Liebe als Fremdsein in der Welt Was Simone de Beauvoir mit der Ballettheldin „Die kleine Meerjungfrau“ zu tun hat. Das Hamburg Ballett tanzt das Stück von John Neumeier wieder – und die erhältliche DVD zeigt eine Aufführung aus San Francisco. Diese ist auch auf arte zu sehen

Mermaid Azzoni

Die Meerjungfrau, an Land zur Frau geworden, und zwar zur ungeliebten, sehnt sich zurück in ihre Unterwasserwelt, die Sphäre ihrer Kindheit und Unbeschwertheit… das Symbol dafür ist die Muschel, statt Kinderlied oder Teddybär. Hier ist Silvia Azzoni vom Hamburg Ballett in einer ihrer Lieblingsrollen zu sehen. Foto: Holger Badekow

Es ist wenig bekannt, dass Simone de Beauvoir eine mehrjährige Lovestory durchlebte, die außerhalb der Normen und Konventionen stattfand und mit Jean-Paul Sartre, ihrem offiziellen Lebenspartner, nicht viel zu tun hatte. Aber die Femme fatale der Publizistik war auch in Sachen praktizierter Liebe keine Zauderin; sie lebte, was sie liebte, und sie liebte, was sie lebte. Doch dazu später.

Berühmt wurde Simone de Beauvoir mit einem theoretischen Werk. Es handelt sich um einen feministischen Bestseller der Weltgeschichte: „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir, erstmals 1949 erschienen, beleuchtet „Sitte und Sexus der Frau“. Es ist absichtlich nicht vom „schönen Geschlecht“ die Rede, sondern vom „anderen“. In der Einleitung begründet die französische Autorin: „Die Kategorie des ‚Anderen’ ist ebenso alt wie das Bewusstsein selbst.“ Und: „Das Andere ist eine grundlegende Kategorie des menschlichen Denkens.“ Das Andere ist, was diskriminiert und geächtet, abgestoßen, ja verstoßen wird.

Buch von vorn

Simone de Beauvoirs Meisterwerk in einer viel benutzten Ausgabe vom Rowohlt Verlag. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Anderssein, Fremdsein, nicht in diese Welt gehören: Diese Erfahrung können Frauen in einer von Männern für Männer geformten Gesellschaft täglich machen. Anpassung und Tabuisierung werden ihnen als Krücken angeboten. In der Kunst aber bleiben bestimmte Werte über alle Zeitläufte hinweg aktuell. So die Liebe mit freier Partnerwahl. Was so einfach klingt, ist menschheitsgeschichtlich ein Problem: Unter welchen Bedingungen können sich Sex- und Lebenspartner wirklich unabhängig von äußeren Faktoren begegnen?

Simone lesen

Simone de Beauvoir lesen und dabei an Pumps denken – auch das passt zusammen. Man kann aber auch an die „kleine Meerjungfrau“ denken und zur Tanzstunde gehen… Faksimile: Gisela Sonnenburg

Es ist wie in der Tanzstunde. Die mit den tollen Klamotten und viel Elan in den Hüften können sich ihre Partner aussuchen. Die „häßlichen armen Entleins“ müssen nehmen, was übrig bleibt. Sich gegen die Klassenzensur der Geschlechtlichkeit aufzulehnen, erfordert Mut – und sei es den der Verzweiflung. So auch im literarischen Fall der „kleinen Meerjungfrau“, die der dänische Poet Hans Christian Andersen 1837 in die Ozeane der Kulturgeschichte losschwimmen ließ. Den Mythos von Undinen, Nixen, Nymphen, Sirenen – weiblichen Wassergeistern – kannte man damals bereits. Zum Synonym für Liebe, die selbstlos stärker ist als der Tod, wurden Seejungfrauen aber erst durch Andersens Kunstmärchen.

