Glanz und Elend des Alters „Duse“, die neuen „choreografischen Phantasien“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett, sind ein verkapptes Selbstportrait des Starchoreografen

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

Alexandr Trusch und Alessandra Ferri in „Duse“, der neuen abendfüllenden Kreation von John Neumeier: ein Experiment mit ungewissem Ausgang – und zugleich ein Werk voll geistreicher Anspielungen. Foto: Holger Badekow

Alt zu werden – ist gewiss nicht einfach. Jeden Tag trauert man beim morgendlichen Blick in den Spiegel um die verlorene Jugend. Das Ritual mag mal länger, mal weniger lang dauern, aber es wird von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr existenzieller. Alessandra Ferri, die 52-jährige italienische Meistertänzerin, ist da sicher keine Ausnahme. Aber anders als die meisten Prominenten und Reichen (nebst denen, die gern dazu gehören wollen), stellt Ferri ihr Gesicht anscheinend ohne die heute in diesen Kreisen üblichen Maßnahmen – wie Facelifting, Ultherapie, Botoxinjektionen – zur Schau. Damit provoziert sie, und das weiß sie auch. Demonstrativ lässt sie ihre mehrfach gefalteten Augenlider eben alt aussehen, und sie runzelt auch die Stirn offenbar ganz gern: zu einem imposant-wirbelartigen Faltenwurf. John Neumeier, Chefchoreograf vom Hamburg Ballett, gibt ihr jetzt in „Duse“ die Gelegenheit, mit dieser scheinbaren Authentizität und „Natürlichkeit“ als Verkörperung der Schauspiellegende Eleonora Duse die Probleme des Alterns auf die Bühne zu bringen – und sie solchermaßen, stellvertretend für uns alle, zu verarbeiten.

Dabei ist der Abend nicht einfach nur ein Ballett, sondern sozusagen zwei Ballette. Unterschiedlicher könnten diese beiden Teile zudem kaum sein, auch wenn sie gemeinsam im Untertitel „Choreografische Phantasien über Eleonora Duse“ heißen. Der erste Teil ist eine Szenencollage mit vielen Handlungsballett-Anmutungen, bestehend aus getanzten Träumen und Erinnerungen – also eine Art Innere-Handlungs-Ballett. Er schildert die Qualen und Sehnsüchte der alternden Diva Eleonora Duse (1858 – 1924), die nicht nur als die größte italienische Schauspielerin ihrer Zeit galt, sondern die – in Zeiten des Stummfilms war man dem Theater gegenüber viel weniger sprachfixiert als heute – international und sogar in Lateinamerika gastierte, und die als „Superstarikone“, ja als Sinnbild der Schauspielkunst schlechthin gefeiert wurde. Bis heute hält ihr diesbezüglicher Ruhm an. Was aber steckte hinter der Fassade?

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

Was steckt hinter der Fassade des Star-Daseins? Genau: Einsamkeit… Alessandra Ferri in ihrer neuen Glanzrolle – der „Duse“ beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Auf diese Frage gibt John Neumeier eine ganz klare Antwort: Die Duse wird als versponnene, mehr oder weniger einsame Frau gezeigt, die trotz ihres Erfolgs und ihrer vielfältigen sozialen Möglichkeiten mit ihrem Schicksal hadert. Das Leben als ständiger Kampf gegen die Depression. Das ist nicht unrealistisch und auch nicht verlogen. Wer behauptet, er altere heiter, lügt entweder oder ist zu dumm, die Zeichen seines eigenen langsamen Verfalls selbst zu diagnostizieren.

Altern hat, das sieht Neumeier richtig, prinzipiell die Nebenbedeutung biologischer Gewalttätigkeit – und selbstverständlich ist das frustrierend, deprimierend, traurig. Es ist ein Elend, keine Frage. Und es ist keine Schande, darauf immer wieder herumzureiten. Von Ignoranz wird nämlich nichts besser – und kein Problem gelöst.

Hinzu kommt die Nähe zum Tod, denn das Alter belässt es nicht bei einem auch nur irgendwie begrenzten Verlust von Kraft und Schönheit. Schließlich ist jeder gelebte Tag einer weniger – oder, wie die (italienische) Journalistin Oriana Fallaci es sagte: „Im Grunde sind wir alle zum Tode Verurteilte.“

Zeit an sich wird im Alter zur Bedrohung, denn sie vergeht, unwiderruflich, und nimmt mit sich alle schönen und auch alle unschönen Momente des Lebens. Schon diese Gleichmacherei allein durch das Altern kann einem im Grunde die Lust auf das Leben sauer machen, oder? Da sind wir, so gesehen, allesamt Heldinnen und Helden, wenn wir uns tapfer gegen die Einbrüche der Dunkelheit in unser lichtes Dasein stellen – und der Tragödie des Altwerdens die Macht der Fröhlichkeit, der Heiterkeit sowie die Gelassenheit der Gegenwart entgegen halten können.

Die Duse, die Neumeier imaginiert, hat aber zudem den Anspruch, ein moralisch integrer, glaubhafter Mensch zu sein. Was sich mit oberflächlicher Fröhlichkeit als Grundeinstellung möglicherweise so gar nicht verträgt.

Es bleibt also beim Ernsthaften, oder, wie Neumeier es selbst nennt: beim „Klaren, Einfachen, Ruhigen“. Denn genau das habe ihn an Alessandra Ferri als Muse für die „Duse“ inspiriert, sagte er auf der Premierenfeier. Wobei sowohl er als auch Ferri zu Beginn überhaupt nicht gewusst hätten, wie es werden sollte. Alles habe sich dann aus ihrer inneren Kraft entwickelt, so Neumeier.

