Erleuchtung aus dem hohen Norden Erfrischend anders: Die Handschriften von Pontus Lidberg, Johan Inger und Alexander Ekman in „Nordic Lights“ beim Semperoper Ballett in Dresden

Die "Nordlichter" hier sind ballettöser Natur.

„Im anderen Raum“ beim Semperoper Ballett schildert die Auseinandersetzung mit der inneren wie der äußeren Natur – und geht auf Fragen des persischen Mystikers Rumi mit skandinavischer Körperlichkeit ein. Foto: Ian Whalen

Gibt es eine „skandinavische Grundstimmung“? Wenn man den Choreografen Pontus Lidberg fragt: Ja! Lidberg ist einer von drei Choreografen, die Aaron S. Watkin bat, einen Abend beim Semperoper Ballett zu füllen. „Nordic Lights“ („Nordlichter“) ist eine „Tripple Swedish Bill“, wenn man so möchte: Für ein Eintrittsgeld bekommt man drei schwedische Stücke zu sehen. Interkulturell sind die Werke dennoch – Ballett ist ja keine Folklore, sondern zeitgenössische Kunst, die ihre Inspirationen aus der Gegenwart schöpft. Dass es in Schweden mehrere Wörter für „Melancholie“ gibt, passt natürlich immer gut – und hat laut Pontus Lidberg auch Auswirkungen auf die spezifisch skandinavische Stimmung, die man an diesem Ballettabend immer mal wieder verspürt.

Den Anfang macht ein Stück, dessen Musik ebenso wie die Choreografie ein Auftragswerk der Semperoper ist: „Im anderen Raum“ von Pontus Lidberg (Musik: Max  Richter) vereint die Auseinandersetzung mit Natur einerseits mit der Lyrik des persischen Dichters Rumi, der im 13. Jahrhundert lebte, andererseits. Jalaluddin Rumi war Sufi und passt von daher besser zum tänzerischen Kontext als beispielsweise Harfis, jener persische Lyriker, der Goethe zum Ost-westlichen Divan inspirierte.

Zur Erklärung: Sufis sind islamische Gelehrte, die eine Meditation praktizieren, indem sie sich einigermaßen tänzerisch stundenlang auf einer Stelle im Kreis drehen.

Rumi begründete zudem den „Orden der Wirbelnden Derwische“, um mit mystischer Bewegung zu Rohrflötenmusik zu tieferen Einsichten zu gelangen. Tanz, der indes nicht so genant wird, als Erkenntnisweg.

Die "Nordlichter" hier sind ballettöser Natur.

Ein Blick ins wirklich empfehlenswerte Programmheft vom Semperoper Ballett zu „Nordic Lights“ (Redaktion: Stefan Ulrich) zeigt: Wort und Bild gehen bei Pontus Lidberg Hand in Hand. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Liebe wird dabei als das oberste Gebot, als die höchste Kraft erachtet: „Einzig die Liebe führt zur Erfüllung“, heißt es bei Rumi. Eine Maxime, die den Ursprung des Islams aus dem Christentum deutlich macht. „Der Weg des Jesus war der Kampf gegen die Einsamkeit und die Überwindung der Begehrlichkeit“, laut Rumis Ansicht zum Christentum. Der Weg Mohammeds hingegen sei es, in der Gemeinschaft der gewöhnlichen Menschen zu leben. Hier zeigt sich mal wieder deutlich, dass der Islam,  etwa 500 Jahre jünger, eine radikalisierte Form des Christentums ist.

Orient und Okzident treffen also aufeinander, wobei Rumis tiefsinnige Verse bereits das auch von Pontus Lidberg avisierte Naturthema ansprechen: „Vögel beschreiben einzigartige Himmels-Kreise ihrer Freiheit. / Wie lernen sie es? / Sie fallen und fallend werden ihnen Flügel verliehen.“

Einzelne Begriffe und Zeilen, die bei Rumi als Schlüsselworte fungieren, werden an den Bühnenhintergrund projeziert. Im Laufe des Abends ergibt sich dadurch ein neues Gedicht, das die Zuschauer bruchstückweise, aber chronologisch kennen lernen. Darin die poetische Imagination eines wandernden Träumers, der aufwacht, um „eine andere Art Raum“ kennen zu lernen. Man kennt solche Metaphern für Zwischenzuständie wie spiritistische Trancen, vor allem aber auch als Sinnbild für den Tod und das etwaige Leben danach. Hier ist aber auch ein Multikulti-Statement  gemeint: die anderen Räume, das sind die anderen Kulturen, möglicherweise. Ein pferdekopfartiges Gestell, das die Tänzer zeitweise auf den Schultern tragen, wirkt hingegen wie ein Käfig für den Geist: Es sind die „Scheuklappen“ der Gewohnheit.

