Hände, Füße, Rose – Kuss! Die „Jungen Choreografen“ vom Hamburg Ballett beglücken ihr Publikum wie stets im Vorfrühling mit Stücken aus Tänzerhand

Die Jungen Choreografen sind ein Publikumsrenner.

So sieht in diesem Jahr der Programm-Flyer für die „Jungen Choreografen“ vom Hamburg Ballett aus: spannend! Faksimile: Gisela Sonnenburg

Es ist vor allem die Freude an neu geschöpfter Bewegung, die man hier verspürt, eine Freude, die von innen kommt – das sieht man den Arbeiten an – und die mit dem abgefuckten Schielen auf äußerlichen Erfolg so gar nichts zu tun hat. Das Publikum weiß das und kommt darum in Scharen: Die Vorstellungen der „Jungen Choreografen“ beim Hamburg Ballett, alljährlich im Vorfrühling veranstaltet, sind stets rasch schon im Vorverkauf ausverkauft, was nun allerdings auch an ihrem für diese Sache viel zu kleinen Aufführungsraum, der Opera stabile, liegt. Diese kuschelige Zweitspielstätte der Hamburgischen Staatsoper, an ihrer nördlichen Rückseite gelegen, hat das Flair einer Mini-Kammerbühne, einer Probebühne, einer Werkstatt-Bühne, was auch sein Gutes hat: Man ist den Tänzern so nahe wie sonst selten. Und den Scheinwerfern auch! Die jetzt laufenden „Jungen Choreografen 2016“ vereinen im intimen Theaterlicht siebzehn brandneue Arbeiten, von Tänzerinnen und Tänzern kreiert. Sie sind aufgeteilt in zwei Programme – und auch wenn wohl alle Arbeiten ein Stück weit durch das Tanzen der Stücke von John Neumeier geprägt sind, so ergibt sich doch auch sehr viel Eigenes, Eigenwilliges, Neues, Originelles.

Wenn der Zug zur Anreise Verspätung hat, nützt das allerdings wenig. Darum kann hier nur ein Ausschnitt besprochen werden, vulgo: die zweite Hälfte vom „Programm A“. Für die Zukunft sollte man sich beim Hamburg Ballett allerdings eventuell Livestreams, also Synchronübertragungen ins Internet,  überlegen, was für die Jungchoreografen eine Chance wäre, ein breiteres Publikum zu erreichen und womöglich auch von dem einen oder anderen Fachmenschen mehr gesehen zu werden. Vielleicht ist es aber auch besser ohne allzu viel Vermarktung: Die Verlockung, nur auf Popularität zu setzen, könnte gerade für junge schöpferisch tätige Künstler auch sehr destruktiv sein.

Genug der Sorgen. Und rein in in den zweiten Teil vom „Programm A“!

„The Episodes of Absence“, die Episoden der Abwesenheit, nennt Miljana Vracaric ihren poetischen Langzeit-Pas-de-deux nach Musik des Filmkomponisten Philippe Rombi. Mit Silvia Azzoni und Alexandre Riabko fand das Stück hervorragende Interpreten: die beiden Ersten Solisten vom Hamburg Ballett drehten temperamentsmäßig voll auf, ließen Vibrationen der Liebe und der Sehnsüchte im Saal erschwingen.

Silvia Azzoni, im knöchellangen roséfarbenen Plissée-Rock, und ihr Mann, im Anzug ohne Krawatte mit weißem Hemd, wirken hier wir ein Paar, das nach einer eleganten Party neu zueinander findet. Doch immer wieder verlässt er sie – und sie bleibt, als personifizierte Sehnsucht, einsam zurück, in sensibel über den Boden gleitenden Soli und mit expressiver Gestik. Mal tanzt sie mit seinem Jackett, das er zurückließ, später auch mit seinem – nach ihm duftenden – Hemd. Und jedes Mal, wenn er auf die Bühne zurück kehrt, ist das wie ein Neuanfang ihrer Beziehung.

Die Jungen Choreografen sind ein Publikumsrenner.