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

John Neumeier dankte auch den Sponsoren – so etwas gehört bei einer Ansprache nach einer Premiere dazu. Foto: Gisela Sonnenburg

Diese Klarheit und Ernsthaftigkeit der Titelrolle manifestiert sich in einer Szene besonders: Als Duses Konkurrentin, die französische Staractrice Sarah Bernhardt (1844 – 1923) den größeren Erfolg von beiden hat und sogar den wichtigsten Verehrer und Liebhaber der Duse einkassiert, überreicht die verstummte Leidende ihrer Rivalin großmütig einen großen Strauß Rosen. Kniend, wohlgemerkt. Diese Szene wirkt nun nicht alltäglich oder gar naturalistisch in irgendeinem Sinne. Man merkt, dass hier mehr dahinter steckt, als dass nur ein konstruiertes Psychogramm einer alternden Diva entworfen wird.

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

John Neumeier weiß, wie es ist, einerseits Künstler, andererseits Geschäftsmann zu sein. Hier spricht er zum Publikum auf der Premierenfeier nach der Uraufführung der „Duse“. Foto: Gisela Sonnenburg

Tatsächlich geht es hier auch um die Zwänge und Notwendigkeiten, mit denen sich Künstler abseits ihrer eigentlichen Arbeit auseinanderzusetzen haben. Und da kann es durchaus sein, dass man – sei es, um nach außen hin einen guten Eindruck zu machen, sei es, um einen als verloren empfundenen Kampf für sich ins Reine zu bringen – öffentlich zu Kreuze kriechen muss. Ob John Neumeier das nun nur beobachtet hat oder ob er auch mal selbst davon betroffen war, sei dahin gestellt. Der Kniefall, den er die Ferri ausüben lässt, ist jedenfalls anrührend – und zugleich überraschend. Steht sie doch zuvor reglos an der Rampe rechts dabei und muss machtlos zusehen, wie eine andere Darstellerin, also Silvia Azzoni als Sarah Bernhardt, das Feld bestellt.

Es sind solche Momente, die diesen alles in allem alptraumhaft gestalteten ersten Teil des Stücks „Duse“ so spannend und lohnend machen. Da blitzt die Neumeier’sche Qualität auf, mit dramaturgischen Kniffen und choreografischer Finesse mehrschichtigen Gegenwartsbezug herzustellen.

Denn VIPs, ob in der Politik, in der Kunst, in der Wissenschaft, dürften mit solchen Vorgängen, wie sie die Ferri als Duse durchmacht, nur allzu gut vertraut sein. Auch wenn Neumeier, der kürzlich den mit rund 360 000 Euro dotierten Kyoto-Preis in Tokio erhielt und der insgesamt zu den wenigen Menschen gehört, die mit Ballett reich wurden, sodass er eigentlich sein eigener Sponsor sein könnte (was er möglicherweise schon ist): Überall, wo ein harter Verdrängungswettbewerb statt findet, führen Triumphe rasch auch zu befremdlichen Situationen. Zu Neid und Eifersucht. Zu Missgunst. Aber auch zu heimlichem Größenwahn: Silvia Azzoni tanzt köstlich-karikierend die hier eitel nur auf sich selbst und ihren Erfolg bezogene Sarah Bernhardt.

Die Befangenheit im Erfolgswahn kann wiederum auch zu übertriebener Rachsucht für erlittene Pein führen – einmal wirft Alessandra Ferri als Duse mit einer Rose nach ihrem untreuen Liebhaber, und es ist, als wolle sie ihn damit vernichten. Todesurteile für untreue Partner – für nicht wenige Frauen wurde das schon oft genug das traurige Lebensende, denn der Eifersuchtsmord durch den Mann zählt zu den klassischen Grausamkeiten in der Menschheitsgeschichte.

Und da ist noch etwas, das Neumeier beobachtet hat und anhand der Duse-Geschichte assoziativ nacherzählt: Es gibt da diesen Realitätsverlust, der durch viel Verwöhnung mit Erfolg und Ruhm einhergeht. Über jedes gesunde Maß hinaus werden dann verloren gegangene Runden als Schmach und Niederlage empfunden, als Existenzbedrohung und als größte Ungerechtigkeit überhaupt in der Welt.

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

Alessandra Ferri mit den weißen Rosen, die auch zu den Lieblingsblumen von Choreograf John Neumeier zählen. Die „Duse“ braucht sie als Symbol für alles, was ihr lieb ist. Foto: Holger Badekow

Dass zu allem im Leben auch schlicht und ergreifend Glück nötig ist – sowie auch das Glück, aus allem das Beste zu machen –  entfällt dabei gerade hoch stehenden Persönlichkeiten sehr viel öfters, als den so genannten „Normalos“, die es gewohnt sind, dass die Dinge mal besser, mal schlechter laufen. Alles wird auf höchster Ebene gern auf eine Art Kontrollsucht eingestellt, um selbst die Illusion von absoluter Dominanz zu erhalten; den anderen wird dann nichts mehr gegönnt, im Gegenteil: Das eigene Ego giert, in einem Teufelskreis befangen, nach immer mehr Macht, Ruhm, Geld.

Für Menschen, die inhaltsorientiert arbeiten wollen, sind solche Mechanismen freilich Gift, zumal für die kreative oder auch soziale Potenz. Sie schlingern in Zwickmühlen, in denen sie nichts richtig, sondern immer nur alles falsch machen können. Hecheln sie dem Geld hinterher, vernachlässigen sie ihre eigentliche Arbeit. Versenken sie sich in ihre Arbeitswelten, verpassen sie nach außen hin den Anschluss. Schließlich sind Erfolgsbedingungen veränderlich und schnelllebig!

Dem entgegen bewirkt das unaufhaltsame eigene Altern aber naturgemäß eine Verlangsamung.

