Vom Wind, dem himmlischen Kind „Duato / Shechter“ beim Staatsballett Berlin bezaubert mit unüblichen Methoden – und reüssiert mal mit Provokation, mal mit Tiefgang

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

Sie haben sich den Schlussapplaus verdient: Die jungen Damen vom Staatsballett Berlin wagen in „The Art of not Looking back“ eine ganz neue Form des Bühnentanzes. Foto aus der Komischen Oper Berlin: Gisela Sonnenburg

Kindheitsschmerz und Umweltzerstörung, jeweils mit dem Schicksal einer Frau verknüpft – das ergibt einen satten, prallen, modernen Theaterabend. Allerdings ist er ungewöhnlich, und nicht wenige werden darum aus Unverständnis schimpfen. Dennoch: Zwei so verschiedene wie bedeutende Themen der Menschheitsgeschichte bündelt der Abend „Duato / Shechter“ beim Staatsballett Berlin (SBB) zu einem Erlebnis in der Komischen Oper. Es ist kein Tanzabend, der einen so aufwühlt, dass man hinterher wie auf Wolken geht oder im Innersten erregt ist. Es handelt sich auch nicht um atemberaubende, brillierende oder sonstwie virtuose choreografische Meisterwerke, die man sieht. Aber es entstehen großartige moderne Bilder aus Menschen und Szenen auf der Bühne, die noch lange in einem nachklingen und eine positive Nachwirkung haben. Nicht mit plumper Aggression oder plakativem Trotz wird agiert, sondern mit feinteilig demonstrierten Gefühls- und Aktionslagen. Fazit: Man wird gerührt, überrascht und bleibt dennoch ganz bei sich selbst, man findet gewissermaßen mit den Tänzern zu einer neuen Konzentration und Selbstachtung, den Respekt vor anderen Lebewesen durchaus eingerechnet.

Zu Beginn kommt eine Stimme aus dem Off, die leicht ironisch den Choreografen Hofesh Shechter aus der Ich-Perspektive vorstellt.

Shechter ist Israeli, lebt aber in London, wo er auch eine eigene Company hat. Mit dieser hat er 2009 das Stück „The Art of not Looking back“ uraufgeführt, bei einem Festival im britischen Seebad Brighton.

Der Choreograf ist zugleich aber auch Musiker, und sein Verständnis von Schlagzeug-Rhythmen (er beherrscht das Percussion selbst) ist erstaunlich.

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

Hofesh Shechter inmitten seiner Berliner Ballerinen: so zu sehen nach der Premiere von „The Art of Looking back“ in der Komischen Oper. Foto: Gisela Sonnenburg

In der Komischen Oper beginnt Shechters eingesprochener Multi-Show-Monolog aber erstmal nur damit, dass er 1975 geboren wurde.

Dann wird das Tonband auf eine so schnelle Laufgeschwindigkeit geschaltet, dass man kein Wort mehr versteht. Die Beliebigkeit von Biografien wird so gleichermaßen vorgeführt wie abgespult. Man muss lächeln, auch über die eigene Erwartungshaltung, die solchermaßen schelmisch enttäuscht wird.

Um auf den Punkt zu kommen, so das wieder verständliche Band, das allerdings das gesamte Stück lang nur auf Englisch laufen wird:

Die Mutter verließ das Kind, als es zwei Jahre alt war.

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Oh, das sitzt. Man fühlt sich wie geohrfeigt, zugleich empfindet man Mitleid. Mit zwei Jahren kann man sich gerade mal an besonders traurige Vorgänge erinnern. Die Mutter ist in diesem Alter noch sehr wichtig – mindestens bis zum fünften, sechsten Lebensjahr laut Sigmund Freud.

Zugleich kapiert man, worum es im Folgenden gehen wird.

Der große Kindheitsschmerz der Verlassenheit, den auch viele Menschen als traumatisches Erlebnis in sich tragen, ohne von der Mutter für immer verlassen worden zu sein, wird hier also abgearbeitet werden.

Ein handelt sich damit um ein seltenes, aber wichtiges Thema für einen Tanzabend.

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

Sie zucken, aber es hat immer einen gewissen Grad von Ästhetik. Tanz von richtigen Profis ist eben keine Basiskultur, sondern hat was mit Talent und Meisterschaft zu tun! Das Staatsballett Berlin hier mit Hofesh Shechters „The Art of not Looking back“ in der Komischen Oper. Foto: Fernando Marcos

Und auch der äußere Anlass, dieses Stück zu machen, ist bemerkenswert: Es war lediglich eine launige Bemerkung, die den Willen zur Kreativität auslöste.

Er könne wohl nur für Männer choreografieren, meinte jemand, der gerade ein Stück mit männlichen Tänzern von Shechter gesehen hatte.

Prompt fokussierte der sich herausgefordert gesehene Künstler sein Interesse aufs Thema „Frau“ – und er landete gedanklich gleich bei der Mutter, die ihm bzw. seinem Künstler-Ego die ganze Jugend lang fehlte und wohl auch heute noch immer fehlt.

