Die Zarte und der Haudegen Ein Ausbund an zarter Schlichtheit: Hyo-Jung Kang vom Stuttgarter Ballett als Gaststar in „Onegin“ beim Staatsballett Berlin

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Jubel beim Schlussapplaus nach „Onegin“ mit Hyo-Jung Kang (rechts mit Rosen) beim Staatsballett Berlin im Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Was für eine zarte und doch schlichte Tatjana! Hyo-Jung Kang, die junge Primaballerina vom Stuttgarter Ballett, ist vielleicht die schlichteste Tatjana in John Crankos „Onegin“, die es bislang überhaupt gab. Und das gibt ihrer Interpretation eine interessante Richtung – von ihrem ersten Auftritt bis zu ihrem letzten in diesem atemberaubenden Stück, das die Probleme der modernen Liebe so haarscharf auf den Punkt bringt. Jetzt zeigt Hyo-Jung (ausgesprochen: „Kiodschoh“) – mit dem souveränen Mikhail Kaniskin in der Titelrolle – ihre Tatjana auch beim Staatsballett Berlin: mit tosendem Erfolg. Ein Muss für alle „Onegin“-Fans!

Zu Beginn ist es, als sei diese Tatjana, dieses Mädchen vom Lande, zu zart, zu sensibel, zu empfindsam und vor allem zu scheu für die große, anhaltende Liebe zu so einem Haudegen, wie es der Lebemann Eugen Onegin ist. Er, der gern den Zyniker und Casanova spielt, fasziniert sie dennoch, auch wenn das zunächst mehr ein Erschrecken ist als eine Freude. Dass er über ihre Familie viel Unglück bringt, scheint da nur zu gut zu passen.

Feingliedrig liegt Kang in der ersten Szene als Tatjana auf dem Bauch, ein Buch lesend. Andere Tatjanen lesen hier gebannt, neugierig, ganz versunken – bei Hyo-Jungs Tatjana hingegen ist es ein wählerischer Charakterzug, der sich zeigt: mal schaut sie gelangweilt drein, dann wieder ganz gefesselt. Das Buch scheint starke und flache Passagen zu haben, und diese Tatjana ist nicht so romantisch und emotional, als dass sie das nicht bemerken würde. Als Onegin (feinsinnig-selbstbewusst: Mikhail Kaniskin) mit heiterer Miene auftaucht, sieht Tatjana ihn zuerst als Spiegelbild. Und sie erschrickt, denn er legt wie selbstverständlich die Hände auf den Stuhl, in dem sie sitzt. Diese subtile Gebärde der unwillkürlichen Besitzergreifung intoniert die Beziehung zwischen dieser Tatjana und diesem Onegin: Ohne dass die beiden es wollen, entspinnt sich vom ersten Moment an das starke erotische Band zwischen ihnen.

Mikhail Kaniskin ist dabei ein Wunder an Empathie. Während Kaniskin mit anderen Partnerinnen deutlich dramatischer agiert, etwa mit Nadja Saidakova oder mit Elisa Carillo Cabrera, passt er sich hier dem fast impressionistischen Spiel von Hyo-Jung Kang an, sodass die beiden ein unglaublich harmonisches Paar ergeben. Es ist fein gezeichneter Realismus, den man sieht, und Kang ist tatsächlich in jeder Geste das Gegenteil der dramatischen „Ur-Tatjana“ Marcia Haydée, die in den 60er, 70er und 80er Jahren eine geradezu pathetische Primadonna abgab, mit furioser Grandezza.

Die fein hingehauchte Interpretation von Hyo-Jung Kang zeitigt indes Details, die bei stärkerer Dramatik vielleicht unterzugehen drohen. Da ist jetzt aber jede kleine Gestik ein spezieller Ausdruck der erotischen Situation, mit der die aus heiterem Himmel sich verliebende, allzu brave Tochter aus gutem Haus plötzlich umgehen muss.

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Hyo-Jung Kang in Stuttgart in der Partie der Tatjana in „Onegin“ – ungewöhnlich lyrisch, aber auch radikal reduziert und darum sehr modern in der Rollengestaltung. Foto: Stuttgarter Ballett

Ihre Arabesken sind dabei von bezaubernder Schönheit, sie atmen Geradlinigkeit und unverstellte Hingabe.

