Psychopoesie nach Untreue David Dawson schuf eine Version von „Giselle“ beim Semperoper Ballett: Psychologie + Poesie = Moderne der Gegenwart

"Giselle" ist auch in der modernen Version von David Dawson ergreifend.

„Giselle“ ist auch in der modernen Version von David Dawson ergreifend. Auf dem Foto tanzt Yukimo Takeshima die Titelpartie – sie hat die Rolle 2008 beim Semperoper Ballett kreiert. Foto: Costin Radu

Giselle! Das ist so ein nettes Mädchen! So frisch und unverdorben, so jung und aufgeschlossen – und so verliebt! In der modernen Version des Balletts von David Dawson spielen die Unerfahrenheit und Gutgläubigkeit der Titelfigur eine entscheidende Rolle. Beim Dresdner Semperoper Ballett debütiert zur Wiederaufnahme des Stücks die französische Solistin Julia Weiss als „Giselle“ – und sie begeistert auch den Choreografen mit ihrer starken Emotionalität im ausdrucksvollen Spiel.

„Schon als Kind wollte ich die Giselle tanzen!“, sagt Julia Weiss, die in der Ballettschule der Pariser Oper ausgebildet wurde: „Ich mag all ihre charakterlichen Eigenschaften. Am Anfang ist sie eine liebliche junge Frau, voll von Hoffnung und Leben. Aber dann wird sie schwer enttäuscht, weil der Mann, den sie liebt, ihr verschwieg, dass er bereits vergeben ist. Sie wird darüber verrückt. Und sie stirbt. Aber noch als geisterhafte Kreatur vergibt sie ihm. Diese Rolle ist so interessant, gerade für eine moderne Adaption!“

Tatsächlich steckt da alles drin, was für Ballett so typisch ist: die große Liebe, die stärker ist als der Tod; die Femininität, die ganz der Emotion lebt; der Glaube an das Gute statt an schnöde Materialität.

Aber ist Albrecht, der junge Mann, der Giselle hinterging und an dem sie stirbt, nicht irgendwie unbefriedigend als Objekt einer so großen Liebe? Ist er nicht oberflächlich und betrügerisch? „Naja“, sagt Julia, „er ist nicht ehrlich zu Giselle, er spielt eine Rolle, mit der er sie verliebt macht, und er täuscht vor, etwas zu sein, das er nicht ist. Aber so ist es im Leben auch manchmal.“ Und dann sagt die Ballerina etwas sehr Kluges: „Es ist eben nicht alles Schwarz oder Weiß. Sondern die Dinge sind nuanciert, haben viele Farben. Das ist es, was das Leben so interessant macht. Darum gibt es soviele Gefühle und auch so verschiedene innere Befindlichkeiten.“

Das trifft sogar für die romantisch-klassische Version von „Giselle“ zu, die 1841 in Paris uraufgeführt wurde und seither über die Ballettbühnen der ganzen Welt geistert. Aber das gilt vor allem auch für die zeitgenössische Version des britischen Choreografen David Dawson von 2008. Er schuf für Dresden – nach jahrelanger, detaillierter Vorbereitung – eine ebenfalls zweiaktige „Giselle“, die zwar die sogar historisch rekonstruierte, alte Ballettmusik von Adolphe Adam benutzt, die aber choreografisch ganz anders vorgeht als die für das 19. Jahrhundert typische Schrittabfolge von Jules Perrot und Jean Coralli.

"Giselle" ist auch in der modernen Version von David Dawson ergreifend.

Yumiko Takeshima und Raphael Coumes-Marquet in David Dawsons „Giselle“: ein poetisches, auch psychologisch spannendes modernes Paar… Foto: Costin Radu

Dawson erzählt in fließenden, hoch modernen, zudem extrem schwierig zu tanzenden Körpergesten. Vor allem seine Pas de deux sind von einer unnachahmlichen, deutlich zeitgenössisch geprägten Kraft und legendär-ästhetischen Hochkarätigkeit – mit vielen akrobatisch eingefärbten Schwingdrehungen, mit schnell hoch und runter wirbelnden Hebungen und mit einer die einzelnen Körperteile oft isolierenden Koordination. Ganz flink entwickeln sich so bewegte Bilder einer Zweierbeziehung: vielschichtig und intensiv wirken sie auf die Zuschauer.