Silvia Azzoni und Alexandre Riabko in „The Episodes of Absence“ von Miljana Vracaric: eine moderne Paarbeziehung hat es auch nicht nur einfach heutzutage, die Choreografin hat das in ergreifend sensible Bildwelten umgesetzt. Foto: Kiran West

Aber die Hebungen und Drehungen, die sie vornehmen, täuschen nicht darüber hinweg, dass ein Beieinandersein auch Arbeit ist. Hier ist es so, dass die beiden mitunter abrupt inne halten – und sie ihm verliebt durchs Haar streicht. Manches erinnert da an die Formensprache des frühen  Mats Ek, etwa die zweite Position als Ziel- und Sammelpunkt so mancher Schrittabfolge. Ein Tisch steht außerdem mit auf der Bühne, als Symbol für einen gemeinsamen Haushalt, in dem das Paar kurzzeitig ein so genanntes normales Glück empfindet. Aber genügen ihre Gefühle füreinander?

Vracarics Figuren sind sich über sich selbst nie ganz im Klaren, stets schwebt ein Hauch von Zweifel mit, ob die bürgerliche Existenz und das damit verbundene Beziehungsformat für sie befriedigend sein können. Und gerade das macht die Sache so modern und spannend.

Auch wenn das Pärchen zu zweit mit dem besagten Herrenjackett tanzt, so hat das nichts Komisches oder Verspieltes, sondern es ist ein ernsthafter Versuch, die Beziehung zu festigen. Mann und Frau erscheinen dabei wie siamesische Zwillinge, wobei jeder mit einem Arm einen Ärmel anhat. Da erhebt sich die Frage: Hilft man sich so oder behindert man sich vielmehr gegenseitig? Bedeutet „Beziehung“ vor allem Einengung und Aufgabe der eigenen Identität?

Es wurde schon richtig erkannt von der jungen Choreografin Miljana Vracaric: Eine echte Paarbeziehung von zwei Individuen ist heutzutage eine Herausforderung, will man nicht beim bloßen Zweck-und-Nutzen-Sozialvertrag („So, und jetzt gründen wir eine Familie!“ oder „So, und jetzt spielen wir das perfekte Team!“) miteinander enden.

Schließlich sind ihre eigenen Träume der tanzenden Frau in „The Episodes of Absence“ wichtiger, als ihren Geliebten um jeden Preis zu halten. Flugs ist der Mann dann alsbald aus ihrem Leben dauerhaft entschwunden.

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Miljana Vracaric, seit 2002 beim Hamburg Ballett, kann wirklich mehr als tanzen: Für Choreografie hat sie zweifelsohne großes Talent. Foto: Kiran West

Es bleibt eine ausdrucksstarke Pose als Schlussbild im Gedächtnis wie eingebrannt: Silvia Azzoni, mit einem wunderschön gerundeten Cambré rückwärts über den Tisch gebeugt, der einst für die Häuslichkeit ihrer Beziehung stand, der seine Symbolkraft jedoch an die frei und allein bleibende starke Solistin abgeben musste. Ein schönes, lyrisches Statement für die innere Freiheit der Einsamkeit, mit einer herzhaften, feministischen Note!

Nicht von ungefähr zitiert Vracaric dazu Voltaire: „Nie leben wir; vielmehr sind wir immerzu in der Erwartung zu leben begriffen.“ Denn nur das lockende Glück wird immer die Kraft der Hoffnung spenden. Oder, wie Oriana Fallaci es sagte: „Das Glück besteht darin, dass man ihm hinterher jagt.“

Zweifelsohne ist Miljana Vracaric ein choreografisches Talent, und sie weiß mit durchdachtem Aufbau und leitmotivischer Konsequenz ihre Sache zu gestalten. Bravo!