Dem kann Mikhail Kaniskin Formen und Linien entgegen setzen, die wie aus einem Guss sind. Dieser Dandy hier hat Format, obwohl er ein Draufgänger und Haudegen ist, und man kann das süße Mädel nur zu gut verstehen, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlt. Dass er sich mit gespieltem Interesse ihr Buch zeigen lässt, um es dann ironisch zu belächeln – was für ein Jungmädchenkitsch an Roman mag das sein! – ist eine Facette mehr, die zeigt, welcherart die Spannung zwischen Onegin und Tatjana auch künftig sein wird.

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Mikhail Kaniskin vom Staatsballett Berlin – der vielseitigste Onegin, den man sich denken kann. Foto: Enrico Nawrath

Als er ihr im ersten Pas de deux – auf einem Spaziergang in freier Natur – seine Lebensphilosophie offenbart, ist sie denn auch fast verstört davon, so fasziniert, ja alarmiert. Was ist das nur für ein Mensch, dieser Onegin? Sie hat nie zuvor jemanden getroffen, der offensichtlich über so viel Welterfahrung verfügt. Seine scheinbare Überlegenheit beeindruckt sie nicht nur, sondern verführt sie in eins völlig.

Und er? Er bemerkt nicht einmal, wie sehr sie ihm schon jetzt ergeben ist, denn er ist – rollengemäß – vollauf mit sich selbst beschäftigt. Tänzerisch erzählt Mikhail „Mischa“ Kaniskin nicht nur mit der ohnehin für ihre Beredsamkeit berühmten Onegin-Geste – dem Handrücken, der bekümmert an der Stirn aufgelegt ist – vom Ernst des Lebens. Sondern sein ganzer Körper ist ein Erzählfluss des Onegin, spricht auf künstlerische Weise vom illustren, aber auch an der Welt leidenden Dasein des Einzelgängers und Solitärs.

Und ach! Von der unvermeidbaren Last des Seins spricht sein Tanz, auch von der Enge, von der Mühsal, in der menschlichen Gesellschaft überhaupt zu bestehen. Doch Kaniskins Onegin erzählt ganz klar auch von den Träumen, die dieser Mann hat. Das tut er stärker als die meisten Tänzer, die Onegin verkörpern: Von Freiheit und Glück spricht der tanzende Intellektuelle da, von offenbar hoch fliegenden Ideen. Ha! Aber er weiß auch um deren Scheitern. Er ist aber nicht einfach nur verbittert, er ist zynisch aus einer fatalistischen Menschenkenntnis heraus. Immerhin befinden wir uns ja im 19. Jahrhundert, als die großen politischen Ideen der Menschheit geboren wurden. Da ist es für diesen Onegin ganz selbstverständlich, die intelligible Tatjana nicht nur körperlich in die Höhe zu heben, um ihr eine neue Sicht auf die Dinge zu ermöglichen. Es ist schon pikant, wie ein Pas de deux zum Initiationsritus werden kann!

Kangs Tatjana genießt derweil das Abenteuer, das dieser Mann für sie bedeutet. Was für eine Abwechslung von ihrem Alltag! Was für neue Möglichkeiten zeigt ihr Onegin! Sie schmiegt sich unwillkürlich an ihn, kostet jeden engen Kontakt mit diesem ihr wie daher gelaufen erscheinenden Ausbund an Männlichkeit aus. Was für ein Abenteurer, und was für eine Lust, mit ihm zu tanzen!

Onegin von John Cranko kommt erstmals ins Kino

Am besten, man sichert sich jetzt schon mal die Tickets: „Onegin“ gibt es auf keiner DVD – und jetzt kommt das Kult-Ballett von John Cranko mit den Stars vom Stuttgarter Ballett – Ehrengast: Marcia Haydée – in die Kinos. Bitte hier klicken! Und viel Vergnügen! Faksimile: Anzeige

Jede Pose, in die er sie gleiten lässt, kommt einem Austausch der Herzen gleich. Und wenn er sie hoch hebt, überkommt sie erstmals in ihrem jungen Leben das Gefühl, eine autonome Frau zu sein, die unabhängig und doch geliebt ist. Welche Wonne! Kangs Gesichtsausdruck ist Entzücken pur. Das hier ist zweifelsohne besser als jeder Backfischroman…

Ah, sie ahnt noch nicht, was auf sie zukommt. Ihre Schüchternheit, die sie in Gesellschaft an den Tag gelegt hatte, war zugleich ein guter Schutz für sie. Jetzt aber, da sie sich für Onegin weit öffnet, wird sie verwundbar. Hört sie ihm überhaupt noch zu vor lauter Verliebtheit?