Wie all dem zusammen Rechnung tragen?

John Neumeier, als eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, die sich stetig hoch gearbeitet hat, dürften solche Konflikte nicht wirklich fremd sein. Mehr noch: Er hat, ob er es wollte oder nicht, mit der „Duse“ ein choreografisches Selbstportrait von sich hingepfeffert, und beinahe würde ich vorschlagen, dass er selbst – en travestie – die Rolle der Titelfigur übernehmen könnte.

Zumindest aber bestätigt es meine These, dass er zahlreiche deutliche Zitate anderer Ballette von sich eingebaut hat – und zwar so deutlich wie noch nie zuvor.

Da werden Passagen seines Balletts „Kameliendame“ getanzt und auch vom Bühnenbild oder vom Kostüm her eingebracht  (und zwar vor allem den „Spiegel-Pas de deux“ und den „Weißen Pas de deux“ betreffend), was auch insofern gut passt, als die Duse in der Sprechtheaterrolle dieser Figur ganz groß rauskam und eigentlich erst durch diesen Part zum Star wurde.

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

Eine Diva, zwei Männer: Alexandr Trusch, Alessandra Ferri, Jacopo Bellussi im ersten Teil von John Neumeiers „Duse“ beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Das im übrigen nicht wirklich gelungene Drama „Die Kameliendame“ des Romanciers Alexandre Dumas (der nur, weil der Markt danach verlangte, seinen eigenen hervorragenden Roman dramatisierte) erfuhr ja später durch die Vertanzung durch Neumeier eine ungeahnte Aufwertung. Insofern mag es eine heimliche Verbindung zwischen der Duse und dem Choreografen John Neumeier schon lange gegeben haben.

Denn auch Neumeier hat durch seinen Abendfüller „Die Kameliendame“ (die er stärker am Roman als am Drama orientierte) einen Welterfolg verbucht, der bis heute anhält – just am Abend der Uraufführung von „Duse“ in Hamburg wurde am Moskauer Bolschoi-Theater „Die Kameliendame“ unter der Ägide von Neumeiers Ballettmeistern Kevin Haigen und Leslie MacBeth wieder aufgenommen (die Premiere dort war 2014) – und die Vorstellung wurde in viele Kinos in diversen Staaten live übertragen.

Von dem kongenialen Kevin Haigen, der an der endgültigen Kreation der drei wichtigsten Paartänze in der „Kameliendame“  maßgeblich beteiligt war, übernahm Neumeier denn auch eine Anregung, die Musik von „Duse“, erster Teil, betreffend: Sechs Mal wiederholt sich da ein Stück aus „Variations of a theme of Frank Bridge“ von Benjamin Britten (1913 – 76). Der Komponist schrieb das Stück 1937 als Referenz an seinen Lehrmeister Frank Bridge. Haigen verwandte es schon 1987 für seine kryptisch-romantische Choreografie „A’Winged“ („Beflügelt“), die er in seiner Zeit als Ballettmeister und Choreograf   beim London Festival Ballet kreierte. Diese Truppe wurde übrigens 1989 auf Anregung von Eva Evdokimova in English National Ballet umbenannt – und heißt noch heute so. 2008 wurde „A’Winged“, dessen anmutig-leichten Schritte einen seltsam-schönen Widerspruch zu der schwer verständlichen, monoton-schwebenden Musik bilden, ins Repertoire des kleinen Pfalztheaters Kaiserslautern aufgenommen. Ende der 90er Jahre studierten Tänzer des Hamburg Balletts  „A’Winged“ ein. Dieses frühe Werk von Haigen (das man gern auch mal wieder sehen würde) kann, wie seine musikalische Vorlage, ebenfalls als Referenz an einen Lehrmeister aufgefasst werden. Oder sogar an zwei: an den New Yorker Choreografen (und Lehrer von Haigen) George Balanchine und natürlich an John Neumeier. Mit „Duse“ spielt Neumeier den Ball wieder zurück – und ersinnt auf die Musik, und zwar auf den 8. Satz (Moto perpetuo) des Stücks, jedes Mal, wenn er es bruchstückhaft zwischen anderen Stücken von Britten und Arvo Pärt spielen lässt, eine neue Choreografie darauf.

Aber keine ist so dramatisch aufgebaut wie die typischen Neumeier-Erfolgsstücke, zum Beispiel „Othello“ (auch zu Musik von Arvo Pärt) oder „Die Kameliendame“. Ein solcher Kassenmagnet wie die „Kameliendame“ wird die „Duse“ sicher nie. Das Erstaunliche daran: Das Stück ist gar nicht darauf angelegt, ein „populäres“, massentaugliches Erfolgsballett zu sein.

Vielmehr erlaubt sich John Neumeier in einer seiner letzten Saisonen als Hamburger Ballettchef etwas, das sonst typisch für besonders junge Künstler ist, die erst am Anfang ihres Werdegangs stehen: Er setzt auf Risiko. Sein neues Stück ist ein Experiment, ein Abenteuer, etwas, das er in dieser Form vorher noch nie gemacht hat. Das gilt insbesondere für diesen ersten Teil (der noch keinen eigenen Namen hat, was aber nicht heißt, dass Neumeier hier nicht weiter dran arbeiten wird – work in progress gehört ja seit einigen Jahren zu seinen bevorzugten Arbeitsweisen, wenn auch bislang unauffälliger praktiziert als mit einer Neubenennung eines Teilballetts). Kein anderes Neumeier-Ballett arbeitet so wenig mit Schlaglichtern trotz Dunkelheit und ist – wie der erste Teil – nahezu von einer Düsternis, die an die Arbeiten des Berliner Ballettchefs Nacho Duato erinnert. Dennoch rührte Neumeier im Vorfeld der Uraufführung unverdrossen dei Werbetrommel, ließ Interviews geben und einen Werbetrailer ins Netz stellen. Angst, missverstanden zu werden, hat er demnach nicht.