Sechs Frauen hat er dazu auf die Bühne gestellt, und in der Zahl, die manchmal für Wortspiele der Machart „Sex statt sechs“ („Sex not six“) benutzt wird, kulminiert zunächst die Verbindung der Kindheit zum erwachsenen, geschlechtsreifen Mann.

Und es ist ja richtig: Ohne die Mutterfigur in Kopf, Bauch und Herz ist die männliche Sexualität nicht denkbar, egal, in welche Richtung sie sich formuliert.

Die sechs jungen Frauen hier sind Traumbilder der früh verlorenen Mutter – und begehrte Fremde zugleich.

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Sie sind Projektionsflächen für die Fantasien wie für den Hass des Jungen – der sich verstoßen und ungeliebt fühlt – und ebenso sind sie emotional nachvollziehbare Charaktere.

Der Zuschauer ist durch den Prolog des Choreografen in die Position der Identifikation mit ihm gerutscht. Es wird also nicht vorgeführt, wie in einem Handlungsballett, sondern man nimmt die Perspektive des Choreografen ein.

Man sieht das Stück aus der Sicht des einst verlassenen Kindes, das heranwuchs, um fortan Frauen aus einem ganz besonderen Blickwinkel zu betrachten.

Der heimliche Wunsch, beschützt zu werden, ist da ebenso mit dabei wie Misstrauen und Skepsis. Die Frau, die Bestie?

Aber auch Hochachtung und Verstehenwollen schwingen hier mit, denn die Imagination des verlassenen Kindes besteht nicht nur aus Frustration und Wut.

Im Gegenteil: Gerade das nicht vorhandene Elternteil reizt zur Überidentifikation, auch zur Verherrlichung. Nur die Traummutter ist perfekt – und wenn nicht perfekt, so doch aufreizend und interessant, fabelhaft ausgemalt und in jedem Fall sozusagen ganz von innen kommend empfunden.

Warum nur ging sie? Dieses grundlegende Problem kann kein Kind einfach so überwinden, das hieße, die Natur der Dinge zu leugnen.

Also bricht der Monolog, der zu den tanzenden Frauen und der sie begleitenden Soundcollage immer wieder einsetzt, auch immer wieder ab, wenn es zu der großen Frage des Warum kommt.

Sogar eine ausweichende Scheinantwort muss die nicht begreifbare Realität ersetzen.

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

Auch moderne Choreografen und ihre MItarbeiter dürfen sich mit Blumen freuen: Hofesh Shechter (dritter von links) auf der Bühne der Komischen Oper Berlin nach der Premiere von „The Art of not Looking back“. Foto: Gisela Sonnenburg

Das Kind, das zum Mann wurde, versucht darin, sich selbst weiszumachen, es selbst habe die Mutter ja auch von sich aus abgelehnt.

So tief greift der ursprüngliche Schmerz, dass man ihn auch Jahrzehnte später noch nicht wahrhaben will.

Akustisch ist die verdrängte Erinnerung geprägt von Würgegeräuschen, die Brechreiz suggerieren – als Sinnbild für den Schock des Mutterverlusts.

Das sind Aspekte, die Hofesh Shechter sehr präzise zusammen trägt, sein Instinkt hat ihn hier auf den Pfad der Wahrheit gebracht.

So manche psychologischen Hilfsarbeiter könnten da sicher von ihm lernen!

Wie aber sieht man durch so eine Brille des Lebens auf die Frauen?

Ein Stück weit fühlt man sich an den Filmemacher Federico Fellini erinnert.

Denn Weronika Frodyma, Marina Kanno, Mari Kawanishi, Krasina Pavlova, Pauline Voisard und Xenia Wiest – so die Berliner Premierenbesetzung – wirken zauberhaft zerbrechlich und körperlich intensiv zugleich, sie dürfen ihre Weiblichkeit zeigen, ohne sie zu Markte zu tragen.

Sie tragen einfache Kleider (von Becs Andrews) und sind barfuß, haben aber die Aura der Heutigkeit ebenso wie einen gewissermaßen zeitlosen Charme.

Sie sind alle sechs „die Frau an sich“: begehrenswert, sympathisch, aber auch zweifelnd und verzweifelnd, leidend und ergeben.

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

Die Tänzerinnen hier leben im Stück zusammen, als seien sie eine Freundinnenclique – aber die Verhältnisse und Fantasien des Choreografen sind vielschichtiger. Das Staatsballett Berlin mit „The Art of not Looking back“ in der Komischen Oper. Foto: Fernando Marcos

Wenn eine der Frauen vortritt, um ihre Arme zu einem runden Kreis vor der Brust zu formen, dann ist das zugleich der stilisiert Ausdruck findende Wunsch des Kindes nach Umarmung als auch seine Projektion auf die Mutter, auch diese würde sich danach sehnen.

Das ist ein wirklich schönes Bild – und simpel genug, um spontan von jedem verstanden zu werden.

Ganz ohne Englischkenntnisse würde man allerdings total baden gehen – soviel zur angeblich grenzenlos und ohne gemeinsame Sprache verständlichen Tanzkunst.

Auch wenn mehrfach von der „broken structure“, also von der „zerbrochenen Struktur“, im Text die Rede ist, gehört dieses Gefühl von Hilflosigkeit und seelischem Schmerz zum Stück, um es zu begreifen.

