Loblied der Weiblichkeit Das Bayerische Staatsballett entzückt mit einer „Paquita“, die historisch und zeitgeistig zugleich ist

Zigeuner in "Paquita"

In „Paquita“ gibt es außer der höfischen Welt die der Zigeuner… Das Bayerische Staatsballett zeigt diese duale Show mit Verve! Foto: Wilfried Hösl

So prächtig sieht die fertige „Paquita“-Aufführung in der Choreografie von Alexei Ratmansky aus: Es entstand ein opulentes, bilderreiches Liebesmärchen. Die Titelheldin Paquita wurde bei der Premiere von Daria Sukhorukova getanzt, als weitere Besetzung tanzt Ekaterina Petina. Beide Ballerinen wurden an der Vaganova Akademie in Sankt Petersburg, beim „heiligen Gral“ für Klassik (und ganz besonders für Choreografien von Marius Petipa), ausgebildet.

Dennoch sind beide ausgesprochen moderne Tänzerinnen, und zwar insofern, als sie dem jüngsten Trend zur VOLLBEINIGKEIT entsprechen. Vor allem Daria „Dascha“ Sukhorukova hat schöne, volle, muskulöse Schenkel – und gerade nicht diese zahnstocherzarten, kurvenlosen, bleistiftdünnen Säulen, die seit Twiggy, also seit Ende der 60er Jahre, zunehmend die Mode und somit auch das Ballett beherrschten. In den letzten Jahren zeichnete sich bereits hier und da eine Trendwende ab, jetzt ist es offenbar: Ballerinen dürfen auch einen anderen Typus verkörpern als den nah an die Magersucht gebauten, und die Abwechslung ist es ohnehin, die den Spaß noch steigert.

Daria Sukhorukova als Paquita

„Paquita“ tanzt: Daria Sukhorukova in Rüschen – und mit Beinen, die die Welt bedeuten! Foto: Wilfried Hösl

Es sieht einfach ganz anders aus, wenn eine Tänzerin mit Fleisch an den Beinen eben diese hebt, senkt oder beugt und sie während ihrer Arbeit gleichermaßen zu metaphorischen Flugwerkzeugen macht. Das ist sinnlich und vital, sexy und trotzdem appetitlich: Durch die Besetzung wurde „Paquita“ ein Loblied auf die Rundungen der Frau, soweit das mit Ballett und seinen vielen Sprüngen überhaupt möglich ist. In den Details der Pas de deux etwa trägt die Inszenierung zudem typische Ratmansky-Kennzeichen: wie die fast satirische, auf jeden Fall aber nicht nur liebliche, sondern auch menschliche Hingabe aneinander. Da presst Paquita sich eng an ihren Geliebten, da scheint es für Sekunden, als würden die Figuren ganz heutig miteinander sprechen.

Alexei Ratmansky hat also mal wieder voll ins Schwarze getroffen, egal, was Neider und Nörgler vorzutragen haben. Gegen so einen Ballettabend kann man nichts ernsthaft einwenden, es sei denn, man will das Ballett allgemein – ob aus Langeweile oder Scham – denunzieren. Und ob man die komplizierten Pantomime-Stückchen im ersten Teil nun zu goutieren weiß oder ob man dafür (noch) zu ungeduldig ist: Sie sind erstens historisch und zweitens auch zeitgeistig, weil genau diese Art von Körpersprache in einer zunehmend internationalisierten Welt immer mehr an Bedeutung gewinnt. Eine Sprache, die man in China und Mexiko ebenso versteht wie am Bosporus, in der Schweiz und eben in München.

Ehe auf Paquita

In jedem Liebesmärchen – oder in fast jedem – gibt es auch die Legitimerung der Beziehung (meist in Form einer Traumhochzeit). Hier stiftet und segnet ein Napoleonshut die Bindung. Foto: Wilfried Hösl

Die Kostüme und auch die Bühnenbilder – beides von Jérôme Kaplan – betonen diese stark sinnliche Nuance. Köstlich: eine gemalte Landschaft im Hintergrund, wie von einem Gemälde aus der Epoche der Romantik. Auch ein übergroßer Zierrat – ein goldener Siegerkranz – zeigt: Mit der Romantik begann im Grunde schon das Viktorianische Zeitalter, weil sich die schwärmerische Literatur und Kunst jener Zeit im Alltag so gar nicht durchsetzen konnte. Nur darum konnte das Profane alsbald wieder triumphieren und die Träumer von großer Lebenskunst mit militärisch-herrischer Geste in die Nische des Kitsches verbannen. Bravo, Herr Kaplan!

Prunk in Paquita

Eine höfische Welt – als Ideal? Die Vorhänge sprechen dafür… Foto: Wilfried Hösl

Deutlich wird durch all die Biedermeier-Dekoration aber auch: Marius Petipa, der Choreograf der hier gezeigten Version von 1847, war, als er seine „Paquita“ in Sankt Petersburg nach Pariser Vorbild erschuf, noch nicht ganz dort, wo er als Künstler und als Machtmensch hinwollte. So strotzt der erste Akt, der nach Bournonville-Vorbild voller Pantomimen gehalten ist, nur so vor vorgeblicher Buckelei vor dem Zarenhof. Da wird doch glatt eine höfische Gesellschaft als die optimale gezeigt, da erscheint es erstrebenswert, monarchische Regeln und Etiketten zu befolgen. Oder erlaubte sich Marius damit einen doppelbödigen Scherz? Spielte er womöglich mit den Schablonen der glorreichen Fassaden? Wusste er, dass den Regierenden heimlich unwohl unter ihrem Pomp ist?

Tigran als Lucien

Tigran Mikayelyan tanzt den Lucien – am Ende, nach vielen märchenhaft gelösten Problemen, ist „Paquita“ ein Tänzerfest. Foto: Wilfried Hösl

Bei Künstlern weiß man nie. Die Aufführung ausdeuten muss letztlich jeder Zuschauer für sich selbst, auch die Verantwortung für die eigene Interpretation trägt jede und jeder ganz allein.
Gisela Sonnenburg

Zur Entstehungsgeschichte des Stücks und zur aktuell gezeigten Fassung lesen Sie bitte hier im Ballett-Journal den Vorabbericht „Der kluge Berserker“ über den rekonstruierenden Choreografen Alexei Ratmansky und sein Münchner „Paquita“-Projekt:

http://ballett-journal.de/der-kluge-berserker/

Paquita!

Ein Ensemble wir aus dem Märchenbuch der Ballettgeschichte: Ratmanskys „Paquita“ in München. Foto: Wilfried Hösl

 

www.staatsballett.de

Weitere Vorstellungen am 16., 18., 30.12., am 2., 8., 9. und 11. Januar 2015

UND SEHEN SIE BITTE INS IMPRESSUM: www.ballett-journal.de/impresssum/

 

 

 

ballett journal