John Neumeier

Eloquent und kreativ: John Neumeier, Meisterchoreograf, erklärt sein Werk, auf deutsch und auf englisch, im Bonus-Material der DVD „The little Mermaid / Die kleine Meerjungfrau“, die bei C Major Entertainment erschien. Videostill der DVD: Gisela Sonnenburg

John Neumeier, Hamburgs Ballettchef, schuf im Andersen-Jubliäums-Jahr 2005 ein abendfüllendes Ballett, und zwar als Auftragsarbeit des Königlich-Dänischen Balletts in Kopenhagen. Auch das Bühnenbild, die Kostüme und das Licht stammen von ihm. Die Musik schuf Lera Auerbach, die amerikanische Neumeier-Komponistin russischer Herkunft. Neumeier hatte ihre Musik für sich entdeckt, als er „Préludes CV“, ein speziell für seine Hamburger Compagnie geschaffenes Ausnahmeballett kreierte.

Für die „Meerjungfrau“, die ja in Dänemark eine Nationalfigur ist, erhielt Auerbach den Auftrag zur Neuerstellung einer Komposition, was in enger Absprache mit Neumeier zu leisten war. Ihre Musik zitiert einerseits bodenständige Rhythmen, wie solche aus Kurt Weills „Kanonen-Song“, mixt andererseits aber auch vom Einschlag her Schwerblütiges mit Experimenten. Eine „heulende“ elektronische Leier ist dabei der Sirenenstimme der Meerjungfrau zugeordnet. Leitmotive stehen für Ängste, Hoffnungen, Enttäuschungen. Genau diese Atmosphären wollte Neumeier.

Silvia Azzoni Mermaid

„Die kleine Meerjungfrau“ ist in Hamburg eine eingeführte Größe. Die Hanseaten können sie sich gut in der Nordsee vorstellen… Meerjungfrauen sind ja nicht auf einen bestimmten Salzgehalt im Wasser abonniert. Hier Silvia Azzoni in ihrer Glanzrolle. Foto: Holger Badekow

Insgesamt ist Neumeiers „Die kleine Meerjungfrau“ (auch als DVD von C Major Entertainment zu haben) ein sehr modernes Tanzdrama, das die Probleme einer Außenseiterin beschreibt. Sie ist hier nicht mit einem Fischschwanz, sondern mit einem überdimensional langen, die Bewegungen zugleich behindernden und prägenden, dazu effektvoll flatternden Hosenrock ausgestattet. Die hier wundervoll passende vornehmliche Titelrollen-Ballerina in Hamburg ist Silvia Azzoni. Sie absolviert, um die blauseidenen Textilmassen zu stemmen, stets ein spezielles Kraft-Training, wenn sie die Rolle probt.

Choreograf Neumeier schrieb das Libretto zu seiner „Meerjungfrau“ selbst – und schuf darin die Figur eines Dichters (selbstverständlich ist H. C. Andersen gemeint), der seine unerfüllte Liebe zu einem heterosexuellen Freund als Liebe einer Meerjungfrau zu einem Prinzen projeziert. Andersen als Meerjungfrau; der homosexuelle Mann als Frau oder Zwischenwesen; der unglücklich liebende Mensch als Märchenwesen.

Azzoni und Riggins

Silvia Azzoni, die „Meerjungfrau“, mit Lloyd Riggins als Dichter: eine symbiotische Beziehung, denn sie ist seine Erfindung, wobei auch er eine Erfindung ist! Wunderschön. Foto: Holger Badekow

Neumeier lässt das Ballett mit der realen Hochzeit des Freundes von Andersen auf einem Dampfer beginnen. Der leidende Dichter im Frack mit Zylinder als Trauzeuge – Lloyd Riggins kreierte hiermit eine seiner Paraderollen. Er tanzte sie auch als Gast, so auch auf der DVD, die mit dem San Francisco Ballet aufgezeichnet wurde.