Da steckt ein Hauch der Eckigkeit von William Forsythe drin, aber auch die geschickte Verwinkelung von Kenneth MacMillan. Dawson, der einer der ganz wichtigen Vertreter des zeitgenössischen Balletts ist, arbeitete schon in über 30 Ländern, darunter Russland mit dem Bolschoi Theater in Moskau, dem „heiligen Gral“ der Ballettwelt. Dawsons Stil wird überall verstanden und geliebt. Als ehemaliger Primaballerino, der in London ausgebildet wurde, kennt und beherrscht er das Betriebssystem „Ballett“, und weil er zu den besonders gründlichen Kreativen gehört, findet er für jedes seiner Stücke einen neuen, niemals langweiligen oder kopierenden Impetus. Nur in Deutschland kommt Dawson leider relativ selten zum Zuge – dem Dresdner Ballettdirektor Aaron S. Watkin, der ihn kürzlich auch den fantastischen Abendfüller „Tristan + Isolde“ an der Semperoper choreografieren ließ, kann gar nicht genug dafür gedankt werden, dass er Dawson dem mitteldeutschen Publikum vorstellt.

Die Rolleneinstudierung wurde denn auch von Dawson selbst mit betreut. Seine „Ur-Giselle“ war die zarte Japanerin Yumiko Takeshima. Sie kreierte mit Dawson diese Partie – und schuf auch die eleganten, zumeist unifarbenen Kostüme. 2014 nahm sie als „Giselle“ ihren Bühnenabschied und arbeitet seither als Designerin.

Julia Weiss ist ein ganz anderer Typ als Tänzerin. Sie ist hoch gewachsen, sehr schlank, eher elegant und geschmeidig statt süß und niedlich. Ihre schlanken Beine sind sehr schön geformt und haben diesen anmutigen Drive, den man bei Ballerinen so liebt. Ihr Gesicht hat neben viel lebendiger Mädchenhaftigkeit auch etwas Schelmisches – und einen Hauch von Strenge. Die Disziplin, die Julia hat, ist nicht zu übersehen – und auch nicht die kleine Ähnlichkeit mit Élisabeth Platel, der aktuellen Leiterin der Pariser Ballettschule der Oper. Platel war einst eine berühmte Ballerina – auf dem Weg nach oben befindet sich Julia Weiss, die derzeit in Dresden einen Vertrag als Solistin hat.

"Giselle" ist auch in der modernen Version von David Dawson ergreifend.

Julia Weiss, Solistin beim Semperoper Ballett in Dresden: eine inspirierende, erfrischende junge Persönlichkeit. Foto: Ian Whalen

Sie stammt aus Mulhouse in Frankreich und wurde in Paris ausgebildet. Die Ballettschule der Pariser Oper gilt als eine der besten der Welt – und als eine mit extrem hohen Ansprüchen an ihre Studenten. In Paris, allerdings nicht beim Opernballett, sondern beim Ballet National de Paris, begann Julia ihre Karriere. Danach tanzte sie in Mulhouse beim Ballet du Rhin (das der leider letztes Jahr verstorbene Maurice-Béjart-Jünger Bertrand d’At – als einer der besten Ballettcoaches der Welt – leitete). Über das Ballett Mainz fand Julia Weiss den Weg bis nach Dresden, wo sie seit 2011 engagiert ist.

Ihre wichtigste Kreation bisher: die Julia aus „Romeo und Julia“, die Stijn Celis in Dresden choreografierte. Es ist eine moderne Julia, ohne Spitzenschuhe, eine sich oftmals leidenschaflich in die Umarmungen ihres Liebsten hinein werfende junge Frau. Dass sie jetzt Dawsons „Giselle“ tanzt, die künstlerisch und vor allem technisch nochmals anspruchsvoller ist, passt hervorragend zu Julias Entwicklung.

Dawson hat sie letztes Jahr beprobt – und auch jetzt, im direkten Vorfeld zu ihrem Debüt. Julia genoss die Proben mit ihm, weil sie dadurch aus erster Hand die Sicherheit bekam, eine schlüssige und passende eigene Interpretation zu erarbeiten. Dawson seinerseits schätzt die junge, aufstrebende Ballerina als „Giselle“-Titelfigur: Ihre mitreißende, erfrischende Art und ihre rückhaltlose Passion für die Rolle begeistern ihn.

"Giselle" ist auch in der modernen Version von David Dawson ergreifend.

Rebecca Gladstone, Ballettmeisterin des Semperoper Ballett, tanzte bei der Uraufführung von David Dawsons „Giselle“ mit – und staged heute die Tänzerinnen in der Titelpartie. Foto: Ian Whalen

Rebecca Gladstone, die junge und hoch talentierte Ballettmeisterin des Semperoper Balletts, die aus Australien stammt, in London ausgebildet wurde, die selbst bei der Uraufführung von Dawsons „Giselle“ mit auf der Bühne stand und die für das „Staging“, also das Einstudieren der Partie zuständig ist, weiß da noch mehr. Dawson, sagt sie, habe es von Anfang gemocht, dass Julia keine der voran gegangenen Dresdner Gisellen kopiert habe, sondern dass sie ihren eigenen Stil realisiere. Und, so Rebecca weiter: „Er möchte, dass Giselle ein intelligentes Mädchen ist. Sie ist nicht schwach, sondern sie ist optimistisch und glaubt an die Liebe. Das heißt aber nicht, dass sie dumm ist!“ Auch die große Fröhlichkeit, die Julia in der Rolle vermittle, passe sehr schön zu Dawsons Intentionen.