Diese sind hier bitte abzunehmen – der gesamte Abend stellt die erfrischend anderen choreografischen Handschriften von drei nordischen Choreografischen vor, die mit ihren Werken sowohl mit humoristischen Möglichkeiten als auch ganz seriös für Erkenntnis und Erleuchtung sorgen.

Ein Plädoyer für Offenheit und Welterfahrung choreografierte Pontus Lidberg! Der Tänzer, Choreograf und Filmemacher hat auch schon für das Royal Danish Ballet in Kopenhagen sowie für das Beijing Dance Theatre in Peking kreiert. Er kommt keineswegs mit der fertigen Choreo vom Reißbrett in den Ballettsaal, sondern schöpft in enger Zusammenarbeit mit den Tänzern. In Dresden kristallisierte sich erst während des Kreationsprozesses heraus, dass es eine männliche Hauptperson gibt, mit dem Ballerino Jón Vallejo, der zur entscheidenden Identifikationsfigur geriet.

In stilisierten Anzügen und Kleidern, die aus dem gegenwärtigen Alltag ebenso stammen könnten wie aus einer „Brazil“-Sci-Fi-Welt, machen die Menschen im „anderen Raum“ realistische wie spirituelle Erfahrungen – miteinander und mit der imaginierten äußeren Natur.

Die "Nordlichter" hier sind ballettöser Natur.

Noch ein Blick ins Programmheft: Fotos von Ian Whalen ergänzen poetische wie auch sachlich informative Sentenzen. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Unterstützt wird diese „Bipolarität“, wie Lidberg das Funktionieren seines Stücks über Gegensätzlichkeiten nennt, von der Musik. Max Richter, akademisch-musikalisch ausgebildet in England, vereinte synthetische Klänge mit live gespielter Kammermusik für ein Streichquintett und ein Klavier. Dabei band er Naturgeräusche in seine Komposition mit ein, „falling, they are given wings…“ („Im Fallen werden ihnen Flügel geschenkt“) lautet ihr Titel.

Man hört ja sogar den Wind hier! Dass es ein skandinavischer Wind sein muss, ist nicht festgelegt. Aber man darf natürlich von klaren Bergseen, stürmischem Meer und einsamen Wäldern im tiefen Bauch von Schweden träumen.

Schließlich hat Richter eng mit Lidberg kooperiert. Und im Aufgreifen schöpferischer Ideen ist er versiert: Er arbeitete auch schon mit Tilda Swinton, der eigenwilligen Starikone des Antihollywood-Kinos; aber auch für den Broadway in New York hat er jüngst komponiert (einen „Macbeth“). Ein Ballett mit Musik von Richter entstand schon am Royal Ballet London – für Wayne McGregor.

Johan Inger, der Choreograf und Ausstatter des zweiten Stücks, steht hingegen ganz in der Tradition des bekannten schwedischen Choreografen Mats Ek. Auch der Geschmack der beiden Männer ist sehr ähnlich, zumal Inger zeitweise auch künstlerischer Leiter des Cullberg Ballet war. Ek ist ja der Sohn von Birgit Cullberg, der Gründerin der modernen Tanztruppe.

In „Walking Mad“ („Verrückt werden“), das in „Nordic Lights“ zu sehen ist, machen gleich drei Frauen das, was der Titel verheißt: Sie driften in den Wahn ab. Angeregt hat Inger aber ein Mann zu diesem Tanzstück, genauer: das wilde gestische Spiel des Dirigenten Sergiu Celibidache bei einer Fernsehübertragung des „Boléro“ von Ravel. Inger blieb bei Maurice Ravel und choreografierte den „Boléro“ neu – er ist ja das Musterbeispiel der frühmodernen Musik, und geradezu demonstrativ zeigt er auf, wie Melodie und Rhythmus voneinander getrennt werden können und dennoch im Zusammenspiel funktionieren.

Die "Nordlichter" hier sind ballettöser Natur.