Und dabei handelt es sich um ein Kunstmärchen, also um eine fiktive Geschichte, die aber an den Strukturen und auch Klischees von Märchen orientiert ist. Da ist die Meerjungfrau zunächst die naive Nixe, die sich ahnungslos auf dem Meeresgrund tummelt. Bis ein attraktiver Prinz angeschwemmt wird und zu ertrinken droht. Sie verliebt sich in ihn, und dieser Tanz der beiden ist ein Highlight: Der Mann – ohnmächtig im Wasser treibend – ist den Wellen ergeben und nahezu willenlos, während sie – aktiv und stark – mit ihm spielt, als sei er ein Stofftier. Wie nebenbei verhilft sie ihm ans Ufer, damit er dort aufatmen kann.

Bouchet und Franconi

Die Meerjungfrau und der Prinz – hier die schöne Héène Bouchet und Dario Franconi. Kein wirklich passendes Paar, aber sie liebt und rettet ihn. Foto: Holger Badekow

Der Pas de deux findet teilweise am Boden statt – im Bühnenbild bedeutet das den Meeresboden. Im Hintergrund wabern Algen und andere Meeresflora, also eine irgendwie geartete Belebung des Gewässers, subtil dargestellt von Tänzerinnen und Tänzern. Sie spiegeln die Liebe, die bei der Meerjungfrau entsteht – eine unendlich positive Energie.

Klassisch kann man die Paarkonstellation von ihr und dem Prinzen jedoch nicht nennen: Die Meerjungfrau liebt über Grenzen und Konventionen hinweg. Aber später, als sie ihren Hosenrock opfert, um schmerzensreich mit menschlichem Gebein an Land zu gehen, nähert sie sich ihrem Geliebten nur noch als Fremde. Als seltsame Kreatur, die dem Meer entstieg, und die, bei aller Herzenswärme, nicht so recht in die Glanz- und Glamourwelt der Menschen passt.

Als ewige Ausländerin, eine Migrantin ohne Antrag auf Einbürgerung, wird sie vom Prinzen zwar mit „haustierfreundlicher“ Sympathie am Hof der irdischen Eitelkeiten aufgenommen. Aber mit Liebe, mit Sex gar, kommt sie nicht mehr zum Zuge. Das lässt tief blicken: Der Dichter identifiziert sich ja mit ihr, meint, seinem Herzensprinzen sehr geholfen zu haben, ohne den Dank dafür zu bekommen.

Prinz blind

Der Prinz, kurzzeitig erblindet durch die Hand seiner späteren Gattin, der Prinzessin, ahnt nicht einmal, wer ihn wirklich vorm Ertrinken rettete… Aber selbst wenn – würde er sich deshalb in die Meerjungfrau verlieben? Wohl eher nicht. Ihre Zuneigung ist tragischer Art, weil unerwidert. Hier ein Videostill von der DVD „The little Mermaid / Die kleine Meerjungfrau“ von C Major Entertainment. Videostill: Gisela Sonnenburg

Denn der Prinz – ein etwas oberflächlicher Junge – glaubt, ein Mädchen aus der Oberschicht habe ihn gerettet. Dieses kennt seine Sitten und Gebräuche, es ordnet sich der patriarchalen Rangordnung unter – und sie erobert mit Lügen und traditionellen Reizen sein Herz. Er heiratet sie. Sie ist eine Prinzessin und somit standesgemäß.

Was der Meerjungfrau, die jetzt sogar zeitweise im Rollstuhl sitzen muss, den Rest gibt. Sie litt schon zuvor an der Enge und Unwirtlichkeit der menschlichen Umgebungen. Sehnsucht nach dem Meer trieb sie um, auch Wut über ihr Versagen in Bezug auf die menschliche Liebe. Aber jetzt muss sie auch noch Trauzeugin bzw. Brautjungfer spielen – und meint, daran zu ersticken.

Nicht zufällig tragen die Brautjungfern auf der Hochzeit, zu der der Dichter geladen ist (der am Anfang aus dem Prolog) dieselben rosaroten Kleider wie zur Hochzeit des Prinzen. Rahmenhandlung und Hauptgeschichte verschmelzen.

