Clara läuft und läuft und läuft Krasina Pavlova verleiht der Mädchenrolle in „Der Nussknacker“ beim Staatsballett Berlin eine geheimnisvolle Note

Krasina Pavlova verleiht der Clara im "nussknacker" eine geheimnisvolle Note.

Clara (Krasina Pavlova) und der Prinz (Mikhail Kaniskin): ein zuckersüßes Paar, gerade richtig für einen „Nussknacker“ auch im Advent! Foto vom Schlussapplaus aus der Deutschen Oper Berlin: Gisela Sonnenburg

Clara läuft – und sie läuft vor etwas davon. Dieses Mädchen ist nicht einfach nur ein Teenagergirl, das vom Zuckerzeug und von der Liebe träumt. Nein, dieses Mädchen hat Grund, sich in so bombastisch überfrachtete Traumwelten zu flüchten. Sie hat etwas erlebt, das gefährlich war. Erst hinterher war ihr klar, wie gefährlich es war. Ihr Körper hat mit der Flucht richtig reagiert. Aber ihre Seele schaut zurück – und erschrickt. Darum rattern die Rhythmen in Tschaikowskys „Nussknacker“ so laut und knallig, und darum sind die Melodien so verlockend harmlos. Hinter der Banalität des Geschehens – an Weihnachten vom Schlaraffenland zu träumen – steckt Angst, gemischt mit dem Stolz, überlebt zu haben. Wenn Krasina Pavlova die Clara im „Nussknacker“ beim Staatsballett Berlin tanzt, dann kommt man auf solche Gedanken: die hellen Glocken des Glücks erhalten dramatisch-drastische Untertöne.

Krasina Pavlova verleiht der Clara im "nussknacker" eine geheimnisvolle Note.

Die geheimnisvolle Prinzessin und der schöne Prinz: von „Keuchheusten“ zum Glück keine Spur… Krasina Pavlova und Mikhail Kaniskin beim Schlussapplaus vom „Nussknacker“ in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Daran hat das Orchester der Deutschen Oper unter Robert Reimer womöglich seinen Anteil. Denn besonders hell und fließend erscheinen die Melodien, wenn die gezupften Stakkati der Streicher und die pulsierenden Rhythmen der Walzer umso dunkler ertönen.

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Ohne ihn läuft gar nichts: Robert Reimer, der Mann am Dirigentenpult, in der Deutschen Oper Berlin nach dem „Nussknacker“. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Vor allem aber stimmt vor der Folie eines Kindheitstraumas auf einmal das sonst so exaltiert wirkende szenische Tableau.

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Die dunkle Seite im „Nussknacker“ beim Staatsballett Berlin: Die Mäuse sind hier keinesfalls nur komisch, sondern auch gespenstisch. Da zeigt sich, dass die Vorlage für den „Nussknacker“ ein romantisches Stück Literatur von E. T. A. Hoffmann war. Foto: Bettina Stöß

Da sind die gespenstischen Mäuse, angeführt von ihrem König, der mit Arshak Ghalumyan machtvolle Sprünge und raffiniert-elegante Pirouetten hinlegte. Aber ein absurdes Getier sind diese Mäuse hier, keineswegs nur spaßig oder ein bisschen grotesk. Es ist kein Wunder, dass sie auf Mitternacht hin erscheinen, und während die große Standuhr die Geisterstunde einläutet, fährt aus ihr ein Vampirflügel wie der Piepmatz aus der Kuckucksuhr heraus. Huuuuuuh!

Die beiden Choreografen Vasily Medvedev und Yuri Burlaka – die sich zwar eng, aber keinesfalls ausschließlich an die Vorlagen der Originalchoreografie von Lew Iwanow nach den Plänen von Marius Petipa hielten – sparten nicht an Materialien und Gimmicks, um diesen „Nussknacker“ zu einem Schmunzel- und Lachinfanal zu machen.

Krasina Pavlova verleiht der Clara im "nussknacker" eine geheimnisvolle Note.