Es bezieht sich alles auf das Trauma der verlorenen Mutter…

… und aus diesem Kindheitsschmerz bezieht der Choreograf seine auch künstlerischen Konflikte.

Jedenfalls in diesem Stück!

Das Künstler-Ego vom Tonband ist schließlich reduziert auf diese eine Sache, was aber dem Fokus des Stücks zu Gute kommt.

Die Kunst, nicht zurück zu sehen“ heißt der Stücktitel ja auch übersetzt – in satirischer Anspielung auf das bekannte Psychodrama „Blick zurück im Zorn“ („Look back in Anger“) von John Osborne, das 1956 in London uraufgeführt und zwei Jahre später mit Richard Burton wurde.

The Art of not Looking back“ spielt derweil mit dem Hin-und-Her, mit dem selbstbewusst anklagenden Idiom von der schlechten Mutter ebenso wie mit der selbstironisch-weinerlichen Haltung des in der Tat unüberwindbar leidenden Kindes.

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

„The Art of not Looking back“ – diese Schattensilhouette wiederholt sich im Stück und weist formal auf Ballett hin, inhaltlich aber auf die Konflikte einer Frau mit ihrer Mutterschaft. Foto vom Staatsballett Berlin: Fernando Marcos

Da schlackern die Hände der Frauen so munter wie tatkräftig, während sie ihre Arme gebeugt und ihre Unterarme vorgestreckt halten. Die Liebesbereitschaft scheint so stark vorhanden, auch die Lust am Leben, die fürs Kinderkriegen unbedingt notwendig sein sollte.

Aber die Bewegungen versanden, sie führen zu nichts – so, wie die Mutterschaft in dieser getanzten Autobiografie zu schlicht nichts geführt hat.

„It’s always empty“, es ist immer leer – diese Zeile aus dem Text wiederholt sich im Laufe des Stücks, denn wie das verlassene Kind es auch dreht und wendet, so bleibt der Pool mit eigentlichen Erinnerungen an die Mutter immer ebenso leer wie das Vakuum an Gefühlen, das sie hinterlassen hat.

Ob eine schlechte Ehe der Auslöser für ihr Gehen war?

Das ist anzunehmen, und manche Posen, die die Frauen auf der Bühne einnehmen, lassen das auch verstärkt vermuten.

Der Rhythmus, der vom Tonband kommt, klingt zudem wie das elektronisch verstärkte Geräusch von fallenden Tropfen.

Sind es Regentropfen oder Tränen?

Als eine swingende Musikcollage einsetzt, scheint kurz das Leben der Mutter aufzublitzen, wie es war, bevor sie durch die Schwangerschaft an einen bestimmten Mann und ein bestimmtes Leben gefesselt wurde.

So bunt, so mitreißend, so voller Elan ist es!

Die Bühne wird in himbeerrotes Licht getaucht, man fühlt sich wie in der Disco in den 70er Jahren, und ein kraftvolles Percussion setzt jetzt ein, um die Tänzerinnen zu Trance- und Rauschbewegungen zu bringen.

Das ist der Moment, den Weronika Frodyma in einem Werbetrailer des SBB beschrieben hat: als „schamanenhaft“ und in alten Riten verhaftet erscheint ihr der Tanz, in den sich die sechs Tänzerinnen hinein steigern dürfen, als handle es sich um einen Workshop in Afro-Dance.

Die Musik stammt ja nicht ohne Grund überwiegend auch von Shechter, es ist hier alles aus einer Hand zusammenfügt.

Nachdem sie sich ausgetobt haben, halten die Frauen ihre Arme hoch und ihre Handrücken aneinander, sie bilden auf diese Weise einen grazilen Reigen, der sich zudem synchron bewegt.

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

Das Zucken und Rennen führen zu Verwischungen auf dem Foto: in „The Art of not Looking back“ von Hofesh Shechter beim Staatsballett Berlin. Foto: Fernando Marcos

So eine Neuerfindung von Volkstanzfiguren macht Spaß, und schon beim Hinsehen fühlt man sich diesen jungen Damen verbunden.

Hofesh Shechter kam denn auch früh mit Volkstanz in Kontakt, noch in Israel. Die Metropolen Jerusalem und Tel Aviv haben ihn geprägt, und das Sinnlich-Orientalische an der jüdischen Kultur ist für ihn offenkundig wichtig.

Shechter hat, bei allem Hass und Schmerz, den er auf die ihm eigentlich unbekannte Mutter empfinden muss, es auch geschafft, sich stark einzufühlen in eine junge Frau, die ihren eigenen Weg ohne Mann und Kind gehen will.

Das ist eine starke Kulturleistung!

Außerdem lässt sie viel mehr Empathie vermuten, als es bei – nicht selten eher narzisstisch veranlagten – Künstlern oftmals der Fall ist.

Die moderne Lesart von Folklore, hier als sorglose Frauenfreundschaft formuliert, wiederholt sich im Ganzen drei Mal in „The Art of not Looking back“.

Das bleibt im Gedächtnis haften: Mit welcher Glückseligkeit und doch Normalität die sechs Frauen hier mit den Knien wippen, bei der letzten Wiederholung gen Ende des Stücks sogar blitzschnell die Füße ausscheren lassen.