Er kündigte seinen Weggang von der Hamburgischen Staatsoper ja schon 2013 für 2019 an – und nutzt nun den selbstgesetzten Endspurt beim Hamburg Ballett, um völlig neue Wege auszuprobieren. Dass Bühnenbild, Licht und Kostüme hier aus einer Hand sind, nämlich aus der des Choreografen John Neumeier, ist schon fast selbstverständlich, er hat es in den letzten Jahren überwiegend so gehandhabt. Das ist schon erstaunlich für einen schöpferischen Künstler, der sich mit deutlich über 70 Jahren im Seniorenalter befindet und der zudem alles erreicht hat, was man in seiner Profession überhaupt erreichen kann. Mehr noch: Es ist nicht mal vorstellbar, dass ein anderer Ballettchoreograf derart viele Ehrenbekundungen (ich kam mal auf rund 200 Preise und Auszeichnungen bei Neumeier) und auch derart viele finanziellen Erfolge einheimsen wird (Ballett ist ja sonst fast eine Hungerbranche in jeder Hinsicht).

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

Sie sind Freundinnen, so verschieden sie auch sind: Schauspielstar Eleonora Duse (Alessandra Ferri) und Isadora Duncan (Anna Laudere) , Pionierin im freien Tanz. Foto: Holger Badekow

John Neumeier wird also vielmehr die große Ausnahme unter den Künstlern bleiben – und leistet sich wohl gerade deshalb nunmehr auch die Caprice, sich künstlerisch aufzuführen wie ein Anfänger. Ich meine das nicht negativ, sondern im Sinn seines Wagemuts, seiner Abenteuerlust, mit seinen Tänzern und dem Staatsopernapparat ziemlich unvorhergesehen zu agieren.

Es ist ein fast lustiges Paradoxon: Neumeier, der als Jungkünstler professionell wie kein zweiter war und einen „Kassenhit“ nach dem anderen fabrizierte, übt sich nun, im hohen Alter, in spröden, fast abweisenden Bildercollagen, die – man denke nur an seine Uraufführung von „Tatjana“ vom Sommer 2014 – einerseits nachgerade Materialschlachten, andererseits aber auch feinsinnige Psycho-Dramen sind.

Verglichen mit „Tatjana“ ist „Duse“ allerdings eher ein Kammerballett.

Es beginnt mit einer Geste des Seufzens. Die Duse, also die Ferri, sitzt in der ersten Reihe rechts außen in einer auf der Bühne aufgebauten Parkettreihe (in der ersten Reihe rechtsaußen sitzt in der Hamburgischen Staatsoper auch John Neumeier, seit vielen Jahren, in jeder Vorstellung, der er beiwohnt). Auf der Bühne läuft der einzige Film der Duse, in schwer erkennbaren, stummen Schwarzweißbildern: „Cenere“, „Asche“, heißt das Werk von 1916.

Die Duse, also die Ferri, hebt den Arm, die Hand, führt sie zur Stirn, führt mit der anderen Hand, dem anderen Arm eine konträre, aber nicht symmetrische Bewegung aus. Ach!

Ja, sie stöhnt auf, sie seufzt, ohne dass sie einen Laut von sich gibt. Ihr Körper erledigt das für sie. Man kann diesen Lebensmoment nur allzu gut nachvollziehen: Beim Anblick eines erinnerungswürdigen Details, ob in einem Film oder sonstwo, fällt einem das ganze eigene Leben quasi in einem Bruchteil einer Sekunde auf die Füße – und man selbst, bildlich gesprochen, in ein dunkles Loch. Das Weiterleben, ein Alp. Dieses Lebensgefühl vermittelt die Ferri hier mit einer einzigen Tanzgestik, und alles, was folgt, ist im Grunde als Kommentar und Folge dieser ersten Geste, dieses tragischen Grundgefühls zu begreifen.

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

Ein Blick in ein echt altes Buch, das nicht kostbar ist, aber als Lektüre sehr gute Dienste tat und tut: „Das Geheimnis des schauspielerischen Erfolgs“ von K. S. Stanislawski brachte Generationen von Bühnendarstellern das Schauspielern bei. Foto: Gisela Sonnenburg

Hier geht es aber auch um die Jugend, vor allem um die der Kunst, um die Bühnenkunst überhaupt, die Schauspielerkunst insbesondere. Was jeden Studenten der Theaterwissenschaften als Schicksal ereilt, traf auch John Neumeier, als er jung war, und auch Eleonora Duse, die erfolgsgierige Schauspielerin: die Theatertheorie des russischen Doyens Konstantin Sergejewitsch Stanislawski (1863 – 1938). „Wahrhaftigkeit“ ist darin ein zentraler Begriff – wahrhaftig hat die Kunst demnach stets zu sein; wahrhaftig, im Sinne einer höheren Wahrheit, und nicht einfach nur irgendwie glaubwürdig oder gar brav wahrheitsgemäß. Kunst muss einen richtiggehend erfassen, sonst ist sie Makulatur – auf diese Wahrheit (eine wahrhaftige) zielen sowohl Stanislawski als auch Neumeier ab.

