Weiblicher Mut rettet die Welt Befeiert und bestaunt: Gastspiel des National Ballet of China beim Hamburg Ballett

Heldinnenkraft vom National Ballet of China

Heldinnenkraft vom National Ballet of China: „Der Ruf des Kranichs“ zeigt Frauen ohne Stutenbissigkeit, dafür mit solidarischer Energie. Foto: National Ballet of China

Sie machen tief im Osten das, was sich im Westen kaum jemand traut: Sie zitieren und mixen schier hemmungslos alle Stile, sie schöpfen Neues aus der Einfühlung in Altbekanntes. Sie schrammen manchmal haarscharf am Plagiatsvorwurf vorbei – und kreieren dennoch mit gutem Grund auf der Basis großer klassischer und moderner Choreografen. Große Kunst entsteht; manchmal avantgardistisch, manchmal publikumsfreundlich geprägt! Die Rede ist von den Machern des National Ballet of China, also dem Chinesischen Nationalballett aus Peking. Erst 1959 gegründet und zunächst stark unter dem Einfluss der sowjetischen Ballettkunst stehend, trainierte und tanzte sich die Truppe kontinuierlich hoch, bis in die Riege der Weltbesten. Bei den 43. Hamburger Ballett-Tagen zeigt sie, was sie drauf hat.

Der weiße Kranich ist in China ein Symbol für die Schönheit und Reinheit der Natur. „Der Ruf des Kranichs“ heißt daher eines der bedeutendsten aktuellen Ballette im Reich der Mitte.

Es ist meiner Meinung nach zweifelsfrei überhaupt eines der bedeutendsten, weil innovativsten Ballette unserer Zeit!

Bei seinen beiden Gastspiel-Abenden in der Hamburgischen Staatsoper – während der von John Neumeier initiierten 43. Hamburger Ballett-Tage – tanzte die technisch und auch poetisch ganz hervorragend arbeitende Truppe den zweiten Akt, also den zweiten und letzten Teil dieses abendfüllenden Balletts.

Schilf steht – als stilisierte ästhetische Kulisse – auf der Bühne. Der rosablaue Himmel zaubert Morgenstimmung. Kraniche tanzen auf!

Heldinnenkraft vom National Ballet of China

Ein modernes Ballet blanc in Anlehnung an den „Schwanensee“: Das Kranichballett in „Der Ruf des Kranichs“ vom National Ballet of China. Foto: Kiran West

Was dem klassischen Ballettomanen sein „Schwanensee“, könnte dem zukünftigen Märchenliebhaber dieser Kranichsee sein.

Im Zentrum steht eine junge Ornithologin, also eine Vogelkundlerin, die sich der Pflege der Kraniche verschworen hat.

Sie tanzt mit den zauberhaften Wesen in weißen, silbrig besetzten Leotards, bewundert deren rote Kronen auf dem Kopf (dem realen chinesischen Kranich elegant nachempfunden) – und hat in ihrem Blaumann über den Spitzenschuhen eine ebenso erfrischende wie moderne Ausstrahlung.

Choreografisch zitiert wird hier reichlich, von Marius Petipa über George Balanchine bis hin zu John Neumeier (zahlreiche Ballette von ihm sind konkret zu erkennen) und Xin Peng Wang.

Faszinierend ist, dass die wilde Mischung aus alten und neuen Elementen hier keineswegs provinziell oder plump anmutet. Im Gegenteil: Die junge Wissenschaftlerin rührt in ihrer redlichen Art, sich den Vögeln zu widmen, und deren Anmut wiederum nährt jene animalisch-mythologische Kraft, die nur Wesen der freien Natur haben können.

Die Ähnlichkeit zu „Schwanensee“ erschöpft sich nicht im Vogelballett als (modernem) Ballet blanc. Auch das tragische Element bricht in beide Libretti mit Macht ein.

Denn nach einem mit allen Mitteln des hochkarätigen zeitgenössischen Balletts herzzerreißend schön kreierten Pas de deux – als Erinnerung an den Geliebten in der Handlung verankert – zieht ein Sturm auf.

Die Heldin kämpft mit den Unwetterelementen und rettet die Kraniche, inklusive der niedlich-neckischen Küken. Aber sie selbst gerät in Gefahr – und kommt in rotglühender Lavamasse um.

Ihr Liebster betrauert sie – und es erscheinen ihm die Königin der Kraniche, der Geist seiner toten Geliebten und die ganze Vogelschar. Ein an George Balanchine erinnerndes Corps-Ballett feiert die Freundschaft von Mensch und Tier – und entwirft die Utopie unverbrüchlicher Harmonie.

Schließlich hebt der stärkste und größte Kranichmann den Geist der zarten Heldin hoch empor. Alle huldigen ihr, während auf ihren Geliebten die Aufgabe zukommt, ihr Werk fortzuführen…

Die Vögel hier stehen natürlich für das Volk, das vor Gefahren gerettet und in eine sichere Zukunft geführt werden muss.