"Giselle" ist auch in der modernen Version von David Dawson ergreifend.

Albrecht gehört in David Dawsons Version von „Giselle“ zur Entourage der dekadenten Bathilde – er ist ein Swinger und keiner, dem man Liebesschwüre einfach glauben sollte. In den Kostümen von Yumiko Takeshima sind Bathilde und ihre Männer in elegantes Schwarz gekleidet – wie die sündige Liebe, die sie verkörpern. Foto: Costin Radu

All dies trifft vor allem für den ersten Akt zu. Da befinden sich Julia als Giselle und Raphaël Coumes-Marquet als Albrecht auf dem Höhepunkt ihrer Verliebtheit, aber er gehört zur Entourage um die dekadente Bathilde. Als Giselle das entdeckt, ist es mit ihrem Seelenfrieden vorbei. Es gibt Streit, sie dreht durch – und sie fällt Albrecht versehentlich ins Messer. Sie stirbt an der Stichwunde – und liegt dann, als Tote, genau so da wie so viele klassische Gisellen am Ende des ersten Akts: den Kopf links, den Körper ausgestreckt im Profil zum Publikum, parallel zur Rampe – und hinter ihr sammeln sich die Trauernden, die gar nicht fassen können, dass dieses vitale Mädchen vor ihren Augen so jäh verstarb.

"Giselle" ist auch in der modernen Version von David Dawson ergreifend.

Die „Wilis“ sind bei David Dawson keine klassischen Furien, sondern naturhafte Gestalten, Kreaturen, die aus dem Nichts kommen und wieder dorthin gehen… Foto: Costin Radu

Im zweiten Akt ist aus Giselle eine „Wili“ geworden, eine unheimliche Untote, die durch einen hier abstrakt gehaltenen Raum wabert (1841 handelte es sich noch um den Wald). Während die Wilis seit der Uraufführung vor rund 150 Jahren zumeist wadenlange mehrschichtige Tutus anhaben (herab wallende Tüllröcke), tragen sie bei Dawson Trikots mit Verzierungen und einen großen, schlichten Schleier, der zu Beginn des zweiten Aktes den Körper der Wilis wie eine Nebelschwade umhüllt und auch das Gesicht bedeckt.

Zur Psychologie des Stücks, die David Dawson akzentuiert und vertieft hat, gesellt sich im Verlauf des Balletts immer stärker auch die Poesie als tragendes Element. In der Originalchoreografie geht es um eine ganz bestimmte Form des Kühl-Ätherischen, die „Wilis“ sind zwar Rächerinnen, haben aber eine zeitlose Schönheit. In der modernen Version von Dawson tanzen sie ebenfalls in Spitzenschuhen, sind aber viel weniger fasslich als Furien des Bösen. Vielmehr sind sie ein vergeistigter Teil der Natur geworden; ihre Poetik entspringt weniger der sublimierten Aggression (wie noch 1841), sondern sie behauptet sich als abstraktes Wesenskennzeichen, als der Stoff, aus dem die Wilis überhaupt gemacht sind.

"Giselle" ist auch in der modernen Version von David Dawson ergreifend.

Hoch komplizierte, wunderschöne Pas de deux kennzeichnen das Werk von David Dawson. Hier aus dem zweiten Akt von „Giselle“ beim Semperoper Ballett: Die Titelheldin tut alles, um ihren Liebsten seinen Seelenfrieden finden zu lassen. Foto: Costin Radu

Das ist Psychopoesie mit dramaturgischer Hintergründigkeit: Albrecht, der das Ganze erträumen mag und den wilde Schuldgefühle plagen, taucht auf – und er könnte sterben. Doch Giselles Liebe ist so stark, dass sie ihre Enttäuschung überwindet und alles tut, damit er seinen Frieden findet. Rebecca Gladstone: „Sie ist ein Geist, ein sehr weiser Geist am Ende des zweiten Akts.“
Gisela Sonnenburg

Am 1., 3. und 5. April tanzt Julia Weiss die „Giselle“; am 5. April nachmittags und am 8. April tanzt Duosi Zhu die Titelpartie; am 12. und 18. April tanzt Courtney Richardson „Giselle“ – in der Dresdner Semperoper

Einen poetischen Nachbericht der Vorstellung vom 8. April 2015 gibt es hier:

www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-giselle-dawson/

 www.semperoper.de

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