor, jede ihrer Bewegungen hat hier Bedeutung – „Oh Mensch, gib Acht“, singt die gediegene Altstimme von Anne Sophie von Otter dazu.

Der Text entstammt der philosophischen Erzählung „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche. Er endet mit den berühmten Worten. „Doch alle Lust will Ewigkeit! / Will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

Wir erinnern uns: das Apollinische und das Dionysische bilden bei Nietzsche die Pole der Welt.

Die „Lust“, mehr im Dionysischen als im Apollinischen angesiedelt, widerspricht hier im Text dem „Herzeleid“, also dem Weltschmerz oder dem Liebeskummer. Dieses ließ einen Menschen um Mitternacht erwachen und sein Leid erkennen.

Marcia Haydée, Egon Madsen und Richard Cragun kreierten dieses Stück Brillanztanz mit John Neumeier 1974 in Stuttgart.

Seither haben Generationen von Elitetänzern das „Kernballett“ eines großen Abends aufgeführt.

Aber die Intensität, die Bouchet, Riabko und Jung derzeit erreichen, ist von ganz besonderer Güte.

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Ein Blick ins Programmheft offenbart die Besetzung 2011 auf den Fotos von Holger Badekow: Alexandre Riabko, Hélène Bouchet und Thiago Bordin tanzten das Kernstück der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“, das John Neumeier zuerst choreografierte. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Sie tanzen in einer Reihe, zu dritt, die Frau in der Mitte, als würden sie eine Familie bilden. Oder eine Clique, einen Clan. Eine Urzelle der friedlichen Coexistenz.

Dabei sind sie alle drei Liebende und Verschmähte zugleich. Ihre Stimmung ist somnambul. Sie trösten einander.

Die Frau lässt sich hin- und herbewegen, von den beiden Männern. Sie liegt auf deren Schenkeln, sie sind über Berührungen miteinander verkeilt.

Am Ende stehen sie in einer Reihe, rutschen nah zusammen, ganz nach, Riabko vorne, dann kommt die Frau, dann der sie schützende Jung. Ihre rechten Arme sind erhoben, die leicht gebogenen Hände sind zusammen gefasst, bilden Schüsseln.

Sie warten. Sie wissen nicht genau, worauf. Sie warten auf den Tod, denn das Leben an sich ist bereits eine Verurteilung zum Tode, wie die Schriftstellerin Oriana Fallaci mal scharfsinnig feststellte.

In Nietzsches Hauptwerk, der groß angelegten Erzählung „Also sprach Zarathustra“, gibt es einen Seiltänzer, der durch einen ehrgeizigen Konkurrenten zum Absturz gebracht wird. Er schlägt neben Zarathustra auf. Dem Tode nahe, lässt sich der Akrobat von dem Philosophen noch rasch darüber belehren, dass es keine Hölle gibt – und er angstfrei sterben kann. Ein dressiertes Tier sei er zudem keineswegs gewesen, beschwichtigt Zarathustra den Sterbenden: „Du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht, daran ist nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zu Grunde: dafür will ich dich mit meinen Händen begraben.“

Der nächste Satz, der fünfte, ist denn auch bereits ein Gruß aus dem Jenseits. Wohlgemerkt: aus dem Himmel. „Engel“, heißt er, und sein musikalischer Schöpfer Mahler war vom Judentum zur Katholischen Kirche konvertiert. Die katholische Mythologie interessierte ihn – selbiges kann man vom bekennenden Katholiken John Neumeier sagen.

Dieser Satz ist von außerordentlich kurzer Dauer. Es handelt sich nur um wenige Minuten, die eine Aufmunterung und zugleich geheimnisvolle Erquickung darstellen.

„Held“ Alexandre Riabko begegnet hier einer fröhlich und glückselig umher springenden zierlichen Person.

Aber sie entgleitet ihm wieder, kindhaft, und ihr Solo endet mit fröhlichen Hüpfern auf einem Spitzenschuhbein, während die Tänzerin das andere Bein gebeugt und den Fuß unterm Podex in der Hand hält – schelmisch und zugleich unnahbar mutet das an. Zhandra Rodriguez, Lynne Charles, Isabelle Ciaravola – und Silvia Azzoni sind prominente Besetzungen dieses „Engels“.

Zwei Choreografen - ein Abend.

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Das Kindhafte ist wichtig an diesem Engelchen hier. So wurde die „Engel“-Tänzerin Silvia Azzoni von Neumeier im Jahr 2000 gefragt, ob sie bereit sei, ihre Haare für die Rolle kürzen zu lassen. Es ging nicht ums Spitzenschneiden. Langes Wallehaar wurde auf einen Raspelhaarschnitt reduziert. Silvia, die die Rolle von Einstudierung zu Einstudierung schöner tanzt, liebte ihre Verwandlung.

Seit 2011, seit sie mit dieser Rolle nach der Geburt ihrer Tochter auf die Bühne zurück kam, tanzt sie den „Engel“ mit einer Flechtfrisur, was ein wenig alpenländisch anmutet, passend zum Österreicher Mahler.

Die Musik dieses Mini-Satzes ist denn auch bemerkenswert: Mahler lässt einen Kinderchor Verse aus „Des Knaben Wunderhorn“, einer romantischen Volksliedsammlung, die Achim von Arnim und Clemens Brentano im 19. Jahrhundert publizierten, singen.