Krasina Pavlova vollführt makellose Grands jetés, es sind fliegende Spagatsprünge ohne hässliche Überdehnung oder grobe Verkürzung. Wow! Foto: Maria-Helena Buckley

Dennoch stehen hinter den vordergründig absurd-witzigen Details nicht selten knallharte Sachzusammenhänge, die gemeint sein könnten und vom „Nussknacker“ aus weit in unseren realen Alltag hinein reichen.

So geschieht es im Kampf der Mäuse gegen den Nussknacker und seine Soldaten, dass ein Wurf mit überdimensionierten roten Weintrauben einen der Soldaten umwirft. Ob das eine Anspielung auf das Laster des Rotweins ist, der, im Übermaß genossen, schon aus so manchem schönen Mann einen Kaputtnik und auch aus so manchem netten Papa einen unbrauchbaren Säufer gemacht hat?

Aber auch der Nussknacker selbst, von Mikhail Kaniskin mit schnittigen Gesten und charmanter Grandezza getanzt, wird in diesem Kampf des Guten gegen das Böse verletzt. Seine rechte Hand, seine „Kampfhand“, scheint so schwer verwundet, dass er sie sich mit der linken in die Höhe hält, als sei sie schon so gut wie amputiert.

Hier hilft die weibliche Energie! Clara, das Mädchen, weint und weint und weint – bis sie durch die Liebe und das Mitleid erwachsen wird und im Nu mit ihrem Prinzen in einer Traumwelt verschwinden kann.

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Ihre Liebe wird belohnt: Krasina Pavlova als Clara im „Nussknacker“ in der Deutschen Oper Berlin. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Denn endlich steht der Nussknacker, der jetzt Prinz Coqueluche heißt, ohne weiße Gesichtsmaske vor ihr! Und siehe da: Er ist wunderschön.

Und während das Kind Clara noch von Frieda Kaden von der Staatlichen Ballettschule Berlin getanzt wurde, handelt es sich jetzt, im verschneiten Zauberwald, um Krasina Pavlova, die Clara als verliebte junge Frau darstellt.

Als Kind lief sie noch eifrig im Kreis, wenn sie sich besinnen wollte. Jetzt, als junge Dame, schaut sie ihrem Prinzen vor allem tief in die Augen.

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Wunderschön und kein Risiko, sondern ein Vergnügen für die Ballerina wie fürs Publikum: Mikhail Kaniskin alias Prinz Coqueluche beim Schlussapplaus nach dem „Nussknacker“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Dabei ist sein Name „Coqueluche“ verräterisch und offensichtlich den Leiden der Kindheit geschuldet: Er heißt übersetzt „Keuchhusten“!

Der merkwürdige Name weckt zuerst die Assoziation, es handle sich bei Claras Reise mit dem Prinzen in eine Traumwelt um einen Ausflug ins Paradies. Brachte sie die Krankheit dem nahe?

Ist sie nach dem Weihnachtsabend mit Drosselmayer und dem Nussknacker plötzlich schwer erkrankt –und ist ihr ganzer großartiger Traum ein Fiebertraum?

Die Inszenierung erklärt den wirklich seltsamen Namen des Prinzen leider gar nicht, und es gibt auch keinen Hinweis auf die Herkunft dieses Prinzennamens.

Nach meinen Recherchen entstammt er nicht der Uraufführung von 1892. Und in den anderen Libretti des Ballettgenies Marius Petipa gibt es zwar gern auch mal französische, „sprechende“ Namen, etwa „Désiré“ für den Prinzen in „Dornröschen“. Aber von einer so grotesk-grausamen Bezeichnung wie „Prinz Keuchhusten“ für einen Petipa-Helden hat man eigentlich noch nie etwas gehört.

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Vielleicht hat der seltsame Name des Prinzen mit den magischen Kräften von Drosselmayer zu tun? Michael Banzhaf und sein wehender Zauberermantel beim Schlussapplaus nach der „Nussknacker“-Vorstellung beim Berliner Staatsballett am 26.11.15. Foto: Gisela Sonnenburg

Vielleicht ist die Namensgebung als Referenz an Marius Petipa gemeint, der wegen einer Erkrankung die Choreografie zum „Nussknacker“ 1892 nicht selbst durchführen konnte.