Verrückt werden – bei Johan Inger ist das eine ästhetisch anzusehende Lebensart, nicht ohne Satire, aber auch nicht ohne Tiefgang illustriert. Zu sehen beim Semperoper Ballett. Foto: Ian Whalen

Nun hat der Boléro mit der Choreografie von Maurice Béjart seine weltumspannende Bedeutung fürs Ballett bereits erhalten (siehe Artikel „Die totale Erotisierung“ hier im Ballett-Journal). Es ist nicht einfach, so einen Meilenstein in der Balletthistorie zu toppen, aber das will Johan Inger auch gar nicht. Es geht um eine komplett andere Deutung, die, verglichen mit Béjarts Umsetzung, kaum noch illustrierend ist. Und während der männliche Hauptprotagonist – bei der Dresdner Premiere mit diffiziler darstellerischer Kraft großartig getanzt von Jiří Bubeníček – eine Art Reise, eine innere wie eine äußere, antritt, müssen die drei Damen, um die es hier geht, eine nach der anderen die psychische Unzulänglichkeit ihrer jeweiligen Figur durch stilunterfütterten Tanz unter Beweis stellen.

Zum Ausgleich haben die darstellenden Tänzerinnen ausdrucksstarke Auftritte, auch wenn ihre Figuren als an der eigenen Emanzipation gescheitert verstanden werden können. Entfernt erinnern sie an Anton Tschechows „Die drei Schwestern“, die in der russischen Provinz dahin vegetieren und von einem neuen Leben in der Ferne träumen.

Da ist die Erste, die Jüngste: Sie verlangt zu viel Aufmerksamkeit von ihrer Umwelt (so sagt es Choreograf selbst) – und geht am Mangel dessen zugrunde. Die Zweite hat ein destruktives Verhältnis „zu sich selbst und den Männern in ihrem Leben“ (wieder O-Ton Inger) – und ist somit nicht genügend devot, um den Männern zu gefallen. Ihr Untergang im Patriarchat ist besiegelt.

Die dritte Frau hier überlebt zwar den „Boléro“ – aber sie versagt dann bei der fragilen musikalischen Antwort auf Beethovens viel gedudelte Klavieretüde „Für Elisa“ durch Arvo Pärt („Für Alina“). Ihr Fehler: Sie habe nicht genügend Mut, um zu springen, so Johan Inger. Da können die männlichen Zuschauer sich eins feixen: Schuld sind also immer die Frauen… man sollte das als Satire deuten. Zumal auch die Männer hier gelegentlich lustig kommentiert werden – und wenn einer von ihnen eine Holzwand hochrennt, die dann umkippt und vom Ensemble aufgefangen wird, dann ist das schon sehr hintenrum gedacht!

Dennoch oder gerade deshalb wurde „Walking Mad“ seit 2001 mehrfach preisgekrönt.

Apropos Krönung: Inger verwendet witzigerweise diese spitzen Silvester- und Karnevalshütchen auf den Köpfen der Tänzer – ein Gag, der zu Beginn des Millenniums in Tanz und Theater durchaus beliebt war, etwa in Dimiter Gotscheffs Inszenierung „Iwanow“ an der Berliner Volksbühne und in „Parzival – Episoden und Echo“ von John Neumeier. Solche Petitessen sind es wert, genau betrachtet zu werden!

Mit dem dritten Stück des Abends fusionieren dann Intellekt und Emotion auf höchst moderne und hintergründige Art und Weise: „Cacti“ von Alexander Ekman – der wie Johan Inger vom Nederlands Dans Theater und vom Cullberg Ballett geprägt ist und ebenfalls selbst Bühnenbild und Kostüme entwarf – bietet eine richtig ernst zu nehmende Persiflage auf das Wesen der Kulturkritik. Und da ist Schmunzeln mehr als nur erlaubt!

Die "Nordlichter" hier sind ballettöser Natur.

Jiri Bubenicek und Sarah Hay in „Cacti“ von Alexander Ekman beim Semperoper Ballett: witzig, aber auch hintergründig tanzen die beiden die Konflikte des Künstlers mit der Kritik. Es wurde Zeit, dass das mal Thema eines Balletts wurde! Foto: Ian Whalen

Surreale, teils absurde Texte sind zu hören, und die Musik besteht in den wichtigsten Passagen aus den Improvisationen eines Streichquartetts. Eingeflochten sind „bekannt“ klingende Passagen von Schubert, Haydn, Beethoven – zentral steht „Der Tod und das Mädchen“ von Franz Schubert.