So weiß Onegin in seinem Solo, der Teil ihres Pas de deux ist, auch von der Notwendigkeit zu reden, den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren. Er warnt Tatjana im Grunde vor zuviel Höhenrausch. Er zeigt ihr, wie man dem Leben begegnen muss. Präzise, sichere Landungen auch auf einem Bein in der Arabeske nach geschmeidigen Sprüngen und akuraten Pirouetten betonen diese seine Aussage – auf für das Publikum höchst genussvolle Weise!

Tatjana aber kann nur noch hingerissen um ihn herum trippeln… sie schwebt und flirrt bereits im Liebeshormonrausch, und da kommt jede Warnung für sie zu spät.

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Ein glücklicher Jubel am Ende: Hyo-Jung Kang mit Mikhail Kaniskin nach „Onegin“ beim Staatsballett Berlin im Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Es wird Zeit, Hyo-Jung Kang genauer zu betrachten. Sie hat ein Puppengesicht, sehr zarte Hände und feingliedrige Arme, einen biegsamen, dennoch festen Leib und schön geformte, nicht zu dünne Beine, die in balancesichere Füße mit belastbaren Spitzen münden. Ihr Bewegungsfluss ist organisch und harmonisch, im Ausdruck wandelbar, aber stets unverkennbar lyrisch. Wer sie sieht und ein Ballettfan ist, denkt: „Was für eine optimale Julia!“ Diese Titelheldin aus John Crankos „Romeo und Julia“ hat sie denn auch schon oft getanzt, und nach ihrem Debüt in dieser Rolle wurde sie im April 2011 feierlich zur Ersten Solistin beim Stuttgarter Ballett gekürt.

Ihre Ausbildung erhielt sie, die in Seoul (Südkorea) geboren wurde, an der Kirov Ballettakademie in Washington (USA) sowie in Stuttgart an der John Cranko Schule. Sie ist ein typisches „Stuttgarter Ballettgewächs“ insofern, als sie im Stil vor allem schlichte Eleganz zeitigt. Übrigens: Auch Krasina Pavlova, die in dieser Besetzung von „Onegin“ Tatjanas Schwester Olga tanzt, wurde in der John Cranko Schule erzogen und geschliffen – und auch Mikhail Kaniskin, der seine erste Prägung an der Schule des Bolschoi Theaters in Moskau erhielt, besuchte die John Cranko Schule und erlebte seinen beruflichen Aufstieg – bis zum Ersten Solisten – schon am Staatstheater Stuttgart. 2007 wechselte dieser unbestrittene Supertänzer dann ins Staatsballett Berlin, wo er die Liebhaber- und Prinzenrollen mit männlichem Charme bei gefühliger Sensibilität darzustellen weiß.

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Applaus für zwei Sterne am Balletthimmel: Hyo-Jung Kang und Mikhail Kaniskin nach der „Onegin“-Vorstellung beim Staatsballett Berlin im Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Dass er sich zudem auf seine jeweilige Tanzpartnerin hervorragend einstellen kann, zeichnet ihn aus und prädestiniert ihn als Partner für Ballerinen, die, wie Hyo-Jung Kang, als Gaststars kommen. Da ist es immer wieder interessant zu sehen, welche Nuancen seines Temperaments er gerade betont: Mikhail Kaniskin ist der Alleskönner unter den Ersten Solisten im Berliner Staatsballett.