Ganz anders, nämlich viel illusionsloser und geradezu ernüchtert von der Modernität unserer Gegenwart, kommt Sasha Rivas Arbeit „Countdown“ einher. 4, 3, 2, 1: Das Stück wird musikalisch begleitet von der minimal music (als maximal anschwellendem Violinenrausch) des berühmten Komponisten Philip Glass. Riva zitiert choreografisch-szenisch Stücke wie „Othello“ von John Neumeier (und daraus die Abrichtungsszene der Emilia durch den grausamen Jago) sowie Nacho Duatos „Remanso“ (vor allem die darin von hinten zu sehende hohe seitliche Attitüde durch einen männlichen Tänzer, die mit Vladimir Malakhov, der sie 1997 in New York kreierte, berühmt wurde).

Es ist, als suchten die Personen in Rivas Stück einen Ausweg aus einer Welt der Zwänge und Grausamkeiten: zeitweisen Zugewinn an Freiheit finden sie immerhin auch, entweder in getanzten Partnerschaften oder in bestimmten Bewegungsmustern, die aus Menschen seltsame vogelartige  Lebewesen machen. Darum ist neben dem „Othello“-Zitat, das für eine ganz furchtbare Lebenserfahrung steht, auch die vogelschwingenartige Duato-Pose hier sehr berechtigt.

Vor allem aber kommt der Stil eines weiteren Choreografen mit ins Spiel: Marco Goecke.

Deutlich ist „Countdown“ von Goecke inspiriert und mutet zudem wie eine künstlerische Antwort auf dessen Choreografie „And the Sky on that Cloudy Day“ an. Das beginnt bei den Kostümen zweier Tänzerinnen, die je einen dunklen Anzug mit BH pur darunter tragen und solchermaßen an Goeckes Kostümdiktat der neuen Sachlichkeit erinnern.

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Hélène Bouchet, die großartige Primaballerina vom Hamburg Ballett, tanzt für Sasha Riva in „Countdown“ mal ganz à la Marco Goecke – so zu sehen bei den „Jungen Choreografen 2016“. Foto: Kiran West

In Dauerstehposen, die Füße in der fünften Position, mit markanten Handfigurationen wie eingefroren, haben Rivas Ballerinen etwas Marionettenhaftes. Der Mensch als Automatenpuppe der modernen Arbeitswelt, gefangen im Büro- und Management-Gestus, leidend unter seiner todschicken Kasernierung, in der die Seele zu einem überflüssigen Accessoire geworden ist, das sich nur noch Reiche leisten können.

Dagegen setzt das Stück immer wieder Akzente. So tanzt man hier nur in Socken, ohne Schuhe, um einerseits möglichst geschmeidig gleitende Bodenhaftung zu haben und um andererseits originell zu wirken. Sockentanz, das liegt zwischen barfuß und Fußbekleidung, das ist noch kein Kostüm, aber auch keine Nacktheit mehr.

So ein Dazwischen-Sein ist bestimmend für das Stück.

Riva, der auf eigenen Wunsch vom Hamburg Ballett scheidende Solist, choreografiert ja schon seit einigen Jahren immer mal wieder, ambitioniert und experimentierfreudig. Besonders gelingen ihm aber seine gymnastischen, abstrakten Soli, die er auch selbst tanzt und mit denen er so ziemlich jeder Musik einen neuen Sinn zu verleihen weiß.

Fast ist das wie ein zeitgenössisches Wiederaufgreifen der historischen Ausdruckstanz-Tradition, in der einzelne Tänzer nacheinander ihre heftigen Solonummern aneinander reihten.

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Sasha Riva experimentiert gern – und setzt dann collagenhaft verschiedene Stückpassagen zusammen. So bei den „Jungen Choreografen 2016“ in der Opera stabile. Foto: Kiran West

Aber auch die sechs tanzenden Personen in „Countdown“, die – getrieben von einem apokalyptischen Lebensgefühl – sich mühen, aus der Enge der Postmoderne auszubrechen, müssen als Einzelfiguren gesehen und isoliert voneinander betrachtet werden, will man ihnen auf den Grund gehen. Tatsächlich zeigt sich dann, dass jede und jeder von ihnen einen Weg herauszufinden versucht, um menschenwürdig zu überleben.