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

Früher reichte für die „Anmerkungen“ eines 450 Seiten dicken Buches – wie des besagten Stanislawski-Bands – schlicht eine halbe Seite. Das war in Zeiten vor der Erfindung des Personal Computers! Foto: Gisela Sonnenburg

Die Jugend wird dabei von jungen Männern verkörpert, und zwar von einigen der hübschesten Burschen, die das Hamburg Ballett aufzubieten hat. Das Alter aber dazustellen, lastet allein auf Ferris Schultern, die indes nicht als Greisin auftritt, sondern mit festem, langem, brünettem Haar und trainiertem Körper. Ihre Jugendlichkeit kommt von innen, suggeriert das im Verein mit ihrem ausgestellt gealterten Gesicht, mit den vielen Falten darin und den starken, scheinbar ungezupften Brauen.

Dabei kommt es ihrer Darstellung zu Gute, dass Alessandra Ferri, die 2007 in der MET in New York mit „Romeo und Julia“ ihren offiziellen Abschied als Ballerina nahm, seit einigen Jahren wieder regelmäßig trainiert. Dadurch hat ihr Körper eine hohe Spannkraft, ihre Füße sind nicht nur lange im ballettösen Sinne geformt, sondern auch wieder elastisch, und dass sie die Pirouetten in der „Duse“ fast nur noch mit Partner und wie in Zeitlupe dreht, passt vor allem zur Rolle. Die Duse, die hier mit dem Alter ringt, soll ja gerade nicht munter-spritzig-witzig sein, sondern muss elegisch-majestätisch-erhaben sein. Fast geisterhaft – ein Aspekt, der im zweiten Teil noch weiter ausgebaut wird.

Ferri arbeitet seit ihrem Bühnenabtritt immer mal wieder sporadisch auf der Ballettbühne, zuletzt im Sommer beim Royal Ballet in London, wo Wayne McGregor mit ihr eine getanzte Romanrolle in  „Woolf Works“ über die feministische Dichterin Virginia Woolf erarbeitete. Die Musik kam von Max Richter – es war eine auch musikalische Uraufführung.

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Alessandra Ferri tanzte im Mai 2015 in der Aufsehen erregenden Uraufführung von „Woolf Works“ des Choreografen Wayne McGregor: im Covent Garden mit dem Royal Ballet – Ferri wird auch dort als inspirierende Bühnenpersönlichkeit geschätzt. Foto: Tristram Kenton / ROH (Royal Opera House, London)

Spötter sagen indes, Ferri feiere alle zwei Jahre ein Comeback – mal mit einer kurzen Gala-Nummer, mal mit einem großen Abend. Vor allem aber wird sie eins feiern, nämlich am 23. Juni 2016, mit dem American Ballet Theatre (ABT), an der Seite von Startänzer Herman Cornejo. Wie schon zu ihrem offiziellen Bühnen-Ade wird sie als Julia in „Romeo und Julia“ auftreten. Man weiß zwar nicht, inwieweit das dann noch mit einer herkömmlichen Ballett-Julia, die stets etwas Mädchenhaft-Kindliches an sich haben sollte, zu vereinen sein wird. Aber man erinnert sich an Marcia Haydée, die auch noch mitten in den Wechseljahren eine delikate Teenager-Julia abgab. Ballett ist eben eine andere Kunst als das Schauspiel, eine stilisierte, eine artifizielle, in der dafür vieles machbar ist, das in anderen Kunstgenres abgeschmackt oder schlicht idiotisch wäre.

Ferri tanzt denn auch und tanzt doch nicht. Denn natürlich besteht ein Großteil ihrer Choreografie, da sie fast den ganzen zweieinhalbstündigen Abend auf der Bühne zubringt, aus Ruhe.

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

Ein Werbetrailer bewirbt schon seit Wochen vor der Premiere die jüngste Kreation von John Neumeier, „Duse“. Videostill: Gisela Sonnenburg

Eine Pose zu halten, gelingt ihr wie einem Standbild. Dann ihr Gehen: Es ist königlich. Die Paartänze mit ihr werden von den jungen Herren, die sie begleiten, zumeist mit vornehmer Zurückhaltung absolviert.

Der erste Pas de deux schließt sich an ihre Seufzer-Gestik vom Anfang bald an. Alexandr Trusch, Hamburgs junger Superstartänzer – der selbst gar nicht weiß, wie gut er ist, was ihn noch bezaubernder macht – kommt als junger Soldat auf die Bühne. Auch er sitzt im Kino, als „Cenere“ läuft, er begegnet der Duse, er bringt ihr Blumen.

Weiße Rosen. Weiße Blumen sind John Neumeiers Lieblingsblumen, dass es hier Rosen und nicht Pfingstrosen sind (die er selbst zumeist bevorzugt), ist wohl dem kleinen, aber feinen Unterschied zwischen realem Ballettchef und fiktiver Diva geschuldet.

Denn fiktiv ist diese Duse, und man sollte nicht den Fehler begehen, dieses Ballett als getanzte Biografie zu sehen. Duse wie auch die anderen Figuren hier stehen für Ideen, für „Aspekte“, wie Neumeier die personifizierten Kraftfelder in seinem „Peer Gynt“ genannt hat.

Ein solcher „Aspekt“ ist der Soldat Luciano Nicastro, den eben Alexandr Trusch verkörpert. Er wird ein Liebhaber der Diva, und wie sie mit ihm (nicht er mit ihr) tanzt – das hat viel von poetischer Zartheit und beschützender Geleitgebung, und so gar nichts von fleischlich verfressener Lust mit sinnlich-erotischer Berauschung. Fast fragt man sich, wie es überhaupt zu diesem engen Kontakt zwischen den beiden kommen kann. Aber es geht hier nicht um Sex pur, sondern um eine gefühlte Seelenverwandtschaft – wie die Duse, als Alter ego von John Neumeier, eben immer mit der Seele liebt und nicht nur mit dem Körper.