Es gibt aber nicht nur die beiden Hauptfiguren in „Onegin“. Ebenfalls interessant ist das zweite Liebespaar hier, Onegins Freund Lenski und Tatjanas Schwester Olga. Letztere wird von Krasina Pavlova mit viel Sinnlichkeit und Lebensfreude dargestellt, mit Zielstrebigkeit und doch genügend Verführbarkeit, um später von Onegin hereingelegt zu werden. Sie ist die Lebenslustige, die nie mit Problemen konfrontiert war. Sie gibt sich darum ihrem Lenski so gern wie bedenkenlos hin, sie ist aber eben nicht gefeit davor, sich ablenken und von neuen Reizen überwältigen zu lassen. Diese Figurenzeichnung gelingt Pavolova mit Verve, und in ihren Pas de deux liegt sehr viel Sinnenfreude.

Marian Walter als Lenski ist derweil ohnehin eine Sensation an sich, darüber wurde in einem gesonderten Text im ballett-journal.de bereits berichtet. Wie Walter die Rolle des glücklich Liebenden, die seit Jahrzehnten lyrisch-melancholisch festgeschrieben schien, nochmals um einen Dreh an Dramatik und Psychologie bereichert und entwickelt hat, dürfte weltweit einmalig sein. Auch Walters sehnsuchtsvoll-schicksalhaften Pirouetten, seine Chainés, Cambrés und Cabrioles, seine standfesten Balancen und vor allem seine A-la-Seconde-Drehungen zeichnen ihn, den Deutschen, der an der Staatlichen Ballettschule Berlin ausgebildet wurde, als definitiven Weltklassetänzer aus. Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis man ihn, mit diesem technischen und schauspielerischen Rüstzeug, auch als Onegin sehen wird. Ein Grund mehr, jetzt in die Vorstellungen zu gehen, um ihn noch als Onegin zu genießen!

Das darstellerische Duell der Männer ist denn auch eine Schau. Es spielt sich mit Handschuh-Ohrfeigen und tänzerischen Attacken auf Tatjanas Geburtstagsfest ab. Im Original des dem Ballett zu Grunde liegenden Romans „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin ist es übrigens Tatjanas Namenstag, der gefeiert wird – in altrussischer Tradition. Jedenfalls kommen auf diesem Fest die Generationen zusammen, und man zelebriert ohne Zwang, aber mit ordnendem Sinn die Freude am Zusammenhalt einer überschaubaren, hoffnungsfrohen Gesellschaft.

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Spagatsprung vom und fürs Volk: die applausträchtige Szene im ersten Akt in John Crankos „Onegin“ beim Staatsballett Berlin, wo die Damen besonders schön synchron springen. Foto: Enrico Nawrath

John Crankos choreografierte Ensembleszenen haben nicht ohne Grund genau solchen Weltruhm wie seine Pas de deux, und „Onegin“, eines der international am meisten gespielten Ballette, ist hierfür ein Paradebeispiel.

Waren in der ersten Szene die Spagatsprünge des Damencorps an den Händen ihrer Partner bereits ein begeisternder Höhepunkt – für den das Staatsballett Berlin auch stets wohl verdienten Szenenapplaus erhält – so bilden die putzig-fröhlichen Walzerszenen im zweiten Akt ebenso einen Meilenstein in der Ballettgeschichte.

In starkem Kontrast dazu steht Tatjanas Streben nach einem Mann, der nicht zu ihr passt – der Kummer, der ihr von Onegin bereitet wird, ist wirklich pures Partygift. Da tanzt das verknallte junge Ding wie um sein Leben, um diesen Macker im Frack zu beeindrucken. Geradezu gierig schaut Hyo-Jung Kang ihren Kaniskin-Onegin an, während sie sich in zierlichen Schritten in ihrem Festtagssolo ergeht. Pirouetten, Sprünge, direktes Auf-ihn-zu-Tanzen – nichts nützt. Im Gegenteil: Kaniskins Onegin wird wütend, sammelt in sich das Gefühl, von diesem Mädel beim Kartenlegen belästigt und blamiert zu werden. Und er springt erbost auf, knallt die Hände auf den Tisch – das junge Ding erschrickt fast zu Tode darüber!