Hélène Bouchet und Yun-Su Park stehen links und rechts vorn, in den schon beschriebenen Goecke-Marionetten-Posen. Zwischen ihnen tobt das männlich-stürmische Leben: Da vollführen Sasha Riva und Luca Andrea Tessarini einen Herren-Paartanz, der sowohl Züge einer Rivalität als auch der Freundschaft trägt. Mit Ziyue Liu (die noch Studentin ist) kommt eine weitere Tänzerin, kess in Hotpants gekleidet, hinzu. Sie gilt Riva – der einen Gehrock trägt – und Tessarini – der wie Rivas Assistent wirkt – als Mitspielerin.

Hebefiguren, Drehungen, gleitende Schrittmuster: Die harmonisch vor sich hin wabernden Violinenklänge wirken dabei fast bescheiden gegen die exaltierten Übungen dieses Pas de trois.

Eine weitere Figur verkörpert Aleix Martínez: Im kalkgrauen Seidenrock zu nacktem Oberkörper kommt er wie aus einer anderen Sphäre zu den lebenden Robotern der Maschinenwelt. Er steht für das Geistige, für das Meditative, für das Spirituelle – wenn man so will, steht er auch für die asiatische Meditation im Gegensatz zum westlichen Alltag.

Sein explosives Solo zeigt dieses – und es endet mit einem radikalen Sturz zu Boden, aus einem Sprung heraus. Gekrümmt verharrt der Tänzer dann liegend, ganz so, als wolle er zeigen, dass er resigniert, weil man ihm nicht genügend Einflussnahme einräumt. Welcher Yogi würde das nicht von sich behaupten, in der heutigen Zeit?

Aber auch Sasha Riva als Hauptfigur landet immer wieder am Boden, er rappelt sich dann auf, wetzt in einem Affentempo über die Bühne, flieht in die schon erwähnte Pose aus „Remanso“. Das spanische Wort bedeutet übrigens soviel wie Stau oder Rückstau, und um eine Aufstauung von Gefühlen geht es auch in „Countdown“. Wie also soll der postmoderne Mensch mit seinen unterdrückten Emotionen und Trieben fertig werden?

Die weibliche Energie bringt eine Stimmungsaufhellung mit sich, und immer wieder scheint es, als würde eine Trinität aus zwei Männern und der jungen Ziyue Liu zu einer Lösung oder Erlösung von ihrer großen Spannung führen. Sasha Riva, Aleix Martínez und Ziyue Liu ringen hier scheinbar um eine neue Existenzform. Aber zeitgleich erheben die drei bald ihre Hände, wie auf ein geheimes Zeichen – und das Trio geht auseinander.

Riva und das Mädchen bleiben, effektvoll springt die junge Dame in einen Herrenspagat, von Riva gehalten und rückwärts geführt.

Zu fünft geht es weiter, alle außer Martínez tanzen jetzt synchron. Anpassung. Erfüllung in Attitüden und Penchés, die originell kombiniert werden. Doch die Stimmung kippt erneut: Mit Gebrüll (es wird laut gezählt) kommt jetzt die Abrichtungsszene. Danach rieseln weiße Blütenblätter herab – wie eine Belohnung für den bestandenen Initiationsritus.

Die Jungen Choreografen sind ein Publikumsrenner.

Noch einmal Hélène Bouchet in „Countdown“ von Sasha Riva: mit gefalteten Händen, die sie lange Zeit so halten muss… mit Grandezza macht sie das auch. Foto: Kiran West

Endlich tanzt das ganze Sextett. Alle führen die rechte Hand an die Stirn. Was wird die Zukunft bringen? Manche halten sich den eigenen Hals, als müssten sie sich würgen.

Um gefühlloses Abschiednehmen gehe es, verlautbart ein kleiner Hinweis im Programmzettel. Ganz klar: Riva versucht seine anstehende berufliche Veränderung zu verarbeiten, und dass er dazu eine Reihe von faszinierenden Bildern schöpft, ohne diese in einen plausiblen Zusammenhang zu bringen, ist zugleich so hoffnungsstiftend wie tragisch.