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

Schönheit, Tod, Trauer: Alessandra Ferri als John Neumeiers „Duse“ trauert um den jungen Soldaten (Alexandr Trusch) – und zugleich um ihre eigene immer weiter vergehende Jugend… zu sehen beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Eine gefühlte Seelen- oder auch Geistesverwandtschaft ist es auch, die die Duse mit dem Dichter Gabriele D’Annunzio verbindet. Karen Azatyan hat hier ein wunderbar-kompliziertes Solo, mit dem er alle Widersprüche des später so großkotzigen Schürzenjägers Gabriele vorab einfängt und in sich schlüssig als Triebkraftspreizungen eines Ruhmsüchtigen zeigt.

Kaum hat Gabriele sich die Duse geangelt, posiert er für die Fotografen, deren Blitzlichtgewitter Neumeier so drastisch auf die Bühne bringt, als gelte es, Lady Di ein Denkmal zu setzen.

Nur kennt dieser D’Annunzio hier keine Scham – er zieht sich gern bis auf den Suspi-Tanga aus, um noch mehr Fotoblitze zu erhaschen.

Die Duse ekelt das an. Aber sie unternimmt nichts dagegen, das wäre nicht ihre Art. Sie hofft auf eine lebenslange Partnerschaft, etwas, das sie stets erhoffen und nie bekommen wird. Aber über zehn Jahre hält die Sache mit dem Dichter, den sie fördert und bekannt macht, indem sie sich als „Kleopatra“ in seinem Theaterstück zeigt. Und der Poet schnappt bald über, er belügt und betrügt sie – und lässt sie mit sich alleine, was sie, der Verdacht kommt einem, im Grunde vielleicht sogar selbst auch will.

Als die Bernhardt ihre Erfolge feiert, wechselt Gabriele in ihr Lager – und als ein „Armand“ (aus Neumeiers Ballett „Die Kameliendame“) verkleidet, wirft er sich ihr zu Füßen, mit Rosen im Arm. Pladauz! Neumeier persifliert hier seine eigene Choreografie der „Kameliendame“, der New Yorker Kritiker bei der dortigen Premiere 2010 tatsächlich vorwarfen, sie sei in den Pas de deux „zu bodenlastig“.

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Karen Azatyan als zu jeder Schandtat bereiter Gabriele D’Annunzio – mit Alessandra Ferri als „Duse“ in Neumeiers jüngster Kreation. Foto: Holger Badekow

Bodenlastig ist die „Duse“ nun gewiss nicht; eher wundern einen die Stühle, die für die Ferri, damit sie sitzen kann, stetig in die Choreografie eingebracht sind. Hätten es nicht auch mal Hocker, Bänke, Sofas, Sessel oder Melkschemel sein können? „Die Stühle“ ist indes ein Ballett von Maurice Béjart, frei nach dem Theaterstück von Eugène Ionesco, und er hat es für seinen Freund und Kollegen John Neumeier in dessen Eigenschaft als Tänzer kreiert. Von daher ist also jeder normale Stuhl auf der Bühne auch eine Erinnerung an diese Arbeit, die John Neumeier ein letztes Mal mit Marcia Haydée, die eine seiner wichtigsten Musen war, auf der Bühne vereinte.

Ebenfalls zitiert wird die „Endstation Sehnsucht“, die Neumeier, wiederum für Marcia, in Stuttgart kreierte. Das Ballett, frei nach dem Drama von Tennessee Williams, schildert die sozialen und menschlichen Tragödien, die durch Verarmung, Gewalt und eine frauen- sowie schwulenfeindliche Doppelmoral entstehen.

Eine selbständig denkende Frau wie Neumeiers Duse leidet selbstredend unter all diesen Problemfeldern. Und sieht man den Künstler in dieser Gesellschaft prinzipiell als „Frau“ im Gegensatz zu den harten „Männern“ der Geschäftswelt, so hat die Frauenthematik hier als Künstlerleiden insbesondere ihre Berechtigung. Wir sagten schon, dass auch außerordentlich erfolgreiche Künstler unter der Welt mehr leiden, als sie öffentlich zugeben; auch Frauen leiden oft mehr, als sie es sagen.

Das erklärt, warum manche Künstler – wie Neumeier – sich in Frauenkonflikte so hervorragend einfühlen können. Das ist bei John Neumeier allerdings nichts Neues; als Frauenversteher kann er gelten, seit er seine ersten Ballette, zumal die Handlungsballette, schuf.

In der „Duse“, erster Teil, liegt der Schwerpunkt zwar auf den Schultern von Alessandra Ferri. Aber auch Silvia Azzoni als Sarah Bernhardt, Anna Laudere als extravertiert-moderne Isadora Duncan, die mit eckigen Bewegungen im antiken Stufenkleid fast wie eine Karikatur ihrer selbst wirkt, sowie Hélène Bouchet, die als Dienerin der Duse Hochkarätiges tanzt, illustrieren die Frauenwelt der Stummfilmzeit. Vor allem La Bouchet vermag es dabei, einen völlig zu vereinnahmen – in einer Szene, in der Menschen mit Regenschirmen die Anonymität der wachsenden Großstädte darstellen, glänzt sie mit schwebend-geworfenen Beinen, mit gequält-eleganter Leidenschaft, mit tiefgreifend-ergreifender Sinnlichkeit, sie huscht zwischen den Schirmmenschen hin und her, um weiter vorn auf der Bühne ihren tänzerischen Solotext zu formulieren: so glänzend und doch einfach, dass man wünscht, diese Zeit möge nie vorbei gehen.