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Glücklicher Schlussapplaus nach vielen Tränen auf der Bühne (und im Publikum): Hyo-Jung Kang und Mikhail Kaniskin verbeugen sich nach „Onegin“ im Schiller Theater beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Als er ihr dann auch noch den Liebesbrief, den sie ihm nach in ihrem Teenagergemach schwärmerisch-durchwachter Nacht geschrieben hatte, zurück gibt, ach was, nicht nur zurück gibt, sondern wörtlich in die Hände bröselt, ist ihrem Tränenfluss kein Einhalt mehr zu gebieten. Diese junge, zarte, schlichte Tatjana weint, weint, weint, vor Entsetzen, vor Kummer, vor Enttäuschung, vor Liebe. Ihre Liebesnot ist so sprichwörtlich, dass jedes Mädchen und jede Frau, die mal zurückgestoßen wurde, nachempfinden kann. Es ist eine tiefe Verletzung in ein unerfahrenes Herz, die Tatjana da widerfährt – und Hyo-Jung Kang konzentriert all ihren Schmerz auf dieses Gefühl.

Da weiß man, was der Choreograf und Zürcher Ballettdirektor Christian Spuck meinte, als er sagte, Hyo-Jung Kang sei eine „Ausnahmetänzerin“. Und ihr Stuttgarter Ballettmeister und Produktionsleiter Krzysztof Nowogrodzki befindet sogar: „Ihr Körper ist Musik!“

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Geschafft! Auch die Fotografin ist erschöpft… das Staatsballett Berlin mit Krasina Pavlova (Olga) und Marian Walter (Lenski) in der Mitte beim Applaus. Nach „Onegin“ im Schiller Theater in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Onegin aber hat noch längst nicht genug vom Spiel mit der Liebe. Er flirtet mit Olga, der Verlobten seines Freundes, um zu zeigen, wie omnipotent er ist. Er will Dampf ablassen – und Tatjana so richtig beschämen. Dafür hat er sogar einen Plan: Erst zeigt er Olga seine Spielkarten, dann packt er sie am Arm, um sie auf die Tanzfläche zu zerren. Und dann tanzt er mit ihr, als gebe es kein Morgen. Lenski steht da wie ein begossener Pudel. Er traut seinen Augen nicht. Sein Mädchen, es scherzt und tändelt mit dem wütend flirtenden Dandy herum, so als würde er, der Verlobte, gar nicht mehr existieren! Heißblütig ist er, der Jungmann Lenski, und die unschuldige Verführbarkeit seiner Olga bringt ihn auf die Palme. Da sind die Ohrfeigen mit dem Handschuh, die er an Onegin verübt, fast reine Formsache!

Das Handgemenge der beiden Männer ist interessant. Lenski greift an, ist in seiner gekränkten Eitelkeit aber schwächlich und unentschlossen. Onegin hingegen wird ratzfatz mal eben grob, ein Griff, ein Stoß – und Lenski steht bereits als Verlierer da. Wie kann Lenski ihn dennoch fordern? Das ist keine vernünftige Entscheidung, das steht schon fest.

Die Katastrophe ist also da, und das Drama wendet sich.

Im Schneetreiben bei Morgengrauen tanzt Lenski eines der schönsten einsamen Soli der Geschichte, um sich dann vom nervenstarken Onegin im Duell erschießen zu lassen. Dabei hatte ihm der Ältere doch noch eine Chance geben wollen!

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Hyo-Jung Kang und Mikhail Kaniskin – unmittelbar nach Vorstellungsende beim ersten Applaus. Die schwierigen Gefühlen des letzten Paartanzes von „Onegin“ stehen noch in den Gesichtern der Künstler. Eine Aufführung des Staatsballetts Berlin im Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Mikhail Kaniskin tanzt den Versuch, den offenkundig unterlegenen Lenski noch von oben herab vom Duellvorhaben abzubringen, mit wunderbar beredter, von gebrochenen Freundschaftsgefühlen begleiteter Gestik. Aber der zu Tode gekränkte Lenski – der in Marian Walters Interpretation mit seinem Leben bereits abgeschlossen hat und sich dabei noch wie ein Held fühlt – ist uneinsichtig. Kaniskins Onegin pirouettiert, er haut sich wütend auf die Schenkel, er stampft auf, er weiß doch, wie es dann enden wird, was für eine Torheit ist das, so ein Duell, zumal – wofür? Für eine Polka mit der Falschen?