Oder der Prinz hatte als Kind den Keuchhusten und wurde darum danach benannt. Was allerdings eine surreal-absurde Fantasie bei der Namensgebung voraus setzte, und es ist nicht bekannt, dass jemand mit einem Humor wie Samuel Beckett an der Erziehung des Prinzen beteiligt war.

Ob der Prinz hier nun ganz ernsthaft nach der gefährlichen Kinderkrankheit heißt, ob sein Name eine Petipa-Anspielung ist oder ob sie nur eine selbstironische Verballhornung der beiden Macher Vasily Medvedev und Yuri Burlaka ist – der Prinz ist auf alle Fälle bildschön, kerngesund und weit davon entfernt, für Clara ein Risiko zu sein.

Im Gegenteil: Er führt sie tanzend in seine Welt, zunächst durch einen Pas de deux, der sie in klassischen Posen miteinander tändeln lässt.

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Auch das Verbeugen wird beim Ballett geübt, aber natürlich ist es nicht so schwer wie die wunderbar komplizierten Hebungen und Drehungen – Krasina Pavlova und Mikhail Kaniskin nach dem „Nussknacker“ beim Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Von den Prinzenhänden gehalten, dreht Clara Pirouetten, und gemeinsam scheinen sie – obwohl sie sich ja eigentlich noch gar nicht kennen – bereits feste Zukunftspläne zu schmieden.

Aber gibt es in so einem Zauberwald mitten in einem Traum überhaupt einen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft?

Clara kümmert nichts mehr, ganz so, als sei sie eine zeitlose Unsterbliche, die in ihrem Wintertraum für immer jung sein darf.

Da vollführt sie, zu uns im Profil stehend, ein Penché, während der Prinz vor ihr kniet, ebenfalls im Profil, und sie stützt. Eine berühmte Pose aus dem „Nussknacker“! Wie ein vertikaler Spagat schaut das bei der jungen Dame aus, und Claras Standbein ist dabei wie in die Erde verankert, als seien die Zehenspitzen, auf denen sie steht, kurzzeitig mit dem Boden verschraubt. Das Mädchen als Skulptur, als Puppe mit überirdischen Fähigkeiten – das Puppenmotiv setzt sich somit fort, im ersten Akt klang es mit geschenkten „lebendigen“ Puppen bereits an.

Doch da meldet sich die Natur, in Form der Schneeflocken!

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Erst eine, dann zwei, dann zwei Dutzend junge Damen, die als Schneeflocken makellose Schönheit und wohl geordnete Natur darstellen… ein Ballet blanc zum Abheben beim Staatsballett Berlin im „Nussknacker“. Foto: Bettina Stöß

Erst kommt nur ein Schneeflöckchen – also eine Tänzerin, die mit weißem Tellertutu und Schneekristallspießen im Haar genau so aussieht, wie 1892, bei der Uraufführung des „Nussknackers“ eine tanzende Schneeflocke aussehen sollte.

Und eine Flocke kommt selten allein – immer mehr werden es, bis sich 24 wunderschöne Schneekristalldamen auf der Bühne tummeln, leichthin hüpfen sie umeinander und bilden gemeinsam ein wohlgeordnetes Corps de ballet: ein Ballet blanc, mal ohne melancholisch-verzauberten Ausdruck, dafür mit voller Frische und fast revuehafter Lebendigkeit.

„Aaaaaah“, summt der Kinderchor der Deutschen Oper Berlin, und Kindern und Kinderherzen gehört der Abend sowieso!

Im ersten Teil, in dem Weihnachten gefeiert wird, treten sie als Theater-im-Theater auf, es feiern, rein mengenmäßig gesehen, sozusagen ganze Schulklassen mit einigen Erwachsenen das Fest der Liebe.

Im zweiten Teil, wenn festtagsmäßig im Fantasieland von Konfitürenburg aufmarschiert wird, dürfen die Kinder ebenfalls nicht fehlen, wenn es darum geht, die Gesellschaft zu parodieren oder lustige „volksnahe“ Tänzer zu vollführen.

Zu Beginn des zweiten Teils ist das sanfte Schneegestöber auf der Bühne einem funkelnden Sternenzelt gewichen.