Am Ende stirbt die Liebe mit der Meerjungfrau: Unsterblich wird sie im Ballett aber nicht als Gischt auf den Weiten des Meeres (wie bei H. C. Andersen), sondern in einem letzten ergreifenden Pas de deux, im ewigkeitsversonnenen Sternentanz mit dem Dichter, der sie sich zum Trost erfand.

Mermaid and Poet

Ein letzter Pas de deux, ein Sternentanz von Meerjungfrau und Dichter: ergreifend. Videostill der DVD „The little Mermaid / Die kleine Meerjungfrau“ von C Major Entertainment: Gisela Sonnenburg

Was bleibt, ist die Idee von Liebe gegen Diktate und Klassengrenzen. Die Meerjungfrau verknallt sich in einen Mann in all seiner Hilflosigkeit. Dass ihre Tugenden und Leistungen, emotionalen und ästhetischen Mühen, ihre Tapferkeit und Courage, Gutherzigkeit und Willensstärke nicht anerkannt, ja nicht einmal beachtet werden, liegt nicht an ihr. Sondern am überkommenen, dem Untergang geweihten Gesellschaftssystem, in dem Menschen einander nicht mehr als Individuen wahrnehmen, sondern nur nach Vorgaben von Klischees und Gewohnheiten handeln.

Die Diskriminierung von Homosexuellen, die im westlichen Abendland eine grauenvolle, lange, traurige Tradition hatte und hat und die in anderen Kulturkreisen noch immer sehr stark und sogar stärkstens ausgebildet ist, passt hier als Grund, dieses Ballett als ein Pamphlet für die Menschenrechte zu sehen.

Mermaid

Ein Ballett auch gegen die Diskriminierung von Frauen. Yuan Yuan Tan hier als Meerjungfrau, die ihren Fischschwanz unter großen Schmerzen gegen Menschenbeine eintauscht. Videostill der sehr zu empfehlenden DVD „The little Mermaid / Die kleine Meerjungfrau“ von C Major Entertainment: Gisela Sonnenburg

Aber auch die ebenfalls grauenvolle, ebenfalls lange, traurige Tradition der Diskriminierung von Frauen ist mit dieser Inszenierung ein Thema. Die Gesellschaft in Neumeiers „Meerjungfrau“ akzeptiert Frauen nur als Stellvertreterinnen des Patriarchats, als Aufrechterhalterinnen des monarchischen Systems. Als eigenständige, von außen kommende Personen haben sie lediglich die Chance auf Mitleid – auch wenn sie noch so sehr lieben und ihre Verdienste noch so lebenserhaltend sogar für das Oberhaupt dieser Gesellschaft, den Prinzen, waren.

Es herrscht grober Undank den Frauen gegenüber, die sich dem dreifachen „K“ – Kinder, Küche, Kirche – verweigern, ob freiwillig oder, wie die Meerjungfrau, weil man sie gar nicht erst hinein lässt in die gute Stube der passenden sozialen Klasse.

Buch mit Lebenserfahrung

Die Lebenserfahrung der de Beauvoir lässt sich nur in ihrem Werk nicht erfassen – aber sie lebte ihre Ideale. Faksimile des Bandes von Rowohlt: Gisela Sonnenburg

Simone de Beauvoir war ebenfalls mit so einer Gesellschaft konfrontiert. Auch wenn sie aus der Oberschicht stammte: Als Intellektuelle war sie eine oft bestaunte Seltenheit, nicht nur aufgrund dessen, was sie sagte, sondern vor allem, weil sie als Frau dieses so entschieden kundtat.

Und wie die Meerjungfrau musste auch sie etwas opfern. Allerdings entschied sie sich nicht gegen, sondern für ihre Freiheit. Mit Jean-Paul Sartre traf sie einen phallischen Verbündeten. Sie waren ein Paar, loyal und stark, lebten aber nie zusammen. Ihre „Liebe“ war ein „Pakt“, etwas, das dem Kampf für die richtige – linke, aufklärend-philosophische und emanzipierende – Sache unterstand.