Authentisch wirkt Riva immer dann, wenn er sich selbst in Szene setzt, möglichst rückhaltlos, aber mit den für ihn typischen diszipliniert-schönen Linien. Dann strahlt er eine Ruhe, ein Bei-sich-Sein und eine seelische Kraft aus, die ihresgleichen suchen. Um mit Choreografie an sich zu reüssieren, fehlt ihm jedoch (noch) der dramaturgische Sinn, da ist zu vieles nur Experiment – und zu wenig hat durchdachte Haltbarkeit. Dass er sich Posen wie die von Malakhov aus dem Duato-Stück aneignet, ist hingegen okay – Riva schafft es, die „Leihgabe“ mit neuem Leben zu füllen.

Ganz konkret geht es dagegen in „Pain pushed me forward“ („Schmerz brachte mich voran“) von Braulio Álvarez zu. Der Titel bezieht sich allerdings nicht auf den Tänzeralltag, was man nun vermuten könnte, sondern auf ein Credo der kolumbianischen Schriftstellerin Maria Gomez Lara. Álvarez platziert außerdem eine Harfenistin auf der Bühne: Daphné Coullet zupft und bespielt ihr Instrument ganz sachte und zart, ganz so, wie es für Claude Debussys „Claire de lune“ („Mondschein“) aus der „Suite bergamasque“ angemessen ist.

Es handelt sich denn auch um einen tänzerisch illustrierten Traum, den wir sehen. Kafkaesk ist die Stimmung. Auf einem kleinen Schreibtisch liegen Unterlagen und ein Stempel, und eine lampenschirmlose Leuchte beginnt langsam zu glühen. Eine junge Frau, offenbar eine Beamtin oder Sachbearbeiterin (Sara Coffield), ist am Schreibtisch in ihrer Amtsstube eingeschlafen. Ihr blondes Haar fiel vornüber auf den Tisch… ihr Gesicht sehen wir erst, als sie vom Klang der Harfe scheinbar erwacht und sich einen Dutt knotet. Traumzeit ist also Zeit zu tanzen!

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Nicolas Gläsmann in der Schlusspose des Stücks „Pain pushed me forward“ von Braulio Álvarez, zu sehen in der Opera stabile bei den „Jungen Choreografen 2016“. Foto: Kiran West

Das geht nun nicht ohne Mann. Nicolas Gläsmann erscheint, in einem tomatenroten Overall. Er ist so etwas wie ein Geist, ein Spiritus: Die junge Frau scheint ihn nicht zu sehen, obwohl er mit einer verliebt-erregten Geste von hinten in die Luft, neben ihr Gesicht fasst. Oh! Er traut sich nicht richtig, will aber was von ihr. Und er ist von ihr so betört, dass er glatt umkippt!

Aber er ist nicht allein mit ihr. Mit Matias Oberlin taucht ein Konkurrent auf. Im blauen Hemd zur weißen Hose wirkt dieser sportlich und dem Diesseits stark verbunden, er ist ein munterer Modegeck, der die junge Frau am Schreibtisch aus der Reserve lockt. Sie tanzen einen fast klassischen Paartanz, sie in Spitzenschuhen, er mit schöner gerader Haltung, und er zieht ihr dabei glatt einfach das seidene Oberteil aus (darunter trägt sie ein Trikot). Tessarini, mittlerweile wieder wach, nimmt das weibliche Kleidungsstück und faltet es liebevoll zusammen, legt es auf den Schreibtisch.

Gemeinsam ziehen die Jungs dem Girl dann die rote Hose aus, ganz neckisch wirkt das, gar nicht obszön oder anzüglich. Es soll wohl alles ihre Fantasie sein, ihr erotischer Traum. Kein Wunder also, dass sie alles mit somnambulem Gleichmut über sich ergehen lässt.

Zwischendurch übernimmt Tessarini den Platz am Schreibtisch und schraubt das Tintenfässchen dort sorgsam zu. Nicht, dass es noch austrocknet!

Sie zieht alsbald ihre Hose wieder an und würdigt die Männer noch immer keines Blickes. Sie hatte ihren Spaß. Ganz schön herzlos – oder auch emanzipiert, wie man es sehen will.