So sind es der Mut, die Intelligenz und die Aufopferungsbereitschaft einer jungen Frau, die hier die Welt retten.

Cinderella - ein Märchen für Menschen.

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Was für ein modernes Frauenbild! Der Westen schafft es noch nicht einmal, berufstätige Frauen als Heldinnen überhaupt zu präsentieren. Aber in China schafft sogar das Ballett als extrem stilisierte Kunstform dieses mit Leichtigkeit.

Und wie schön sich Spitzenschuhe und Arbeitsanzug vertragen, wenn in ihnen getanzt wird!

Das Choreografenduo Ma Cong und Zhang Zhenxin ließ sich auf die Herausforderung, mit neuem Pep ewige Werte hochzuhalten, unbedingt ein. Und den Tänzerinnen und Tänzern kann man kaum einen Vorwurf machen – vor allem im Ausdruck gewinnt die Truppe in jeder Szene ein neues Gesicht.

Die Musik von Shen Yiwen schießt allerdings fast übers Ziel hinaus. Einzelteile entsprechen der 4. Sinfonie von Gustav Mahler, anderes wiederum klingt wie von George Gershwin. Stilmix herrscht also auch hier – aber im Verein mit dem Tanz überzeugt das Werk als einheitlich zu begreifende Schicksalsgeschichte mit allegorischem Gehalt unbedingt.

Nur beim Schlussapplaus möchte man nicht von rauschenden Musiken berieselt werden.

Hier noch eine Show nach der Show zu inszenieren, wirkt gekünstelt und raubt dem Publikum fast die Spontaneität. Aber der zweite Durchgang an Vorhängen war dann schon ohne Musikberauschung und ganz auf den Jubel der Zuschauer sowie auf das bezaubernde Lächeln der Künstler konzentriert.

Heldinnenkraft vom National Ballet of China

„Close your Eyes when it’s getting dark“: eine Replik auf vor allem ein bekanntes Werk von William Forsythe („In the middle somewhat elevated“) choreografierte Zhang Zhenxin hier mit exzessiver Lust an schnittig-modernen Grand Battements. Foto: National Ballet of China

Nach der Pause ging es mit einigen Aufs und Abs weiter.

Close your Eyes when it’s getting dark“ – „Schließ deine Augen, wenn es dunkel wird“ – ist eine astreine WilliamForsythe-Replik. Sogar die synthetische Musik erinnert an „In the middle somewhat elevated“, und hier wie dort ergehen sich die Tänzer in schnittiger, sportiv-akrobatisch inspirierter, kubistisch akzentuierter Avantgarde.

Zhang Zhenxin (der auch am „Kranich“ beteiligt war) hat sich hier mal so richtig ausgetobt und es vermocht, den Forsythe-Stil fast noch ironisch zu präsentieren, so sehr überdreht er ihn.

Heldinnenkraft vom National Ballet of China

Das National Ballet of China noch einmal mit „Close your Eyes…“, hier im Foto von Kiran West, dem vielseitigen, begabten Fotografen des Hamburg Balletts.

How beautiful is Heaven“ von Zhang Disha ist hingegen ein großartiges Kunstwerk, ein Paartanz von seltener Tiefe und Innerlichkeit.

Er ist bereits auf der Nijinsky-Gala 2015 gezeigt worden, und dann nahm das Bundesjugendballett ihn ins Repertoire auf. Nun schätze ich diese Nachwuchstruppe der Hamburger nebst ihrem etwas flippig-weichem Stil sehr, und daran mag es liegen, dass mir Minju Kang und Pascal Schmidt mit diesem Pas de deux von 2016 so prägnant im Gedächtnis sind, dass die aktuelle, viel härter getanzte Interpretation der Pekinger Tänzer dagegen nicht ganz ankam.

Aber die Sensibilität der Choreografie spricht für sich und rührt einen, wie es mit dem Thema des Stücks auch sein muss.

Heldinnenkraft vom National Ballet of China

Das National Ballet of China in einem sensiblen Paartanz: „How beautiful is Heaven“ von Zhang Disha. Foto: Kiran West

Denn es ist das letzte Ringen einer jungen Frau – und ihres Partners – mit ihrer tödlichen Krebserkrankung. Ein Kissen symbolisiert dabei die Bettruhe, die Tänzerin hält es sich beim Tanzen am Leib, aufs Gesicht.

Und als sie am Ende draufsteigt, um sich dann langsamen Schritts nach hinten zu entfernen, bleibt ihrem Liebsten nur, neben dem Kissen sitzend traurig zu verharren – und die Hand zur Erinnerung an die Verstorbene auf das weiße Linnen zu legen. Als sei da noch der warme Abdruck ihres Körpers zu spüren…

Ganz anders, nämlich fröhlich und volkstümlich, kommt das folgende Solo „Ji Gong (Buddha Ji)“ von Hu Yan einher.