Aber Onegin ist nicht so mondsüchtig wie sein junger Freund, er sammelt seine Kraft, er wird um sein Leben kämpfen. Als dann am Horizont der erste Schuss den hier beinahe nihilistischen Lenski fällt, kippt die szenische Stimmung aus der melancholisch-pathetischen Ambivalenz ins Tragisch-Dramatische. Die Damen in ihren Kopftüchern, also Tatjana und Olga, werden aus dem Stand zu Klageweibern, und Kaniskin als Onegin schlägt sich die Hände vors Gesicht und beugt sich unter den stürmisch aufwallenden Rhythmen der sinfonischen Musik von Peter I. Tschaikowsky, die Kurt-Heinz Stolze solide für Ballett bearbeitet hat.

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Dirigent Paul Connelly nach der Meisterleistung mit „Onegin“ und der Staatskapelle Berlin fürs Berliner Staatsballett im Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Musik ist ja eine Besonderheit, da sie sich aus speziell für dieses Libretto arrangierten und teils stark bearbeiteten Stücken von Tschaikowsky zusammen setzt. Weitläufige Ähnlichkeit mit der Oper „Eugen Onegin“ des Komponisten ergibt sich nur an wenigen, seltenen Stellen – so im mächtig donnernden Klang, der den Schluss des Balletts einläutet. Bis zum allerletzten Akkord servieren Paul Connelly und die Staatskapelle Berlin die rauschhaften Kaskaden mit aller gebotenen musikalischen Aplomb. Wunderbar.

Dieses Ende aber ist der Fluchtpunkt des Librettos. Alles strebt ihm zu, diesem letzten großen Pas de deux einer liebenden Frau und eines Mannes, der zu sehr an sich selbst vorbei gelebt hat, um in der Liebe noch zu gewinnen.

Nachdem Tatjana – durch den Duelltod Lenskis aus familiären Gründen von Onegin für viele Jahre getrennt – einen Mann fand, der sie liebt und den sie als Partner akzeptiert, gibt es ein unerwartetes Wiedersehen des ungleichen Paares.

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Die Solistinnen und Solisten nehmen den Dank des Publikums entgegen – nach „Onegin“ vom Staatsballett Berlin im Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Onegin besucht den Fürsten Gremin, der hier mit unaufdringlicher Zuneigung zu Tatjana von Martin Szymanski getanzt wird. Tatjana tanzt, auf einem Ball, als glückliche Gattin mit dem Fürsten den nach der Farbe ihres Kleides benannten „Roten Pas de deux“. Es ist ein einziges Loblied auf die Ehe, das die beiden vorführen, ein Lob der Innigkeit, der Herzlichkeit, der harmonisch-vertrauensvollen Lebensführung. Der Abenteuerfaktor von Wildheit und weiter Welt tendiert hier zwar gen Null. Aber die ebenmäßige Erfüllung im Anderen, die Kontinuität einer starken Gefühlsbindung, die kommt hervorragend zur Geltung. Sanfte Hebungen, sachtes Beieinanderknien, viele beschützende Haltungen – Gremins tänzerischen Vokabular ist beneidenswert ausdrucksstark für diesen Part.

Und Neid und Eifersucht empfindet dann auch Onegin. Es passiert etwas, womit er wohl nie gerechnet hätte: Die Liebe erwischt ihn. Er, der stets mit vielen Damen so flirtend wie ungerührt zu tanzen vermochte, fühlt sich auf einmal wie im falschen Körper. Kaniskin spielt das Entsetzen über die eigenen Gefühle als Onegin ohne Pantomime, dennoch oder gerade deshalb glaubhaft.

Ausgerechnet diese kleine unbeherrschte Landpomeranze von damals! Ausgerechnet in diese Tatjana verliebt sich der mit allen Wassern gewaschene Dandy. Oha. Obwohl oder weil sie jetzt glücklich verheiratet ist, bemerkt er ihre tiefe Gefühlswelt, ihre fraulich-autonome Aura, ihre auch in der Beziehung zu Gremin bewahrte Selbständigkeit. Ja, sie war nicht umsonst immer etwas wählerisch!