Krasina Pavlova verleiht der Clara im "nussknacker" eine geheimnisvolle Note.

Drosselmayer, der Schelm, trägt eine Augenklappe wie ein Pirat und ist dennoch ein höchst hilfreicher Magier: Michael Banzhaf in voller Montur beim Schlussapplaus nach dem „Nussknacker“. Foto: Gisela Sonnenburg

Claras Patenonkel Drosselmayer (anrührend als sympathisch-schräger Hobby-Zauberer getanzt von Michael Banzhaf) hat Clara und ihren Prinzen in ihrem Traum vor weiteren Mäuseattacken gerettet und in ihre neue Heimat geführt.

In Konfitürenburg hängen die Brezeln und die Süßigkeiten massenweise aus dem Schnürboden, und bunte wie gefärbte Zuckerteile glänzen die Kulissen.

Die Ausstattung von Andrei Voytenko (Bühnenbild) und Tatiana Noginova (Kostüme) orientiert sich ja an der Uraufführung, wobei Farben im Theater damals – weil es weder Farbfotos noch Fernsehen noch Werbeplakate noch Internet gab – einen ganz anderen Stellenwert hatten als heute. Man könnte sie mit ihrer Wirkung in Kirchen vergleichen: Ihre krasse Verwendung sollte die Menschen beleben, wach halten, ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen – und das Auge zugleich beruhigen und beschäftigen.

Für uns heute wirkt da vieles fast überzogen jahrmarktbunt, und das ist durchaus typisch für einen klassischen „Nussknacker“.

Krasina Pavlova verleiht der Clara im "nussknacker" eine geheimnisvolle Note.

Sie macht schon Einiges durch, und wahrscheinlich sehen wir auf der Märchenbühne ja gar nicht alles: Clara, hier dargestellt von Krasina Pavlova, die hoheitsvoll beim Schlussapplaus lächelt, hat ein besonderes Schicksal. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

In ihrem Traum, aus dem sie in der vorliegenden Berliner Version nie wieder aufwachen wird, erlebt Clara, wie der Prinz von ihrer heldenhafte Liebe erzählt. Mikhail Kaniskin beherrscht die Ballettpantomime, in der er der Königin in Konfitürenburg Bericht erstattet, tadellos – und wäre man im ersten Akt nicht dabei gewesen, man würde jetzt ebenfalls bestens über Verlauf der Handlung Bescheid wissen.

Dabei betont der Prinz, dass er ohne Claras Liebe nicht überlebt hätte!

Zu ihrer Überraschung wird Clara von der Mutter von Prinz Keuchhusten als Dank für ihre heilsame Liebe kurzerhand in den Feenstand erhoben und gekrönt.

Krasina Pavlova verleiht der Clara im "nussknacker" eine geheimnisvolle Note.

Die Königin (Martina Böckmann) krönte Clara zur Zuckerfee, bevor sie sich später alle gemeinsam zum Applaus aufstellen. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

So wünschen sich Kinder die Welt: Auf jede gute Tat erfolgt sogleich die Belohnung…

Aber das Krönchen steht Clara wirklich gut, dieser frisch gebackenen Fee und Prinzessin, die zudem bald auch das Kostüm der Zuckerfee tragen darf. Das ist allerdings eine Spezialität dieser „Nussknacker“-Version, dass Clara die Identität und auch das Solo der Zuckerfee, der „Fée dragée“, übernimmt. Denn ursprünglich gab es keine Königin, sondern „nur“ die Zuckerfee, die über ihr „Land der Süßigkeiten“ herrscht.

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Beim Schlussapplaus dankt das Publikum allen, die gefallen haben – ausnahmslos! Foto aus der Deutschen Oper Berlin nach dem „Nussknacker“: Gisela Sonnenburg

Durch die Vermengung der beiden weiblichen Hauptpersonen zu einer – aus Clara und der Zuckerfee wird die gekrönte Clara – wird erneut nahe gelegt, dass es sich hier nicht nur um einen heiteren Traum handelt. Es scheint notwendig, dass Clara zur kommenden Herrscherin avanciert, denn faktisch hat sie als Mädchen im heimischen Haushalt einen schweren Stand – und ist dem Bruder offenbar zumeist unterlegen.