Meerjungfrauenfuss

Ein Ballerinenfuß und ein Prinz, der ihn untersucht: Dieses ist einer der wenigen für die Meerjungfrau hoffnungsvoll knisternden Momente in der Geschichte zwischen ihr und dem Prinzen an Land… Videostill aus der DVD „The little Mermaid / Die kleine Meerjungfrau“ von C Major Entertainment: Gisela Sonnenburg

Eine Amour fou erlebte Simone außerhalb der geordneten Alltagsbahnen: 1947 traf sie in Chicago den Schriftsteller Nelson Algren, der sie ähnlich faszinierte, wie der Prinz die kleine Meerjungfrau.

Als Nelson sie zwei Jahre später, 1949, in Paris besuchte, erschien gerade „Das andere Geschlecht“ – das Buch rief wütende Reaktionen hervor.

Simone wurde beschimpft und verfolgt. Aber wie zum Spott ihrer Hasser half ihr diese negative Sensation, um mit dem Geliebten ins Idyll dörflichen Lebens zu fliehen.

Der Skandal war als Vorwand willkommen. Die Beziehung zu Sartre gab Simone für ihre romantische Empfindung dennoch nicht auf. Letztlich gab sie ihrem „Sexgott“ Algren, der als Alkoholiker starb, den Laufpass, widmete sich ihrer feministischen und politischen Sache.

Deren Unterstützer war Sartre – nicht der Bettgenosse aus den USA. Gelebt hat Simone einige Jahre später zudem mit Claude Lanzmann, dem in Sachen Holocaust-Aufklärung engagierten Filmemacher („Shoah“) – ohne, dass diese Beziehung zu ihm den Pakt mit Sartre gefährdet hätte.

Das Werk von de Beauvoir zu lesen, lohnt immer, auch wenn es sprachlich und vom Aufbau her nicht mehr wirklich up to date ist, wie man oder frau auch als geneigte feministische Leserschaft ruhig sagen kann. Das ist ein Ansporn, es mit anderen Büchern, die seither zum Thema erschienen, zu vergleichen.

Lloyd Riggins erklärt

Lloyd Riggins erklärt im Bonus-Material der DVD „The little Mermaid / Die kleine Meerjungfrau“ von C Major Entertainment das Stück und seine Rolle als Dichter darin. Videostill der DVD: Gisela Sonnenburg

Bis dahin kann man nicht nur „Die kleine Meerjungfrau“ in Hamburg genießen, wo sie wieder auf dem Spielplan steht. Man kann sich auch die gleichnamige DVD ansehen. Sie erschien als Album, also mit zwei DVDs, und die zweite DVD enthält Bonus-Material, das hinter die Kulissen guckt. Die Künstler erklären sich hier, und man kann zwischen den Sprachen englisch und deutsch wählen.

Noch etwas ist erwähnenwert: Der ursprünglich chinesische Tanzstar Yuan Yuan Tan – als Titelheldin – verleiht der Verfilmung einen speziellen Geschmack. Energisch, spiddeldürr, aber sehr ausdrucksstark hat diese Erste Solistin des San Francisco Ballet hier ihr Profil gezeigt!

Zu den Hamburger Besetzungen:

Lloyd Riggins als Dichter wurde bereits lobend erwähnt – er war zudem „at his best“, also in Topform, als die DVD am 30. April und 7. Mai 2011 aufgezeichnet wurde (man kann indes streng genommen nicht von einer aufgezeichneten Aufführung sprechen, sondern sollte von einer Verfilmung reden, da die Szenen aus zwei Aufzeichnungen montiert wurden).