„Bimm bamm, bimm bamm“, singen die Kinder im Kanon, dann folgen die Verse: „Es sungen drei Engel einen süßen Gesang…“ Sie erzählen in putzig-munterer Manier – sehr kindgerecht – die Erzählung vom Jünger Petrus, dem Jesus höchstpersönlich seine Sünden verzieh. Damit es abgehe in die – Seligkeit!

„Held“ Riabko kann da wieder nur staunen… aber dafür hat er jetzt eine Ahnung von dem, was Glück wirklich sein könnte.

Der letzte Satz, der sechste, heißt „Was mir die Liebe erzählt“.

Und er ist das, was man sich landläufig unter einem großen Finalsatz einer Sinfonie gern vorstellt. Er hat nämlich eine grandiose Steigerung zu bieten, mit einem langsam vorgetragenen, an Melodiebögen und Kontrapunkten reichen Innenleben.

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Noch einmal der Pas de trois, der der Choreografie des ganzen Balletts vorweg ging: Schlusspose vom vierten Satz der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Da versammeln sich musikalische Kräfte, um die Liebe zu feiern, manchmal festlich mit Pauken und Trompeten, manchmal lieblich mit den Streichern.

Zu Beginn ertönt eine fast fromme Melodie, und „Engel“ Silvia Azzoni tanzt ein filigranes Solo, im Adagio-Stil, bis sie zu dem vorn links liegenden „Helden“ Alexandre Riabko vordringt. Sie kniet elegant nieder – und

weckt ihn, indem ihr Zeigefinger den seinigen berührt.

Damit verführt sie ihn zu einem liebevoll-anmutigen Pas de deux.

Er hat also zuerst von ihr geträumt, von seiner großen Liebe, bis sie – erwachsen und gereift, längst nicht mehr so kindlich wie im „Engel“-Solo – leibhaftig vor ihm steht.

Ihr Paartanz besteht denn auch aus dem Ausdruck der verwandten Seelen.

Beide tanzen als Mann und Frau, aber auch synchron, und einmal hebt er sie senkrecht über Kopf in die Höhe, sodass sie sozusgen zusammen doppelt so groß sind wie ein Mensch, ein an beiden Enden gehfähiges Wesen.

Sie verdoppeln ihre Kraft symbolisch durch ihre Liebe!

Sie enden, als sie unter ihm liegt und er über ihr beschützend mit seinem Körper ein Dach bildet.

Die Apotheose gehört den Paaren: Alle Tänzerinnen und Tänzer des Stücks versammeln sich auf der Bühne, in Bordeauxrot gewandet, und die Damen liegen auf den Nacken und Rücken der Herren. Ihre Arme kreuzen sich in der Luft mit denen der Männer.

Stehende Bollwerke der Liebe!

„Held“ Alexandre Riabko tanzt diesen Satz auch hier mit seinem „Engel“ Silvia Azzoni: mit einer großen Anziehungskraft und nachgerade magischer Verbindung zwischen den beiden.

Er hat ja auch fast zwei Stunden sprich ein ganzes Bühnenabendleben lang nach seiner großen Liebe gesucht! Chercher la femme im Sinfonie-Format.

Aber viel Zeit hat er jetzt nicht mehr, um das Leben zu gestalten und zu genießen.

Ein Mann stemmt sich gegen eine Gruppe: Alexandre Riabko und das Ensemble vom Hamburg Ballett im Einsatz vom ersten Satz der "Dritten Sinfonie von Gustav Mahler" in der Choreografie von John Neumeier. Foto: Kiran West

Einmal noch die Liebe ganz groß schreiben im Leben: Silvia Azzoni im Arm von Alexandre Riabko in der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ im Schlusssatz. Foto: Kiran West

Ganz am Ende verflüchtigen sich die Paare. Die Musik schraubt sich immer höher, wird immer lyrischer…

Riabko geht ruhig und vergeistigt auf der leeren Bühne nach hinten, steht dann allein am orange werdenden Horizont.

Vorn schreitet der Engel aus einer Tür auf die Bühne, von rechts nach links, zu den Paukenschlägen, die das „Bimm bamm“ aus dem fünften Satz in dunkler Manier wiederholen.

Bumm, bumm, bumm, bumm. Jeder akustische Schlag ist ein gefühlter Schritt ihres Défilées. Aber der Engel ist für unseren Helden unerreichbar geworden.

Riabko biegt sich, beugt sich, streckt die Arme nach seiner Lebensliebe aus.

Zu spät. Sie sieht ihn nicht, sie muss ihren Weg gehen. Sie kann ihn nicht mehr retten. Mehr noch: Sie hat ihn schon gerettet.

Er wusste dank ihr, was Glück ist.

Aber das Dionysische scheiterte am Apollinischen. Und das Apollinische mied Dionysos. Die Synthese scheint hier unmöglich, nur der Tod weist noch in die Zukunft. Götterstaub liegt in der Luft.

In anderer Interpretation würde das Wandeln zum Horizont nicht das Sterben, sondern nur das Weitergehen zum nächsten Abenteuer bedeuten. Darin wäre im Leben unseres Helden für die große Liebe kein Platz mehr. Oder sie wäre für ihn nicht mehr notwendig. Lockt ihn am Ende ein anderes Lebens- und Liebesmodell von der Engelsliebe fort?

Ist da eine Beziehung einfach zuende, bevor sie richtig begann?

Es handelt sich in jedem Fall um ein Stück für alle, die das Glück suchen.

Oder, um es mit Friedrich Nietzsche zu sagen: „Denn ich liebe dich, o Ewigkeit!“
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

Hier bitte noch mehr über „Dritte Sinfonie“:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-217-werkstatt-dritte-lied/

www.hamburgballett.de

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