In schwarzen Kostümen, teils mit Piratentüchern auf dem Kopf und mit fleischfarbenen Oberteilen scheinbar halbnackig, wirkt das Ensemble zeitlos-provokant. Kreiert wurde „Cacti“ 2010 für das Nederlands Dans Theater in Den Haag, und seither hat es einen Siegeszug rund um den Erdball angetreten, wird von vielen Compagnien getanzt, bis hin nach Australien, wo die Sidney Dance Company es aufführte.

„Cacti“ entstand aus einem sehr ehrlichen, für das Entstehen eines Balletts ungewöhnlichen Impuls. Ekman war nämlich schlichtweg entnervt von blödem Kritikergeschreibsel ­­– und ärgerte sich jedes Mal darüber, wenn jemand über seine Arbeiten schrieb.

Er fand auf einmal schon das System, dass es professionelle Kritiker gibt, nicht mehr fair – und empfand, dass sein Publikum eine ganz andere Meinung von seinen Stücken haben sollte, als die aus Beruf und Berufung darüber Schreibenden. Nun ist vieles im Leben ungerecht. Es gibt auch nicht wenige Tänzer und Choreografen, die sich darüber beim Schicksal beschweren könnten, dass sie keine supergroße Karriere machen, obwohl sie doch dafür geeignet sind. So ist es natürlich auch im Journalismus. Die Plätze in den Zeitungen für Autoren, die über Ballett schreiben wollen, sind zudem besonders klein, da Ballett eine Nischenkunst ist und nur wenige Leser der Alltagsmedien interessiert.

Gäbe es mehr Möglichkeiten, über Ballett zu publizieren, wäre vielleicht für jeden Choreografen was dabei. Übrigens passen ja zum Beispiel auch mir nicht alle Kritiker in den Kram. Insofern kann ich Alexander Ekman bestens verstehen!

Die "Nordlichter" hier sind ballettöser Natur.

Es geht drunter und drüber, vor allem aber um Kakteen – kein Zufall, dass die sich gleichen wie ein Ei des anderen, stehen sie doch für inkompetente, doofe, blöde, schlechte Kritiken… Man darf darüber schmunzeln! Foto: Ian Whalen

Sympathisch ist an Ekman auch, dass er eigene Unzulänglichkeiten ohne Umschweife zugibt: „Ich persönlich finde es sehr schwer, ein Stück zu schaffen, das sich vollständig anfühlt, vom Anfang bis zum Ende“, sagt er im hervorragend gemachten Programmheft des Semperoper Balletts. Mit „Cacti“ aber, so Ekman darin weiter, seit es ihm und seinem Team gelungen, „die Puzzleteile so zusammen zu setzen, dass sich das Stück „eigentlich wie fertiggestellt“ anfühle.

Die Interaktion zwischen den Musikern und den Tänzern ist hier ebenso originell wie die Versinnbildlichung des Themas „Kunstkritik“ durch Imitate von Kakteen. Die stacheligen Pflanzen – deren Stacheligkeit die Bissigkeit der Kritik symbolisiert – werden theatral von den Protagonisten durch die Gegend geschleppt. Sie wachsen aus weißen Kartons, handlich und unhandlich zugleich. Jeder Künstler, so die Aussage, hat mehr oder weniger schwer an etwas zu schleppen, für das viele Berufskritiker möglicherweise zu dumm sind, um es zu erkennen.

Absurd, dennoch nachvollziehbar, erklingen dazu teils leicht, teils schwer verständliche Texte von Spenser Theberge. Allerdings sollte man sie bewusst als Provokation aufnehmen – und bloß nicht als Weisheiten!

In einem Dialog wird dieser Aspekt denn auch ganz deutlich: „Fang mich auf!“, verlangt da eine Person, und das Auffangen ist im Pas de deux im Ballett ja von ganz besonderer Wichtigkeit. Aber was sagt die zweite Person hier daraufhin, lapidarerweise: „Weißt du, ich vergesse immer den nächsten Teil.“ Welche Katastrophe, welche Unbill, was für ein mangelhaftes Verständnis füreinander!

Aber so ist die Welt mitunter, nicht unbedingt im Ballettsaal, aber ganz sicher draußen, wo der Wind rau weht. Da stimmen oft auch in intimen Beziehungen die Voraussetzungen für ein intaktes Räderwerk der Zuwendung nicht immer so, wie es sein sollte.

Natürlich gilt das auch für das Verhältnis Kritiker – Künstler: Wir lieben uns nicht immer, aber wir versuchen es!
Gisela Sonnenburg

Am 17. Juni und am 19. Juni sowie am 3. Juli in der Dresdner Semperoper

www.semperoper.de

 

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