Die Überhöhung der kindlichen Heldin zur Fee (statt nur zur Prinzenbraut) birgt also durchaus psychedelischen Zündstoff.

Umso wichtiger das Aussehen dieses gekrönten jungen Hauptes. Und trägt Clara zunächst noch einen gold-weißen Umhang, darf sie dann im Tellertutu der Fee auftreten. Ein wahrer Jungmädchentraum!

Krasina Pavolva als Clara sieht fabelhaft darin aus, der weiße abstehende Tüllrock mit den rosaroten Zuckergusstropfen macht aus ihr eine im wahrsten Sinn des Wortes zuckersüße junge Dame!

Lieblich und neckisch, süß und niedlich sind denn auch die Choreografien, die Vasily Medvedev, Yuri Burlaka und Lew Iwanow für diese geballte Jungweiblichkeit vorgesehen haben.

Doch bevor sie das so richtig zeigen kann, lässt Pate Drosselmayer erst einmal das allegorisch verkleidete Tanzvolk so richtig auftrumpfen.

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Sie parodieren die Gesellschaft, auch die Ständeordnung, indem sie das Renaissance-Personal der Theaterwelt munter kunterbunt zeigen: Die Studentinnen und Studenten der Staatlichen Ballettschule Berlin sind im „Nussknacker“ durchaus wichtig1 Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Eine Zwölferschaft aus stilisiertem Renaissance-Personal, darunter Ritter, Feen und Edelknaben, spiegelt die Gesellschaft wider, sie gleichermaßen satirisch auf die Spitze treiben – im wörtlichen Sinn, denn Ritter in Rüstung zu Spitzenschuhen dürfte man so schnell woanders nicht zu sehen bekommen. Die Staatliche Ballettschule Berlin hat hier fleißig geübt und probiert, sodass die Paar- und Reihentänze flink und fein heruntergeschnurrt werden können. So soll es sein!

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Spanisch, heißblütig, dennoch klassisch: Sarah Mestrovic und ihre Begleiter beim Schlussapplaus nach dem „Nussknacker“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Als spanische Tanzgruppe reüssieren danach Sarah Mestrovic – mit temperamentvollen Pirouetten, ebenfalls in Spitzenschuhen – und die Herrencombo Dominic Hodal, Nikolay Korypaev, Artur Lill und Alexej Orlenco.

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Federico Spallitta und seine wunderhübschen Damen vom „Danse Orientale“ beim Schlussapplaus nach dem „Nussknacker“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Der arabische Tanz – hier „Danse Orientale“ genannt – wird von dem erotisch sich verbiegenden Federico Spallitta angeführt: Seine vier Damen – Soraya Bruno, Elinor Jagodnik, Jordan Mullin und Georgeta Varvarici – flankieren und unterstützen ihn. Das Quintett, in Karamellfarben, aber nicht allzu viele Textilien gehüllt, verströmt eine Utopie lasziver Schönheit, mit lang gehaltenen Balancen und Beinen, die freihändig und ohne weiteres bis ans Kinn hoch gestreckt werden. Ah!

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Asiatische Exotik gehört dazu: Vladislav Marinov und Marina Kanno nach der chinesischen Einlage beim Schlussapplaus vom „Nussknacker“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Das China-Paar Marina Kanno und Vladislav Marinov wirkt dann witzig und spritzig – und hat mit „echten“ Chinesen natürlich fast gar nichts zu tun. Dafür umso mehr mit klassischem Charaktertanz, und den beherrschen beide zum Ergötzen!

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Die Bouffons, die Narren, tragen hier die Wespenfarben Gelb und Schwarz in Streifen – sie springen munter und gekonnt unter Führung von Alexander Shpak (rechts). Foto vom Schlussapplaus nach dem „Nussknacker“ beim Staatsballett Berlin: Gisela Sonnenburg

Der „Danse des Bouffons“, der Tanz der Narren, mit drei schon ziemlich erwachsenen Schülern der Staatlichen Ballettschule Berlin wird angeführt von Alexander Shpak, der mal wieder federleichte, graziöse Sprünge und spitzbübische Mimik zeigen kann. Trotz dickem Make-up unverkennbar gut!