Erneut schleicht sich Tessarini an sie heran, tänzelt ein entzückend verliebtes Solo zum Harfenklang, hebt sie in einen Pas de deux, gibt ihr noch eine Drehung, dann setzt er sie wieder ab, auf ihren Stuhl. Und seine Hand wiederholt die halb lüsterne, halb verhaltene Geste vom Stückbeginn: als wolle er das schöne Mädchengesicht streicheln.

Aber was macht sie? Ungerührt schaut sie ihr gefaltetes Seidenhemd an, lässt es lustlos auf dem Tisch liegen – und geht auf und davon. Feierabend.

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Braulio Álvarez choreografierte mit „Pain pushed me forward“ eine kleine Geschichte, die von den erotischen Sehnsüchten einer jungen berufstätigen Frau erzählt. Foto: Kiran West

Tessarini bleibt zurück, fühlt sich vereinsamt, auf sich zurück geworfen. Das ist der „Spectre de la Rose“, wenn die Show vorbei ist! Und er verharrt in einer Schlusspose, mit neben dem Körper gestreckten Armen, den Kopf nach hinten in den Nacken geworfen – ein Mensch wie ein stummer Schrei nach Liebe. Rührend.

Sicher ist das kein schlechtes Ballett. Aber so ganz ausgereift wirkt es eben auch nicht, wiewohl es absolut Spaß macht zuzusehen. Die einzelnen Figuren sind aber nicht immer ausreichend szenisch plausibel, und das macht aus dem fein ziselierten Stück zur Harfe ab und an einen derben Holzschnitt. Mit etwas Nachbesserung dürfte hier noch ein richtig tolles Werk entstehen können. Zum Trost sei gesagt: John Cranko war auch immer nur dann richtig genial, wenn er ein Stück mehrfach überarbeitete.

EINE ROSE SPIELT EINE TRAGENDE ROLLE – WEIL MIT IHR GETANZT WIRD

Eine Rose spielt dann im letzten Ballett dieses Programms eine wichtige Rolle. Marcelino Libao dachte sich mit „Beautiful Soul“ („Schöne Seele“) eine Geschichte aus, die schon fast ein richtiges Libretto hat. Es geht um den Umgang mit Dunkelheit, Tod und Trauer darin, und ein Kommentar des Choreografen stellt sinnvollerweise fest, dass Licht und Dunkel einander bedingen – denn ohne einander sind sie nicht zu unterscheiden. Schließlich benötigen der Mond und die Sterne die Düsternis, um richtig zu glänzen, während die Dunkelheit es ohne die siderischen Lichter nicht wert wäre, angesehen zu werden.

Die modischen, dennoch zeitlos schönen Kostüme in den edlen Nichtfarben Schwarz und Weiß schuf der Tänzer Lennart Radtke für „Beautiful Soul“: Er hat fürs Textildesign offenbar ein Händchen!

Vorab gibt es ein Hörspiel, da hören wir aus dem Off ein Auto anfahren, wir hören, wie es fährt, es fährt weiter, es fährt um eine Kurve, und man ahnt es schon, gleich gibt es einen Unfall – und tatsächlich, es rummst, die Blaulichtsirene ertönt, dann hört man Krankenhausgeräusche… dank film- und fernsehgeschultem Gehör ist das Publikum von heute mit solchen Sounds flott in ein Geschehen einzuführen. Geschickt macht sich das Marcelino Libao zunutze.

Vorne links blüht dazu im Lichtkreis eine Rose – sie steht für die positive Verbindung von Tod und Leben, für das, was so schwer zu benennen ist.

Und man wünscht sich, in einer deutlich naturverbundeneren Sprache als Hochdeutsch zu denken, um mehr Vokabeln für die Zwischenwelten von Hoffnungsfreude und Jammerfrust zur Verfügung zu haben!

Denn offenbar geht es hier um die spirituellen psychologischen Vorgänge in Menschen, die Krisenzeiten erleben, die Verlust bewältigen und mit neu geschöpfter Hoffnung neu anfangen müssen.