Riggins wurde die Rolle des trauernden Homosexuellen, des dennoch fantasievollen Liebenden, von Neumeier quasi auf den Tänzerleib choreografiert. Dennoch überzeugt auch der noch ganz junge Sasha Riva in diesem Part, zumal er Riggins nicht kopiert, sondern eine andere, stärker stilisierte und an manchen Stellen zurückhaltendere Interpretation wählt.

Silvia im Hosenrock

Silvia Azzoni vom Hamburg Ballett und die Stoffmengen des „Meerjungfrauen“-Hosenrocks: Poesie total. Foto: Holger Badekow

Silvia Azzoni ist die Meerjungfrau schlechthin in Hamburg. Mit ihr wurden auch die Änderungen bei der Erstellung der so genannten Hamburger Fassung des Balletts kreiert. Sie lässt, in der Titelrolle, von Beginn an ahnen, dass diese Lovestory nicht gut gehen wird, und man empfindet vom ersten Atemzug, den sie im flatternden Hosenanzug auf der Bühne macht, mit ihr.

Hélène Bouchet ist aber nicht minder beeindruckend. Ihr gelingt die Metamorphose der Meerjungfrau besonders gut. Zu Beginn und auch zunächst an Land hat sie so viel Hoffnung auf eine große Liebeserfüllung, dass es schmerzlich ist zu sehen, wie sich diese Hoffnung verliert und die Meerjungfrau zunehmend erkennen muss, dass der Prinz in ihr wohl niemals mehr etwas anderes als ein seltsames, tierähnliches, geschlechtsloses Wesen sehen wird. Diese Entwicklung zu zeigen, hin zum erst wütenden, dann unendlich traurigen Gefühl gelingt Bouchet ganz besonders schön.

Mermaid like in prison

DIe Meerjungfrau fühlt sich an Land sterblich einsam – in einer engen, sterilen Welt des Ungücklichseins. Das Bühnenbild von John Neumeier verstärkt dies. Videostill von der DVD „The little Mermaid / Die kleine Meerjungfrau“ von C Major Entertainment: Gisela Sonnenburg

Carsten Jung ist mit der Rolle des Prinzen berühmt geworden. Dieser Prinz, der sowohl – in der Unterwasserwelt – ein hingebungsvoll Williger sein kann als auch – an Land – ein schnittiger Militär, gewinnt mit Jung stets Kontur.

Dario Franconi als Prinz ist noch nicht ganz so versiert, bringt aber ebenfalls die Herzen zum Schmelzen, wenn er sich von der Meerjungfrau beflirten lässt. Sein Prinz begreift es sogar als Verstörung, dieser Unterwasserfee zu begegnen – er scheint schon hier zu ahnen, dass er aus dieser zaghaften Liebesverbindung für sich keinen emotionalen Reichtum mehr schöpfen wird, sowie er wieder an Land ist.

Meerjungfrau unter Wasser

So wird sie in Erinnerung bleiben: Die Meerjungfrau in ihrer Welt. Foto: Holger Badekow / Hamburg Ballett

Aber auch für Prinzen gilt, was Simone de Beauvoir am Ende ihres „anderen Geschlechts“ feststellen kann: „Der Mensch hat zur Aufgabe, in der gegebenen Welt dem Reich der Freiheit zum Sieg zu verhelfen. Damit dieser höchste Sieg errungen wird, ist es unter anderem notwendig, dass Mann und Frau jenseits ihrer natürlichen Differenzierungen rückhaltlos geschwisterlich zueinander finden.“
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

www.hamburgballett.de

Die DVD „The little Mermaid – Die kleine Meerjungfrau“ erschien bei C Major Entertainment

Am 31.3.2015 lief diese Aufzeichnung von 2011 aus San Francisco auch auf arte: um 0.45 Uhr (also eigentlich schon am 1.4.)

Ein Portrait von Silvia Azzoni, der ersten Hamburger Meerjungfrau, gibt es hier:

www.ballett-journal.de/das-fremde-tier-in-dir/

Und eine weitere Interpretation von Neumeiers „Meejungfrau“ hier:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-die-kleine-meerjungfrau/

 

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