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Süße Mädels, ein neckisches Outfit: Ob Zuckerstangen oder Rohrflöten, es macht Spaß hinzusehen. Foto vom Schlussapplaus nach dem „Nussknacker“ in der Deutschen Oper Berlin: Gisela Sonnenburg

Den traditionellen „Tanz der Rohrflöten“ tanzen hier die „Mirlitons“ (französisch für „Kazoos“), also die Ansingmembrane, die die menschliche Stimme verfremden und zu einem pfeifenden Musikinstrument machen. Rohrflöten waren im 19. Jahrhundert geläufige Gegenstände, vor allem in Kinderzimmern. Optisch hat man es meiner Meinung nach aber eindeutig mit Zuckerstangenmädchen zu tun, dafür sprechen ihre lustig geringelten Kostüme, wie sie in ein „Konfitürenburg“ prima hineinpassen. Süßigkeit ohne Sünde und ohne Zuckerschock: Stephanie Greenwald, Maria Boumpouli, Lisa Breuker, Weronika Frodyma und Aoi Suyama verbreiten mit ihrer Darbietung Frische und Fröhlichkeit.

Einen Höhepunkt aber liefern die Damen und Herren des Corps, wenn sie als goldgelbe Butterblumen verkleidet den „Goldenen Walzer“ – gemeint ist der bekannte Blumenwalzer, der hier mit feierlichen Goldranken und Goldblütenbögen einher kommt – zum Besten geben.

Krasina Pavlova verleiht der Clara im "nussknacker" eine geheimnisvolle Note.

Hier ordnen sie sich für den Applaus nach dem „Nussknacker“ in der Deutschen Oper Berlin: Die Damen und Herren vom Staatsballett Berlin als „Goldblumen“ – herzallerliebst! Foto: Gisela Sonnenburg

Was für ein herrliches Gewusel, mit so manchen kleinen Sprungkombinationen und vielen flirrenden Paar- und Gruppenbildern. Da bilden sich Reigen, Reihen, Kreise – und die drei Schwestern des Prinzen tanzen als blumenhaftes Trio köstliche Terzette: Julia Golitsina, Anastasia Kurkova und vor allem Patricia Zhou bezaubern mit akkuraten Linien bei festlich-fröhlichem Ausdruck.

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Drei Grazien in Gold: Patricia Zhou (links), Anastasia Kurkova (rechts) und Julia Golitsina (mittig) tanzen hervorragende Terzette, als Schwestern des Prinzen gönnten ihnen Vasily Medvedev und Yuri Burlaka aber keine weiteren Prinzessinnenehren. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Und ganz besonders toll: Alexander Abdukarimov und seine Partnerin Mari Kawanishi haben offenkundig hart gearbeitet, um mit völlig unverkrampfter Haltung ein köstlich leichtfüßiges, dennoch präzises Ergebnis zu präsentieren. Bravo!

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Eine große Überraschung: Alexander Abdukarimov und Mari Kawanishi machten aus dem Ensembletanz der „Goldblumen“ eine Darbietung aus Perfektion und Passion – ballet at it’s best! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Da fehlt nur noch der Grand Pas de deux, und den zelebrieren Krasina Pavlova und Mikhail Kaniskin mit solcher Freude, dass man die Augen nicht eine Sekunde abwenden möchte.

Dem Adagio folgt ein Solo von Clara, es ist das, welches traditionellerweise die Zuckerfee tanzt. Die lieblich läutenden Glöckchen in der Musik sind ja weltbekannt, und irgendwie gibt es ohne diese Musik für Ballettfreunde ja kein Weihnachten, egal, wo man sich gerade aufhält.

Pirouetten und Arabesken entstehen unter den treu sorgenden Händen des Prinzen. Und dann hält er Clara vor allem an ihren Handgelenken, was besonders mühelos und spielerisch aussieht.