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Mayo Arii und Christopher Evans tanzen sehr überraschende Paartänze in Marcelino Libaos „Beautiful Soul“, so zu sehen bei den „Jungen Choreografen 2016“. Foto: Kiran West

Nach diesem Vorspiel beginnt denn auch eine ballettberühmte, jenseitig gestimmte, wunderschön ätherische Musik: Das zirpende Streichquintett C-Dur von Franz Schubert. John Neumeier hat es einst mit seiner „Vierten Sinfonie von Gustav Mahler“ zu dem Abend „Wendungen“ zusammen gefasst – und einen ergreifenden Frauenensemble-Part mit weit ausgestreckten Armen bei hohen, rund gebeugten Ellenbogen zur zweiten Fußposition zu diesem Beginn choreografiert (wenn ich mich richtig erinnere).

Libao zitiert aber seinen großen Vorgänger nicht choreografisch. Er kreiert hier selbst, ganz unabhängig von Neumeiers Stück, aber passend zu der Geschichte von dem verunfallten Auto. Schnell wird klar: Offenbar starben zwei Menschen, ein Paar, bei dem Crash, und das hinterbliebene Paar, ein jüngeres, trauert um sie.

In der Erinnerung tauchen Silvia Azzoni und Marcelino Libao als Verstorbene auf, sie tanzen mit lieblicher Energie einen behutsamen Paartanz.

Das zweite Pärchen, Mayo Arii und Christopher Evans, ist hier herausragend, es tanzt dramatisch seine Trauer. Sie schreit da auch mal laut vor Schmerz, und er hebt sie daraufhin, als wolle er ihr Halt geben.

Dann vollführen sie einen spektakulären Akt, indem er sie an einem Bein aus der Hocke hochzieht und sie so in seine Arme springen lässt. Die sehr zierlich-zarte Mayo absolviert das mit wunderschöner Grazie, und Christopher hat genau den richtigen Gentleman-Touch, um das zu zelebrieren. (Man wünscht sich die beiden, die ein ausgezeichnetes Pas-de-deux-Pärchen abgeben, auch auf der großen Bühne der Hamburgischen Staatsoper mal als Paar – bitte in einem Neumeier-Stück.)

Zurück zu Libaos Kreation. Die Trauernden hier tragen ja weiterhin Schwarz, die Lichtgestalten der Erinnerung hingegen Weiß. Zeitgleich tanzen die Paare jetzt, aber in verschiedenen Sphären…

Welten trennen sie, die Lebenden und die Toten, und doch ist es nur eine Welt, die sie umfängt.

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Marcelino Libao, geboren in Manila, schuf ein Stück, das erkennbar andere als nur westliche Prägung hat und sich zur Seele der Natur bekennt. Schön! Foto: Kiran West

Auch ein schön geknutschter Kuss hilft da beim Trauern, und als Mayo Arii dann beflügelt ein Solo tanzt, kommt sie zur Rose, die immer noch links vorn an der Rampe blüht.

Die Musik pausiert, und in der Stille der Gedankenkraft findet das Mädchen die Rose wie ein Stück Hoffnung – Mayo liebkost die Blume und tanzt mit der Naturikone, als sei diese ein lebendiger Geist. Und von Takt zu Takt – jetzt erklingt ein Stück von Max Richter – bessert sich die Lage der Trauernden, der Dialog mit der Blüte verleiht ihr Lebensfreude.

Hier ist zu erfahren, wie es ist, wenn Multikulti kein aufgesetztes Dikat ist, sondern sich aus der Herkunft und der Prägung des schöpferisch tätigen Künstlers entwickelt. Libao kommt aus Manila, von den Philippinen, und dieser Inselstaat ist zwar katholisch geprägt, auch islamisch, verfügt aber dennoch über Stämme mit Naturreligionen, die sehr viel ältere, ursprünglichere Gedankenwelten bewahren.

So wird die Rose, ohne, dass es kitschig wird, als Lebewesen ernst genommen und zugleich als Projektionsfläche für Wünsche benutzt.