Als schließlich ein musikalisches Zitat von Johann Sebastian Bach eingespielt wird, haben die Frauen schon so fein und sorglos getanzt, dass man denken könnte, man sei in einem Ballett.

Dabei ist der Kontext hier so modern, dass man bei der Vokabel „Tanzstück“ bleiben sollte.

Eher handelt es sich um ein Experiment als um konventionelles Ballettabenteuer. Das dicke Ende kommt nämlich noch…

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Ksenia Ovsyanick als „Erde“ im hautfarbenen Trikot beim Schlussapplaus zusammen mit dem Staatsballett Berlin in der Komischen Oper. Foto: Gisela Sonnenburg

Allerdings: Die Arme der Tänzerinnen gehen hier manches Mal elegant hoch und runter, mit einer solchen Anmut, dass Ballett als Folie des Trainings unverkennbar ist.

Auch diese Moderne hat also eine traditionelle Rückbindung nicht nur in den Bildern der Folklore, sondern auch in der Technik des Bühnentanzens.

Da wird denn auch mal im Geschwader die ballettöse dritte Position der Arme eingenommen, und als diese schöne Silhouetten-Schatten werfende Gruppenfigur sich wiederholt, kommen auch die Tendus dazu gut zur Geltung. Davon gibt es sogar ein Pressefoto:

Aber das Glück auch der familienlosen jungen Frau ist nicht von Dauer. Sie beginnt zu zucken, zu den harmonischen, abgehoben wirkenden Klängen von Bach verfällt sie in traurige Agonie.

Auch die restlichen Damen beginnen sich zu quälen, schlagen sich auf die Innenseite der Oberschenkel, auch „Sex and Drugs and Rock’n Roll“ machen auf Dauer nicht happy, und als das Geräusch von Würgen und Brechreiz wieder eingespielt wird, ist es dieses Mal auch auf die Frauen passend.

Die Frage nach dem Verzeihen taucht auf.

Kann ein Kind seiner Mutter verzeihen, wenn sie es verlassen oder es so schlecht behandelt hat, dass das Verlassen noch milde erscheint?

Die Frage bleibt.

Und auf der Bühne ist es mittlerweile so dunkel geworden, dass man minutenlang die tanzenden Frauen nur wie von ferne sehen kann.

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

Nacho Duato applaudiert dem Staatsballett Berlin, seinem Ensemble – nach der Uraufführung von „Erde“ in der Komischen Oper Berlin. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

In der Fastdunkelheit einer nebulösen Gesellschaft, die über die wahren Konflikte und Tragödien von Menschen wortreich schweigt, kann der Zuschauer hier immerhin das Eine erkennen: Die Unterdrückung der innersten Wahrheiten dient ihrer Instrumentalisierung.

Und so drängt sich zur Entspannung ein schnulziger britisch-indischer Popsong von I Nitin Sawhney in die Ohren: Wo die Tabus nicht gelüftet werden, bleibt nur ihr Bedecken mit Kitsch, um sie zu ertragen.

Es ist wie die Neugeburt eingängiger Musik.

Extrem gegenteilig waren da die zuvor von Shechter eingebrachten „Six Litanies for Heliogabalus“ des Sprech-, Schmatz- und Schnalzkünstlers Mike Patton. Sein schrilles Greinen ins Mikrofon illustrierte das Gewürge und Geheule – egal, ob man sie dem männlichen Kind Shechter oder den sechs Fantasieentwürfen seiner Mutter zuordnen mag.

Am Ende geschieht aber noch etwas Überraschendes. Da weht dann unhörbar ein so frischer Wind durch die Ballettszene, wie man ihn sonst nur aus der Szene der bildenden Kunst kennt.

Nachdem man minutenlang die Augen anstrengen musste, um im Beinahedunkel auf der Bühne überhaupt was zu erkennen, geht nämlich das Licht an – und die leere Bühne ist grell ausgeleuchtet, dabei von surrealer, sogar unvermutet unschuldiger Schönheit.

Dieser leere Raum, akustisch umflutet vom Gitarrenpop von I Nitin Shawhney, brennt sich ins Gedächtnis, berührt, macht erstarren, verzaubert, gibt Hoffnung – und macht zugleich auch Angst, denn er ist so demonstrativ menschenleer, wie ich es noch nie in einer Aufführung empfunden habe.

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

Und noch ein Vorhang für das Staatsballett Berlin und für „Erde“, mit Ksenia Ovsyanick in der Mitte und Alexej Orlenco neben ihr – in der Komischen Oper Berlin am 21.4.2017. Foto: Gisela Sonnenburg

Gerade weil man sich zuvor so anstrengen musste, um die Tänzerinnen im Dunkel zu erkennen, wirkt der gleißend helle, aber leere Raum jetzt umso nackter, umso entvölkerter.

Man fühlt sich an Kellertheater-Experimente der 80er Jahre erinnert, und das war in der Tat nicht die schlechteste Zeit für die avantgardistische Kunst.

Eine Provokation, zumal man gefühlt viele Minuten allein ist mit diesem absurd-schönen, aber auch lebensfeindlichen Raum und der grässlich schmeichelhaften Musik dazu.