Hebungen, wie der „Fisch“, lassen die ballettübliche Hochzeitsstimmung aufkommen. Hier folgt dem noch eine Nummer auf einem großen Schal, das heißt: Ein Seidentuch wird ausgebreitet, die Ballerina darf sich drauf stellen und wird dann einige Takte lang vom Prinzen mit dem Tuch gezogen. Man fand das im 19. Jahrhundert sehr schick und extravagant!

Krasina Pavlova verleiht der Clara im "nussknacker" eine geheimnisvolle Note.

Sie steht für Präzision und Präsentation, außerdem für eine stets genau durchgearbeitete Rollengestaltung: Krasina Pavlova, hier im Gala-Outfit und nicht im „Nussknacker“, ist eine der Nachwuchs-Primaballerinen beim Staatsballett Berlin. Eine Femme fatale! Foto: Starfotograf Jack Devant

Später pirouettiert sie, während er sie nur an den Fingern einer Hand hält, eine Steigerung der leichten Haltung an den Handgelenken. Zwischen Mann und Frau darf es wirklich keine Missverständnisse geben, damit solche Spielereien klappen!

Die tollen Grand jetés von Mikhail Kaniskin und die filigranen, ganz genau gesetzten Coupé- und Passé-Schritte von Krasina Pavlova sorgen für die nötige Virtuosität. Und wenn er in eine Orgie aus Sprüngen und Drehungen ausbricht, setzt sie mit seriellen Fouettés nach – es ist eben Klassik, die man hier zu sehen bekommt, und die verliert niemals ihre umfassende Magie.

Auf den Schultern ihres wörtlichen Traumprinzen sitzend, strahlt Clara solchermaßen übers ganze Gesicht: Nach all dem Ärger, den sie am Tag zuvor mit ihrem Bruder hatte – der ihr doch glatt den Nussknacker, diese hübsche Holzfigur, die Pate Drosselmayer mitbrachte, streitig machen wollte.

Und hätte sie den hölzernen Nussknacker nicht eigenhändig im Puppenbett gesund gepflegt – er wäre ein Enthaupteter geblieben, denn im Streit der beiden Geschwister riss ihm tatsächlich der Kopf ab.

Diese Szene, die fast wie nebenbei im ersten Akt geschah, bildet jetzt das komplette Gegenstück zum glücklichen, verliebten Pärchen in Konfitürenburg.

Aber was bedeutet sie auf der symbolischen Ebene?

Versuchte der Bruder ernsthaft, Claras Glück zu verhindern?

War er vielleicht kein unschuldiger kleiner Junge, sondern ein richtiges Monster, ein bösartiges, verdrehtes Kind, das unter anderen Umständen vielleicht mit einer Waffe statt mit einem Nussknacker Amok gelaufen wäre?

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Gemeinsam dem Applaus entgegen: Eindruck vom Schlussapplaus in der Deutschen Oper Berlin nach dem „Nussknacker“ am 26.11.15. Foto: Gisela Sonnenburg

Wir wissen es nicht, und wir können nur darüber spekulieren, was Geschwister einander so alles antun können, insbesondere Brüder ihren Schwestern.

Aber für die verrätselt-absurde Handlung im „Nussknacker“ beziehungsweise für eine tiefenpsychologische Deutung scheint hierin doch die Schlüsselszene zu liegen.

Schließlich gibt es ja auch Brüder, die ihre Schwestern missbrauchen – dass die, wie hier, im aktuellen Berliner „Nussknacker“, deutlich jünger sind als das Mädchen, ist da zwar eher untypisch, aber nicht ganz auszuschließen.

Vielleicht aber steht auch der greulich-grandiose Mäusekönig mit seinem rattenartigen Kopf, seinen fangarmähnlichen Greifern und seinen kraftvollen Sprüngen für ein böses Schicksal, das das Glück des Mädchens Clara bedroht hat.