Doch die Zeit verrinnt, unaufhörlich, wir hatten dieses Thema hier schon. Marc Jubete, der mit viel Verve das „Publikum“ auf der Bühne anführt, und Jacopo Bellussi, der einen ins Liebesgeflitter mit der Duse involvierten Freund von Luciano (Alexandr Trusch, Sie wissen schon) tanzt, setzen allerdings allerhand dagegen: Sie können mit dezenter Führungsstärke und großer Geschmeidigkeit die Kommunikation zur Ikone der Diva aufrecht erhalten. Das Statische der Duse wirkt gerade im Spannungsfeld mit diesen beiden jungen Männern majestätisch, die beiden Herren dagegen dynamisch. Schöne Gegensätzlichkeiten, die Neumeier da aufgebaut hat und immer wieder neu in Szene setzt.

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

Die „Duse“ Alessandra Ferri und ihr intellektueller Mentor, getanzt von Carsten Jung… auch Choreograf John Neumeier hatte als junger Mensch einen Mentor, der zeitlebens wichtig für ihn blieb, Father John Walsh, der auch Neumeiers erste Choreografie überhaupt mit veranlasste. Foto vom Hamburg Ballett: Holger Badekow

Nur Carsten Jung, der Alleskönner vom Hamburg Ballett, hat es hier etwas schwer. Im unhandlichen Mantel und langem, breitem Seidenschal stellt er den Intellektuellen Arrigo Boito dar, der der Duse als „Mentor“ galt. In Neumeiers Biografie gab es einen Priester, den Father John Walsh, der ihn förderte und unter der Hand belehrte. Auch Jung taucht im Ballett mit einem Bücherstapel auf. John Welsh wiederum betreute Neumeier auf dem College und begleitete die ersten choreografischen Schritte, die der Literatur-, Malerei- und Theaterstudent Neumeier damals dort unternahm. Bücher spielten auch da eine ganz entscheidende Rolle!

Jung muss denn auch sein Spieltempo der Figur eines älteren Mannes anpassen und darf nicht, wie es sein Spieltalent ist, quick und höchst lebendig agieren. Er muss langsam agieren, gemessenen Schritts gehen, sich auf komplizierte Figuren mit der statuarischen Diva Ferri-Duse einlassen. Keine leichte Sache, die die beiden aber mit Bravour meistern.

Dass immer wieder die Schützengräben des Ersten Weltkriegs ins Bühnenbild aus dem Hintergrund heraus einbrechen und somit die trauerähnliche Grundspannung erhärten, verändert auch die Beziehungen der Figuren zueinander. Aufkommende Fröhlichkeit wird im Keim erstickt; langsam wachsende Nähe immer wieder unterbrochen.

So endet auch der liebliche Soldat Luciano (Alexandr Trusch, Sie wissen schon) als Sterbender im Metallbett eines Hospitals. Die Duse besucht ihn, tanzt ein letztes Mal um und mit ihm. Er stirbt, sie bettet ihre Trauer mit Blumen auf seiner Brust.

Schließlich bleibt die Diva allein zurück, in sich zurückgezogen, die Arme jedoch wie für alle sichtbar, als Signal und sogar Befehlsgestik, erhoben. Die starke Frau, der starke Künstler, sie / er ist autark und autonom, unabhängig und gerade darum so unendlich einsam.

John Neumeier hat sich zweifelsohne damit selbst ein Denkmal gesetzt – ein zu tanzendes, lebendigeres Denkmal als ein in Stein gemeißeltes es jemals sein könnte.

Und das eine der beiden Ballette dieses Abends ist damit auch beendet. Denn nach der Pause geht es in einer ganz anderen Stimmung weiter – transzendent und sublim, wie erlöst und doch harmonisch. Ist es überhaupt ein Neumeier-Ballett? Hätte man es mir gezeigt, ohne mir zu sagen, was es ist, ich hätte auf ein abstraktes Stück von Kenneth MacMillan mit Anklängen an John Neumeiers zweiteiligen Abend „Wendungen“ von 1977 getippt.

Und tatsächlich ist hier viel vom Stuttgarter Ballett drin, in diesem zweiten Teil von „Duse“; beim Stuttgarter Ballett hat MacMillan in der Tat abstrakte Ballette kreiert. Aber auch John Neumeier hat dort 1986 ein abstraktes Stück kreiert, das nach der Musik von Arvo Pärt heißt, die es nutzt: „Fratres“. Der zweite Teil der „Duse“ ist nichts anderes als dieses „Fratres“, in einer leicht weiter entwickelten Variante.

Der einschlägige Hinweis darauf kommt im ansonsten fein gemachten Programmheft von „Duse“ allerdings zu kurz – und fehlt auf dem Besetzungszettel ganz. Hier muss nachgebessert werden. Die zahlreichen Bilder im Programmheft, die dem Probenprozess fast so etwas wie Bühnenreife verleihen, sind dagegen stets korrekt beschriftet: Sie stammen aus den Händen des langjährigen Neumeier-Fotografen Holger Badekow (der seinen Job zur nächsten Saison abgibt).

Die Ursprungsmuse und einzige Ballerina von „Fratres“ war, natürlich, übrigens wieder Marcia Haydée. Beim Hamburg Ballett ist es hingegen wieder Alessandra Ferri, die mit vier Herren ein sanft hingegossenes, modern-fließendes Quintett tanzt.

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

In einer gewissen Weise ist auch der erste Teil der Duse „mehrweltig“: Carsten Jung als Mentor der Duse (Alessandra Ferri) wirkt in der Düsternis der Bühne wie ein Kirchenmann… und hat so verstärkt Ähnlichkeit mit Choreograf John Neumeiers Mentor. Wallende Gewänder trug Neumeier aber wohl nie – seine Diva „Duse“ ist eine sehr weibliche Kunstgestalt. Foto: Holger Badekow

„In einer anderen Welt“ heißt das Stück jetzt, statt des vieldeutigen „Fratres“, was auf Bruderschaften verwies. Die andere Welt ist ein erträumtes Jenseits, ein paradiesischer Zustand, ein zärtlich-vornehmes Ambiente aus Körpern und guten Absichten.