Da ist man wie erlöst, als das Licht erlischt…

Die Gesellschaft, so die Konsequenz, lässt Frauen nur den kalten Raum der Einsamkeit.

Aber auch das Kind, das allein gelassen wird, kennt diesen kalten, nackten Raum des Nichts zu zu gut, schmerzhafterweise… und so kann die Frage nach Vergebung nicht wirklich befriedigend gelöst werden.

Da hilft kein noch so hauchzart gesäuselter Popsong…

Nur eine Dreiviertelstunde dauert „The Art of not Looking back“ insgesamt, aber das Stück hat es in sich, es ist kompakt und von hoher emotionaler Dichte, und man langweilt sich nicht eine einzige Sekunde.

Man muss außerdem nicht erst betonen, dass die sechs Ballerinen vom SBB die Choreografie zudem meisterhaft zelebrieren.

Mit Sita Ostheimer hatten sie eine versierte Hilfe bei der Einstudierung (Ostheimer hat das Stück als Tänzerin 2009 in England mit kreiert).

Und ohnehin ist das SBB hoch motiviert, sich in neuen Stücken zu profilieren. Das Vergnügen und auch das Talent, in diese kniffligen Posen und Schritter zu schlüpfen, ist ihnen deutlich anzumerken.

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

Das Staatsballett Berlin in den blauen Wasser-Kostümen mit der hautfarbenen „Erde“ in der Mitte: so zu sehen beim Schlussapplaus nach „Duato / Shechter“ in der Komischen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Auch wenn der Bewegungskanon von Shechter weit entfernt ist vom klassischen Ballett – selbstredend beherrschen diese fantastisch trainierten Mädchen ihr Handwerk, um sechs Mal das Schicksal einer Frau zu verkörpern, die ihr Kind im Stich ließ.

Man muss allerdings mal Abstand nehmen von der Idee, Frauen seien letztlich nur dazu geboren, um weiteres Leben in die Welt zu setzen.

Heirat und Geburt zählen bei Primitivkulturen zu den einzigen wichtigen Ereignissen, denn den Primitiven ist nur die eigene Familie heilig – und sonst gar nichts.

Menschen sind aber keine primitiven biologischen Organismen, bei denen die Fortpflanzung und Vermehrung der Spezies bereits den ganzen Sinn der Existenz darstellt.

Vielmehr ist im Falle des Menschen seine hohe Bevölkerungsdichte zum Problem geworden.

Die Erde leidet darunter, unter der hohen Anzahl von Menschen, unter deren Abholzung, Ausbeutung, Verschmutzung, Zerstörung – auch in Deutschland werden jeden Tag Flächen, die von der Größe her mehrere Fußballfelder umfassen, entwaldet, umgegraben und platt gemacht, um bebaut zu werden.

Die typischen mitteleuropäischen wilden Wiesen, die einer Vielzahl von Insekten und Vögeln Lebensraum bieten müssen, haben bereits hohen Seltenheitswert.

Dafür gehen sich die in absoluter Überzahl vorhandenen Menschen derart gegenseitig auf die Nerven – „Dichtestress“ nennt man das wissenschaftlich – dass die Aggression und die Verrohung dieser Spezies unweigerlich steigen.

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Die Spezies Mensch macht, was keine andere tun würde: Sie vernichtet ihren eigenen Lebensraum.

Womit wir bereits beim nächsten Thema des Abends „Duato / Shechter“ sind, also beim zweiten Stück.

Erde“ von Nacho Duato kreist auch um eine Frauenfigur, sogar auch um eine Muttergestalt, aber in ganz anderer Hinsicht.

Es geht um die „Mutter Erde“, wie die Kostümbildnerin Beate Borrmann die Zentralgestalt dieses Ballettes nennt, und, by the way, man darf hier auch „Ballett“ sagen, ohne etwas falsch zu bezeichnen, so modern die Anmutung auch dieses Stücks auch sein mag.

Diese Mutter Erde steht hier zunächst einfach nur da, vorm Vorhang, mit großer Duldung und Ruhe: in Gestalt der wirklich edel wirkenden Tänzerin Ksenia Ovsyanick (anstelle der im Werbetrailer des SBB zu sehenden Aurora Dickie, die eine weitere Besetzung sein wird).

Sie erinnert an eine moderne Elfe oder „Urfrau“-Fantasie, trägt naturhaftes Grün, und ihre schlanken Gliedmaße, die vom paillettenglitzernden Leotard bedeckt sind, haben auch im ruhig und angespannt gehaltenen Zustand die Aura großer Anmut und innerer Stärke.

Ein Grummeln kommt aus den Boxen, da bahnt sich hörbar Unheil an.

Als ein Orgelton dazu kommt, der in langen, düsteren Akkorden schwebt, fühlt man sich bereits in eine apokalyptische, kurz vor der Sintflut stehende Sphäre versetzt.

Der Vorhang gibt den Blick auf ein weißes Nebelfeld frei.

Darin bewegen sich Gestalten: geplagt, entrückt, kämpfend.

Die Masse Mensch hält sich an den Händen, läuft im Kreis, bildet Knäule und Getürme – Schüsse hallen von weit her.