Es tanzt, in stilvoll zerlumpter altchinesischer Montur, Wu Siming, der hier einen kauzigen Außenseiter darstellt. Der Legende nach war der betreffende Mönch nämlich alles andere als tugendhaft im Sinne von asketisch. Er frönte der Völlerei, wusch sich nicht, betrieb Späße – war aber eine Seele von Mensch und als Schamane unerhört begabt. Kein Wunder, dass ihn darum trotz seines unsteten Lebenswandels die Erleuchtung überkam…

Hier findet sie bei einem Sonnenaufgang statt, der mit Licht und Nebel im Hintergrund köstlich illuminiert ist.

Heldinnenkraft vom National Ballet of China

Ein Solo für einen Ausnahme-Tänzer: „Ji Gong (Buddha Ji)“ von Hu Yan. So zu sehen mit dem National Ballet of China. Foto: Kiran West

Die zuckenden, wippenden Bewegungen des Ji Gong weichen den geschmeidigen, ausbalancierten, geraden Posen des Buddha Ji. Fast findet man das schade, so unterhaltsam war der schalkhafte Sünder…

An so viel theateraffine Menschlichkeit kommt der Paartanz „Sacrifice“ von Fei Bo trotz intensiver, purer Nähe der beiden Interpreten zueinander nicht ran. Xu Yan und Zhan Yao – das tanzende Pärchen – haben zwar körperlich viel miteinander zu besprechen. Aber die Gleichmäßigkeit der Choreo gerät rasch in eine Art Monotonie… da fehlt einfach die Spannung und die Abwechslung.

Ein inhaltlich sehr komplexes, formal etwas simpel gestricktes Werk ist „Yellow River“. Der „gelbe Fluss“ aus dem Titel bezeichnet den zur nationalen Identität Chinas gehörenden Fluss, aber was heißt hier schon „Identitätsgefühl“?

China besteht aus vielen verschiedenen Provinzen und Regionen, und durch alle Zeitläufte gab und gibt es immer wieder Bestrebungen, das große Ganze aufgeben und Einzelstaaten gründen zu wollen.

Allerdings ist das eher tabuisiert, als dass darüber in China selbst offen gesprochen wird. Man rührt lieber nicht allzu deutlich an den kleinen, blutenden Wunden. Und so hat auch die Kultur die Aufgabe, den Zusammenhalt zu propagieren – und bestenfalls verschlüsselt von weiteren Gefühlen im Volk zu berichten.

Wie das geschehen kann, zeigt „Yellow River“ mustergültig.

Heldinnenkraft vom National Ballet of China

Das National Ballet of China tanzt den „Yellow River“, den „Gelben Fluss“ als Kommentar zur Nationalphilosophie. Mit stilistischen Anklängen an Maurice Béjart. Foto: Kiran West

Die Klaviermusik, die man hört, basiert auf einem in China auch offiziell sehr bekannten Stück Musik, das man fast als Hymne der positiv verstandenen politischen Einheit bezeichnen könnte. Die „Kantate vom Gelben Fluss“ wurde 1939 von Xian Xinghai komponiert und ist im Bewusstsein jedes Chinesen durch seine Sozialisierung fest verankert.

Der Tanz aber zeigt die Wogen des Flusses, als Tänzerinnen und Tänzer in gelb-orangenen Kostümen verkörpert.

Die Gleichsetzung von Menschen und Gewässer entspricht dem asiatischen Denken weitaus stärker als dem westlichen. Aber wenn man die ein wenig an Maurice Béjart erinnernden, oftmals in Männlein und Weiblein aufgeteilten Tänzerscharen sieht, stellt sich rasch das Gefühl ein, einer Naturgewalt beizuwohnen.

Die Gesetzmäßigkeiten der Steigerung kennt die Choreografie von Chen Zemei – und wenn man von Tanz nicht verlangt, dass er einen voll und ganz erfasst, dann ist man hier durchaus damit zufrieden, dass auch für das Nachdenken über das zu Sehende Raum bleibt.

Heldinnenkraft vom National Ballet of China

Wildheit im Wechsel mit Sanftmut: Das sind die Temperamente des „Gelben Flusses“… Foto: National Ballet of China

Den Rausch des Erkennens, den „Der Ruf des Kranichs“ in einem entfesseln kann, behält man dennoch als unbedingt großartigste Leistung des Abends fest im Gedächtnis.
Gisela Sonnenburg

Ein weiteres Stück wird das National Ballet of China am kommenden Sonntag auf der Nijinsky-Gala XLIII tanzen.

www.hamburgballett.de

 

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