Der Bühnenhimmel ist blau, die Atmosphäre hell. Die Körper gehören, neben Ferri, den hauptsächlich agierenden Herren aus dem ersten Teil: Karen Azatyan, Alexandr Trusch, Carsten Jung und Marc Jubete.

Prägend ist hier die Coach-Signatur von Tamas Detrich, dem künftigen Ballettintendanten vom Stuttgarter Ballett. Er studierte jetzt die zur „Duse“, Teil zwei, umgemodelten „Fratres“ beim Hamburg Ballett ein, mit der für ihn typischen Geradlinigkeit und Geschmeidigkeit.

Detrich richtete übrigens schon die letzte Wiederaufnahme des Stücks in Stuttgart ein, 2010 war das. Den weiblichen Part tanzte da Sue Jin Kang, mit den männlichen Kollegen Friedemann Vogel, Marijn Rademaker, Filip Barankiewicz und Jason Reilly.

Neumeier hatte das Stück 1986 seinen verstorbenen Eltern gewidmet, es kündet von einem Wiedersehen auf einer anderen als diesseits gerichteten Ebene.

Gleichmäßig und konstant ist hier das Geschehen: Die Figuren rücken eng zusammen, bilden ästhetische Formationen, lösen sich wieder voneinander, um sich erneut zu vereinen. Kanonisch stimmen sich die jungen Männer ab, viele langsam zelebrierte Hebungen bestimmen ihr Verhältnis zur Dame, offenbar ihrer Beherrscherin. Eine Mutter mit vier Söhnen? Eine Göttin mit vier Dienern? Man mag assoziieren, soviel man will, ganz fassen wird man diese „Fratres“, diese „Bruderschaften“, nicht. Aber sie haben etwas beruhigend Metaphysisches an sich.

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

Sie bilden eine Gruppe, geschmeidig und homogen gecoacht von Tamas Detrich, dem künftigen Stuttgarter Ballettchef: Alessandra Ferri und „ihre“ vier Männer in John Neumeiers „Duse“, zweiter Teil, beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Vor allem der erste Teil dieses zweiten Teils überzeugt durch in sich geschlossene, dennoch transparente Choreografie, die dem Begriff „Zeitlosigkeit“ in jedem Fall eine eigene Bedeutung verleiht.

Die Musik, drei Stücke von Arvo Pärt (der 1935 geboren wurde), unterstreicht das noch. Die Solo-Bratsche von Naomi Seiler ist dabei übrigens ausdrücklich zu loben, so expressiv und dramatisch-wuchtig sie ist, sie „schwebt“ dennoch – und bietet eine schöne Abwandlung vom zaghaft-unentschlossenen „Ich-bin-ja-so-modern-und-blass“-Credo, dem manche interpretierenden Künstler bei solchen Stücken verfallen.

Die Gelegenheit wird glatt ergriffen, um auch dem Rest des Orchesters, dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg, unter Simon Hewett zu danken.

Ein Solo von Alexandr Trusch (Sie wissen schon, seufz) muss ebenfalls noch hervorgehoben werden: Es ist ein balancenreiches Adagio, das er mit viel Herz und Virtuosität erfüllt. Seine lyrisch-anmutige Farbe kommt auch der klarlinigen, pointierten und gelegentlich kontrapunktischen Ballettmeistersignatur von Tamas Detrich entgegen.

Hoffen wir für Hamburg, dass Detrich den hoch begabten Wundertänzer Trusch nun nicht nach Stuttgart abwirbt, denn Stuttgart liefen in den letzten Jahren drei bedeutende Interpreten wichtiger Rollen davon (Evan McKie, Marijn Rademaker und Alexander Jones) – und aufgefüllt konnten diese Lücken noch nicht werden.

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

Eisblau ist das changierende Licht, mal heller, mal dunkler, aber immer mit einem ewigen Azur zu verbinden – so im zweiten Teil von „Duse“ zu sehen, beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Detrichs stringenter Stil findet derweil immer einen Weg, die Dinge zu bereinigen. Das gilt auch für die Fälle, in denen eine Bewegung mal nicht so synchron ausgeführt wird, wie es sein sollte. Dann darf eben mal die Luftigkeit und Lockerheit überwiegen und das Individuelle den Akzent setzen. Detrich praktiziert das, gemischt mit sehr genau exerzierten Abläufen bei den wichtigen Bewegungsbögen, schon seit Jahren sehr erfolgreich in Stuttgart und, als Gast-Coach, in anderen international bedeutsamen Compagnien.

Alessandra Ferri bekommt unter seiner Führung eine sehr gefasste, weniger dramatische, dafür souveräne Note. Das ist der Glanz des Alters, im Kontext dieses „Duse“-Abends.

Ferris aufrechte Haltung hier ist, was der Choreografie geschuldet ist, geradezu sprichwörtlich!

Mit dem Rücken zum Publikum zeigt sie diese denn auch im Schlussbild. Die erhobenen Arme betonen in der Linie zudem  ihren langen Pferdeschwanz, den sie hier trägt – wie im ersten Teil ist sie die Duse, die Primadonna, die Diva, die zwar allein ist, aber deren Leid am eigenen Sein hier überwunden ist. Sie ist erstarkt – und ganz bei sich. Und man wünscht sich, sie könne diese Stärke übertragen, auf jeden, der sie sich und anderen wünscht…
Gisela Sonnenburg

Weitere Daten: siehe „Spielplan“

Am 28. Januar 2016 debütiert Silvia Azzoni in der Titelrolle.

Zur Ferri in der Besetzung mit Dario Franconi 2017: www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-duse-2017/

www.hamburgballett.de

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