Die Zukunft hat begonnen; Kriege und unwirtliche Lebensverhältnisse lassen die versprengte Menschheit wieder dicht zusammen rücken.

Die Erde ist mit diesem Zustand konfrontiert. Sie trippelt in Spitzenschuhen, sie demonstriert Souveränität und Ausgeliefertsein in Eins.

Zwei junge Männer in schwarzen Leggins zu nacktem Oberkörper kommen zu ihr wie eine Entourage. Es sind (in der Premierenbesetzung) Konstantin Lorenz und Alexej Orlenco. Mit einer Béjart’schen Tänzerhaltung dienen sie der Erde, heben sie, halten sie, bringen sie zu sich und in Positionen.

Sie streckt die schönen Beine, windet sich, leidet und nimmt die Hilfe der beiden Herren gern an. Die gequälte Natur ist hier fast opernhaft allegorisch personifiziert.

Dann tauchen nacheinander drei Paare auf, die Männer halten die Frauen mit in durchsichtigen Plastiktüten steckenden Händen. Es raschelt, es glitscht, es erweckt den Eindruck, hier sei im Grunde alles verseucht und man ergreife irgendwelche beliebigen Maßnahmen, um sich oder den anderen zu schützen.

Auch das Ensemble scheint nicht sicher. Die Umweltzerstörung ist das große Thema dieses Stücks, und in rasch aufeinander folgenden Szenen werden dafür Beispiele gebracht.

Mechanisch werden die Menschen unter solchen Verhältnissen.

In weißen Schutz- oder Kampfanzügen steckend, mit astronautischer, aber auch handwerklicher Anmutung, entfaltet sich ein energisches Corps de ballet.

Es könnten Arbeiter auf einer Bohrinsel sein. Der Nebel suggerierende, alles ein wenig verschleiernde Vorhang zwischen ihnen und dem Publikum spricht dafür.

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

Blauviolette Laserstrahlen durchkreuzen die Bühne und den Publikumsraum – der tanzende Mensch darin mag sich wie in einem Gefängnis fühlen. Foto vom Staatsballett Berlin aus „Erde“ von Nacho Duato: Fernando Marcos

Die absichtlich ätzende Soundcollage stammt, wie schon in den Nacho-Duato-Balletten „Herrumbre“ (www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-herrumbre/ ) und „Static Time“ (www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-static-time/ ) von Pedro Alcalde und Sergio Caballero. Beide stammen aus Barcelona, haben aber ganz unterschiedliche Wege zur Musik eingeschlagen. Alcalde war zunächst Klassikmusiker, arbeitete als Assistent des Stardirigenten Claudio Abbado und war selbst an der Wiener Staatsoper auch Dirigent. Caballero hingegen ist Spezialist für elektronische Musik, war dieses von Beginn seiner Laufbahn an. Seit 2004 arbeitet er mit Alcalde im Team.

Für „Erde“ wurde als Titel ganz Berlin-bewusst zur Uraufführung der deutsche Begriff statt des englischen und internationaleren „Earth“ gewählt. Aber die Musik ist so global im Trend liegend, dass man sie für Filmmusik halten könnte (tatsächlich abreiten Alcalde und Caballero auch für die Filmindustrie). Bequem anzuhören ist sie dennoch nicht.

Wummernde Rhythmen ohne Melodien bestimmen hier die akustische Bebilderung der langsamen, aber stetigen Erdballzerstörung.

Allerdings hält sich die Musik zurück, lenkt nicht vom optischen Geschehen ab.

In ihren Soli entfaltet die „Erde“ eine wunderschöne, wie ziseliert wirkende Ausdruckskraft. Hier fühlt sich eine Frau, ein lebender Organismus, bedroht, geschändet, ausgeplündert – und hält doch tapfer und inständig stark (noch) die Balance.

Das Erdulden all der Wunden, die man ihr zugefügt hat, ist ihr Leit- und Leidmotiv.

Aber: Sie hat Würde. Das ist, was sie ausstrahlt, womit sie unendlich rührt.

Dagegen kämpft das Ensemble ums Überleben, in stapfenden Schritten wie in geschmeidigen, kompliziert komponierten Bewegungsflüssen.

Schließlich tauchen fünf junge Männer in beigefarbenen Fellmänteln auf (Alexander Abdukarimov, Joaquin Crespo Lopes, Arshak Ghalumyan, Vladislav Marinov und Lucio Vidal). Selbstbewusst marschieren sie bis zur Rampe vor, kein Vorhang trennt uns von ihnen, die Sicht auf sie ist frei und fast erbarmungslos ungefiltert.

Mit dem Impetus einer Modenschau führen die Tänzer ihre felligen Mäntel vor.

Es sind demonstrativ Fellimitate, aber sie stehen hier für die Haute Couture und somit für oftmals echte Pelze, die unter unsäglicher Tierquälerei hergestellt werden.

Und da blitzt Leben in der Klamotte auf! Die Tänzer zucken, vor allem an Boden, sie spreizen sich, sie wollen die Fellteile loswerden – und schließlich gelingt es ihnen, sie auszuziehen.