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Wirklich reale Tragödien gibt es im „Nussknacker“ nicht zu sehen, aber Hinweise darauf… Die Mädchen von der Staatlichen Ballettschule Berlin wissen davon indes nichts und genießen ihren außerordentlich hübschen und gut geprobten Tanz! Hier sind sie beim Schlussapplaus in der Deutschen Oper Berlin am 26.11.15 zu sehen. Foto: Gisela Sonnenburg

Wirklich reale Abgründe an Familientragödien gibt es hier auf der Bühne jedenfalls ganz sicher nicht zu sehen. Schließlich handelt es sich um ein kindgerechtes Märchen, und da ist alles, sogar das Böse, verklausuliert. Real tiefgreifende Traumatisierungen zu zeigen, liefe sowohl den Absichten des Vorläufers vom „Nussknacker“, einem Kinderzimmer-Schauspiel von Modest Tschaikowsky, als auch dem Ballett seines Bruders Peter Tschaikowsky zuwider.

Übrigens waren beide Brüder, der Dichter Modest und der Komponist Peter, homosexuell – worüber sie sich auch schriftlich deutlich austauschten.

In ihrem Bestreben, mit ihrer Kunst eine bessere Welt zu erschaffen, den Menschen Träume und Glück zu schenken, dürfte ihr Leiden an der ihnen nicht wirklich entgegen kommenden zaristischen Gesellschaft durchaus eine Rolle gespielt haben.

Dennoch mahnt die rauschhafte, überaus rhythmische, aber auch mit zahlreichen eingängigen Melodieeinheiten sich ins Ohr fräsende Musik des „Nussknackers“ immer wieder daran, dass hinter der scheinbaren Wirklichkeit noch andere Ebenen sowohl der Realität als auch der Traumwelten verborgen sind.

In der Interpretation der Clara durch Krasina Pavlova gewinnt die Partie etwas Geheimnisvolles, etwas Tapferes, etwas Geradlinig-Aufrechtes, das vermuten lässt: Diese Clara hat mal richtig was durchgemacht und darum ist das surreale Traumland aus knallbuntem Marmeladenkram für sie das einzige rettende Ufer.

Und weil ihre eigene Mutter sie vor dem Bösen nicht schützen konnte oder wollte, gibt es hier, in Konfitürenburg, glatt noch eine überaus liebevolle, starke und freigiebige Schwiegermutter in spe als Draufgabe: die Königin (huldvoll dargestellt von Martina Böckmann).

In der Urversion des „Nussknackers“ von 1892 gab es dann noch ein anderes Ende, das ebenfalls stark symbolischen Charakter hatte: Eine Schar von Bienen trat auf und versammelte sich um einen Bienenkorb, um diesem zu huldigen.

Das war nicht nur eine allegorische Referenz an den Fleiß, den Bienen traditionell verkörpern und der eine Kardinaltugend der Ballettwelt darstellt.

Das war auch eine Anspielung an die napoleonische Regierungszeit, in der die Biene als Wappentier die Lilie des französischen Königshauses abgelöst hatte. Napoleon hatte einfach die stilisierte Lilie, das stets dreifach auftauchende  Abzeichen der Bourbonen, auf den Kopf gestellt – und die Blume zum Insekt gemacht.

Krasina Pavlova verleiht der Clara im "nussknacker" eine geheimnisvolle Note.

Detail aus dem Bühnenbild vom Berliner „Nussknacker“: eine Biene als Wappenemblem über dem Thron der Königin . Eine napoleonische Referenz, die ihren Ursprung in der Uraufführung 1892 hat. Foto: Gisela Sonnenburg

Das Bühnenbild von Andrei Voytenko zitiert die Biene immerhin als staatstragendes Symbol von Konfitürenburg mit einem über der Thron-Lounge prangenden Emblem.

Und die Bouffons, die Possenreißer, tragen hier in auffallender Weise die Farben der Bienen und Wespen: Schwarz-gelb.

Ein Wiedersehen mit ihnen gibt es im Finale, in dem alle ethnischen und klamaukigen Gruppen und Grüppchen noch einmal auftanzen. Olé! Und Juchhei!

Das ist Spaß pur, der ganz offensichtlich vergessen machen will, dass draußen, in der wahren Welt, die eine oder andere Grausamkeit auf uns warten wird.
Gisela Sonnenburg

Vorstellungen: siehe „Spielplan“

Weitere Texte und Fotos zum Berliner „Nussknacker“ bitte unter „Staatsballett Berlin“

www.staatsballett-berlin.de

 

 

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