Onegin wird maßlos, wie er immer maßlos wird. Er sieht sich auf der Gewinnerseite. Immer. Er raubte einst Lenski das Leben, statt das Duell abzusagen. Und jetzt will er sich in Tatjanas Existenz hinein drängen, mit zerstörerisch-passionierter Kraft. Aber auch: mit der Sturmwut der Liebe! Sie rührt tatsächlich etwas in ihm an, das keine zuvor berührt hat.

Er schickt ihr einen Brief, in dem er seinen Besuch ankündigt. Sie bricht fast zusammen, als er ihn erhält. Hyo-Jung Kang spielt die Verzweiflung hier besonders stark.

Als er dann da ist, in seiner goldbestickten schwarzen Weste unterm Frack, ist jeder Hochmut von ihm gewichen. Kaniskin hat die Arroganz von Onegin in dieser Besetzung sowieso gegen einen gewissen Übermut getauscht. Jetzt ist Demut an dessen Stelle getreten.

Der Haudegen als Renegat. Rührt es sie nicht? Oh nein, noch hat sich die Fürstin voll im Griff. Seine ersten Annäherungsversuche prallen an einer Schutzhülle aus Stolz und Scham ab.

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Schlussapplaus für alle! Vorn Mikhail Kaniskin und Hyo-Jung Kang nach „Onegin“ beim Berliner Staatsballett im Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber dann. Dann wird sie weich. Und beginnt zugleich – zu weinen! Wirklich: Hyo-Jung Kang bricht keineswegs, wie üblich, in glückselige Momente der Lust aus, während Onegin sie im Paartanz umgarnt und hebt und hinlegt und führt. Nein – sie lässt es zwar geschehen, weil sie zunehmend wehrlos wird, diesem Kerl gegenüber, der sie noch vorm ersten Mal sitzen ließ und den sie liebt, wie sie keinen anderen lieben kann. Aber sie leidet darunter, und ihre Wunde von damals ist ebenso stark wie ihr Wissen, dass sie Onegin als Liebhaber nicht annehmen darf, wenn sie sich ihr gerade erst gemachtes Eheglück erhalten will.

Sie will Gremin nicht verlassen. Nicht für diesen unsteten Abenteurer. Nicht für diesen Zyniker, der ihr gegenüber einst ein Höchstmaß an seelischer Grausamkeit bewies. Aber sie leidet, als würde er sie jetzt, nach höchstem Glück, verlassen.

Glück mit Onegin hatte diese Tatjana – und das ist neu an Hyo-Jung Kangs Interpretation – nur in ihrem Traum. Als sie nachts in ihrem Jungmädchenschlafzimmer vom lebendig werdenden Spiegelbild Onegins träumte – da war es fasslich und begreiflich, dieses Gefühl der absoluten Liebeslust.

Und jetzt? Jetzt erklingen dieselben Melodiebögen, manche Bewegungen sind zum Verwechseln ähnlich – und doch kann diese Tatjana hier bestenfalls masochistischen Genuss aufbringen. Sie spürt: Es tötet sie, diesen Mann zu lieben. Ihr Gesicht wird eine Grimasse des Weinens, ihr Mund verzieht sich zu einer Maske des Greinens und findet nicht wieder zurück zu irgendeinem Lächeln… Sie schreit ohne laut zu sein, aber der Schmerz in ihr kommt nicht zur Ruhe.

Und so weist sie ihm die Tür, nach einem vertikalen „Hexensprung“ (der zweite gelingt ihr nicht ganz so) – und nachdem sie ihm, ganz im alttestamentarischen Rachestil, seinen Brief in die Hände zerfetzt.

Er kann es gar nicht fassen. Ist das wirklich Tatjana, die ihn da so kaltblütig rauswirft? Kann eine Frau unter so viel Tränen so kaltblütig sein?

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Die Tänzer und der Coach: Mikhail „Mischa“ Kaniskin (li.), Hyo-Jung Kang (mi.) und Krzysztof Nowogrodzki (re.) nach der Vorstellung von „Onegin“ beim Berliner Staatsballett. Foto. Gisela Sonnenburg

Sie kann. Diese Tatjana kann sogar sich selbst besiegen, ohne das zu bereuen. Als er ging und sie ihm nachläuft, tut sie es nicht – wie es eigentlich sein soll – weil sie ihm instinktiv nachlaufen möchte. Diese Tatjana vergewissert sich nur, dass er auch wirklich weg ist. Und dann läuft sie nach vorn, zu uns, an die Rampe, in ihr altes, neues Leben zurück. Ohne Umschweife.