Dann stehen sie davor wie vor einem bösen Wunder und erstarren kurz. Offenbar rührt das vermeintliche Getier aber ihre Herzen, denn sie sammeln die Felle ein, nehmen sie in den Arm, liebkosen sie, weinen.

Eine wirklich rührende Szene, gerade weil ihre Wendung so überraschend ist.

Die Utopie aktiv wirksamer Tierschützerseelen bei modisch inspirierten Konsumenten ist aber auch grundlegend für den Natur- und Umweltschutz.

Auch wenn sich die Produkthersteller dann wieder nur zu gerne mit den Federn angeblicher Correctness schmücken, um irgendein minderwertiges Polyestergewebe gewinnbringend zu verkaufen.

Es entscheidet der Konsument, insofern er dazu noch in der Lage ist!

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

Futuristisch stapfen Astronautenmenschen – oder sollen es Roboter sein? – durch den Nebel. In „Erde“ von Nacho Duato ist die Welt dem Untergang nahe. Foto vom Staatsballett Berlin: Fernando Marcos

Nacho Duato, Berlins spanischer Ballettintendant und Chefchoreograf, hat über ein Jahr lang überlegt, ob und wie er dieses Ballett machen sollte.

Mit seinen Komponisten, der Kostümbildnerin Beate Borrmann (die in Berlin-Weißensee studiert hat und sonst für Sasha Waltz arbeitet) und mit der Gruppe Numen (die aus Sven Jonke und anderen besteht) sowie dem Numen-„Anhang“ Ivanka Jonka, die gemeinsam das Bühnenbild besorgten, hat Duato großes Glück, weil sich diese Künstler dem Ansinnen der Choreografie unterordneten und keinen Anspruch auf eigene, womöglich von Eitelkeit geprägte Interpretation des Themas hegen.

Inwieweit die collagierten Szenen nun aber phänotypisch das gesamte Spektrum von Umweltzerstörung, die der Mensch verantwortet, abdecken, muss jede(r) Zuschauer(in) selbst entscheiden.

Natürlich kann man in einem zudem halbierten Theaterabend nicht alles ansprechen, was hier zwangsläufig dazu gehören würde, wenn man das Thema weit fassen und voll ausreizen wollte.

Also muss man die gesehenen Szenen symbolisch sehen – und sie weiterdenken. Sie sind als Anstöße zu nehmen, nicht als fix und fertige, in sich geschlossene dramatische Einheit.

Und auch die Rätselhaftigkeit, die sie manchmal verströmen, will in diesem Sinne ausgedeutet werden.

So folgen auf die fünf Männer mit Fell fünf junge Damen in Weiß, die hinter einer Plastikfolie wie auf hoher See erscheinen.

Wie schön ihre Kostüme gearbeitet sind, ist hier im spärlichen Licht kaum zu erkennen (www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-erde-beate-borrmann-nacho-duato/).

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

Sie tanzen die zarten Seevögel, die an einer Ölpest verenden: Ballerinen vom Staatsballett Berlin in „Erde“ von Nacho Duato in der Komischen Oper Berlin. Foto: Fernando Marcos

Aber ihre Bewegungen zeigen, dass es sich um tierische Kreaturen, um Seevögel, handelt, sie in ihrem Dasein und in ihren Flugbewegungen behindert werden. Eine Ölpest macht ihnen schwer zu schaffen.

Julia Golitsina, Jordan Mullin, Elena Pris, Katherine Rooke und Pauline Voisard verkörpern mit sanfter Grazie diese zarten Naturwesen, lassen die Arme wie Flügel flattern und erlahmen, und sie halten die Beine in Bauchlage gekreuzt, als klebten sie zusammen.

Wie verzweifelt heben sie die Röcke an und stülpen sie über ihre Köpfe. Sie können durch das transparente Material sehen… aber es nützt ihnen nichts. Ihr Schicksal ist besiegelt.

Schließlich fallen sie ersterbend aufeinander, zucken, lassen nach im Zucken, geben auf.

Wieder stirbt ein Stück Schönheit auf dieser Welt – ein Stück Lebenskraft, von dem wir gar nicht wissen, wie eng es auch mit unseren biologischen Lebenskreisen verzahnt sein kann.

Futuristisch tauchen die Plastikastronauten auf, bilden auch Paare, aber ob es sich hier noch um Menschen oder schon um Roboter handelt, ist nicht ganz klar auszumachen.

Einer von ihnen wird rabiat ausgezogen, seiner Schutzhülle aus weiß-transparentem Plastik beraubt – fortan irrt er wie verloren und ausgestoßen über die neblige Bühne.

Trockeneis mit Nebeleffekt wird von zwei Tänzern auch aus Handstaubsauger-ähnlichen Geräten versprüht. Hui, die Menschheit nebelt sich ein…

… auch das Publikum sitzt mal voll im Nebel, was für Einige insofern eine Erfahrung ist, als man durch den Theaternebel für die Distanz von einigen Metern sehr gut durchsehen kann.

Wind kommt auf. Der Wind, das himmlische Kind, kann hilfreich sein oder verderblich…

Das weiße Vorhangsegel bläht sich auf, fällt, bläht sich weiter auf – und der schutzlose, fast nackte Junge stürzt sich hinein wie in eine unbekannte weiße Flut.