Richtige Fröhlichkeit spendet sie zuletzt – dafür wird sie glatt wie ein Baby im Arm gewiegt. Die schöne Seele aus dem Titel ist zweifelsohne diejenige, die mit den Pflanzen und ihren Geistern korrespondieren kann. Und wenn Mayo Arii mit sinnlicher Hingabe an der Rose riecht, hat man gar das sichere Gefühl, dass die Natur dem Menschen so viel mehr zu geben hat, als er zumeist auch nur erahnt, dass jedes Baumfällen und jeder Straßenbau eigentlich schon einem Frevel gleichkommt.

Wie wollen wir, die Menschen, das Unrecht an der Natur eigentlich jemals wieder gut machen? Sicher ergibt diese Frage Stoff für viele Ballette…

AUF ZUM ZWEITEN PROGRAMM DER „JUNGEN CHOREOGRAFEN“ !

Mit Themenballetten lockt aber auch das „Programm B“ der „Jungen Choreografen“ in Hamburg. So hat Lennart Radtke mit „M. A.“ ein Stück zu Marie Antoinette erarbeitet – und sich dafür unter anderem mit Stefan Zweigs Portraitessay auseinander gesetzt. Sehr spannend klingt das!

Aljoscha Lenz nennt sein Stück zu Musik von David Lynch (dem einstigen Anführer der Talking Heads) „Götterboten“ – und vielleicht schwingt dabei viel Aura mit. Nach Lenzens Motto: „I want you, and I want you to be.“

Florian Pohl folgt mit dem Titel „I Giorni“ (Die Tage) hingegen strikt einem Songtitel von Ludovico Einaudi – die Musik umzusetzen, lautete die Aufgabe, die er sich gestellt hat. Auch so etwas kann sehr sinnstiftend sein.

Die Jungen Choreografen sind ein Publikumsrenner.

Ein Blick in den geöffneten Programmzettel für „Programm B“ der „Jungen Choreografen 2016“ beim Hamburg Ballett. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Marc Jubete gewann Richard Hoynes, den langjährig erfahrenen Pianisten vom Hamburg Ballett, für eine Live-Performance mit Philip Glass – für „Metamorphosis“, das Stück setzt ebenfalls vor allem die Musik um.

Kristína Borbélyová hält sich hingegen an Fjodor M. Dostojewski, den großen russischen Romanautoren, den sie für ihr Stück „Oratio“ zitiert: Die Hölle sei das Leiden an der eigenen Unfähigkeit zu lieben, so heißt es in „Die Brüder Karamasow“. Auf dass kalte Herzen sich endlich erwärmen…

Christopher Evans schließlich fährt mit „Soul Sketch“ auch Musik von Max Richter auf, wie schon Marcelino Libao – aber ihm geht es um die Notwendigkeit oder auch Unmöglichkeit von Geschehnissen. Klingt toll, wenn das nicht nur philosophisch gemeint ist.

Und auch Luca Andrea Tessarini („Aether“), Konstantin Tselikov („Solo für zwei“) und Aleix Martínez („Kleines Requiem“) haben sich neben ihrer Arbeit als Vollzeittänzer viel Mühe gemacht, mit Kolleginnen und Kollegen eigene Stücke zu kreieren und sie nun im Rahmen vom „Programm B“ zu zeigen. Wer da nicht gespannt ist, der ist wohl wirklich selbst schuld.
Gisela Sonnenburg

Und die begabten Nachwuchs-Choreografen (nebst Publikum) haben großes Glück:

Am 12. und am 13. Juli werden sie ihre Stücke im Rahmen der 42. Hamburger Ballett-Tage in einer von John Neumeier getroffenen Auswahl im großen Haus der Hamburgischen Staatsoper zeigen – statt einer Gastspielcompagnie. Toi, toi, toi!

Und hier die Rezension vom Juli 2016 dazu:

http://ballett-journal.de/hamburg-ballett-aspekte-der-kreativitaet/

www.hamburgballett.de

 

ballett journal