Auch das nächste Bild entlockt den meisten Zuschauern ein inneres „Ah“ und „Oh“.

Blauviolette Laserstrahlen durchkreuzen da die Sphäre, bilden sowohl auf der Bühne als auch im Zuschauerraum ein Gitter.

Schrille hohe Töne reizen dazu das Ohr.

Fließendes Wasser kommt akustisch dazu – es geht also um die Verseuchung der Flüsse und des Grundwassers.

In blauen Leotards tanzen Männlein und Weiblein das bedrohte Wasser.

Wie fein die Kostüme sind, sieht man erst beim Schlussapplaus – während der Bühnenshow ist das Licht, von Brad Fields ersonnen, so sparsam eingesetzt, dass die Tänzer zumeist wie blaue Schatten wirken.

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

In blauen Anzügen verkörpern die Tänzerinnen und Tänzer vom Staatsballett Berlin das Element Wasser – in „Erde“ von Nacho Duato, welches somit uraufgeführt ist. Foto aus der Komischen Oper: Fernando Marcos

Fields ist Beleuchtungschef vom American Ballet Theatre in New York und hat auch für Nacho Duato schon häufig gearbeitet. Er ist ebenso ein Meister der Dunkelheit wie einer des Lichts – und hier lässt seine kunstvolle Düsternis die Reigen und Wellen der Tänzer mysteriös und spannungsreich wirken.

Das Staatsballett Berlin tanzt dieses ungewöhnliche Themenballett fraglos mit hohem Perfektionsgrad.

Elegant, ernsthaft, graziös, dramatisch – man vermisst im Ausdruck nichts. Die Solisten wie der Corps faszinieren und lassen einen bereitwillig in Träumereien von einer besseren Welt verfallen, denn ihre Darbietungsweise des Tanzes vermittelt bereits hohes utopisches Potenzial.

In drei Reihen streben die Tänzer schließlich nach vorne, um in ästhetischen Aufs und Abs das Wasser als unbesiegbare Masse zu zeigen.

Tatsächlich ist das Ende des Stücks versöhnlich, und wieder überrascht es mit einer Pointe:

Von hinten links wird ein Stück realistisch nachgebauter Wald nach vorne gefahren, bis es fast die ganze Bühne ausfüllt.

Numen und Jonka ist ein hinreißender Märchenwald gelungen, mit einem umgekippten Stamm, mit Bewucherung und Bemoosung, mit Flechten, mit Laub und Tannenästen. Im Kontext und im poetischen Licht von Brad Fields wirkt dieses Naturzitat so, als könne man noch so viel abholzen – irgendwann wird sich demnach wohl wieder so ein unzerstörbarer Mischwald durchsetzen, mit oder ohne Menschheit drumrum.

Die Titelgestalt der „Erde“, mittlerweile in einem hautfarbenen Anzug statt in Naturgrün tanzend, wird von dieser Naturkraft wie magisch angezogen – und sie kriecht langsam, aber sehr ästhetisch herbei, um sich in diesen neuen alten oder auch alten neuen Wald liegend einzufügen, Kopf und Bauch darin tief vergrabend.

Musikalisch dominiert hier schon seit einigen Minuten ein Glockenschlag, der sozusagen die noch verbleibende Zeit abzählt…

Mit dem letzten Glockenschlag kehrt Ruhe ein, in der nur der Nachhall noch echoartig hält und hält und hält.

Es gibt Zuschauer, die dieses Stück kitschig finden, und es gibt auch das Argument, dass der Apokalypse mit einem fiktiven Wald als deux ex machina nicht wirklich abgeholfen wird.

Aber der Eindruck des Moments ist nicht zu ignorieren – und er ist groß.

Lösungskonzepte, wie man den Wäldern in der Realität auf Dauer noch eine Chance geben kann (und den Meeren auch), muss man sich allerdings ganz woanders suchen. Da hilft das Ballett hier nicht weiter.

Duato / Shechter ist ein ungewöhnlicher Tanzabend

Ein letzter Blick auf das Staatsballett Berlin nach der erfolgreichen Uraufführung von „Erde“ im Rahmen von „Duato / Shechter“ am 21.4.2017. Foto: Gisela Sonnenburg

Und selbst Greenpeace verzichtet (so auch im Programmheft vom SBB) seiner zahlenden Klientel zuliebe darauf, das unangenehme Thema Überbevölkerung auch nur zu benennen.

Wo das Kindermachen ganz ohne Nachdenken doch allen so viel Spaß macht… unabhängig von Religion, sozialem Stand oder Geschlechtsleben.

Womit wir wieder beim ersten Thema des Abends sind.

Man kann gegen diesen Tanzabend bestimmt das Eine oder Andere einwenden. Aber dumm oder dumm gemacht ist er nicht!

Allerdings hätte das Staatsballett Berlin mit der Neueinstudierung eines klassischen Balletts oder einer Gala auf gewohnt hohem Niveau sicher mehr als doppelt soviel Applaus und Zuspruch vom Publikum erhalten.
Gisela Sonnenburg

Temine: siehe „Spielplan“

www.staatsballett-berlin.de

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