Während Polina Semionova, die diese Rolle exzellent durchgearbeitet hat und sicher eine der besten lebenden Tatjanen ist, an diesem Endpunkt ein fantastisches Hin- und Hergerissensein vorzeigt, mit Schlenkern nach links und nach rechts, in einem Zustand des völligen Außersichseins, ist Hyo-Jung Kang ganz schlicht. Sie läuft einfach nur nach vorn. Dort fängt sie sich, immer noch weinend, und das Gesicht ist ein einziges Schluchzen. Als sie die geballten Fäuste senkt, ist klar: Sie hat über sich selbst gesiegt, über ihre Leidenschaft, sie ist das brave Mädchen geblieben, das sie immer war. Sie blieb sich treu. Aber die ganz große Liebe, die wird sie nie wieder erleben. Es ist selten, dass eine Interpretin sich an dieser Stelle traut, auf die Bewunderung, die man Tatjana sonst für ihren Verzicht zollt, zu verzichten und ganz auf das Mitleid zu setzen. Ja, es tut einem Leid, dieses Mädchen, das zur glücklichen Frau wurde, und dessen wohl verdientes Eheglück von einem einzigen Auftritt einer alten Liebschaft restlos zerstört wurde.

Denn auch das ist hier klar, und auch das ist neu an Hyo-Jung Kangs radikal vereinfachter Interpretation: Tatjana wird nie wieder sie selbst sein können. Sie hat verloren, indem sie gewann. Innerlich ist sie jetzt zerstört, sie hat sich von Onegin alles nehmen lassen, was sie hatte, ohne sich das geben zu lassen, was er zu geben hätte.

Und auch er ist im Innersten getroffen. Er wird die Liebe fliehen, für den Rest seines Lebens. Er hat keine Chance mehr. Einmal in seinem Leben traf ihn der Zauber der Liebe – aber er wird zurück gestoßen in sein altes, lasterhaftes Dasein. Die leichtlebigen Damen warten schon!

Eine Gemeinheit ist das. So ein Ende einer Lovestory ist wirklich abgrundtief schwarz, und das ist das bodenlos Moderne an diesem Stück in dieser Interpretation. Es setzt keineswegs auf die Erfüllung eines wie auch immer gearteten Glücks. Sondern einzig auf die Behauptung des liebenden Individuums, unter welchen Umständen es auch immer zu existieren hat. Es gibt keine Illusionen mehr. Das ist großartig. Erschütternd. Lehrreich. Sehr zeitgenössisch!

Und dennoch fallen einem auch die anderen Tatjanen ein, diejenigen, bei denen mehr Hoffnung auf eine Liebeserfüllung mit Onegin zu erspüren ist, und bei denen es sogar wahrscheinlich ist, dass das allerletzte Wort noch längst nicht gesprochen ist, wenn der Vorhang fällt.

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Polina Semionova als Tatjana beim Staatsballett Berlin in „Onegin“, mit Wieslaw Dudek in der Titelrolle. Ein unvergessliches Paar – wiewohl Dudek im Sommer 2015 seine aktive Tänzerkarriere freiwillig beendete. Foto: Gisela Sonnenburg

Da ist die schon erwähnte Polina Semionova, die diese Rolle schon seit Jahren ab und an in Berlin tanzt und deren fantastische Tatjana hier im ballett-journal.de auch schon beschrieben steht. Polina wuchs in die Tatjana hinein, wie eine Primaballerina in jede große Rolle hineinwachsen sollte: wie in einen maßgeschneiderten Schuh. So machte sich Semionova etwa auch die Titelheldin aus Patrice Barts „Giselle“ in Berlin absolut zu eigen.

Polina ist in beiden Partien eine donna assoluta – als Tatjana im dramatischen Fach, als Giselle im lyrischen. Sie gehört in die Tradition der Grandes Dames à la Marcia Haydée, während Hyo-Jung Kang sich dieser Linie widersetzt und mit radikaler Reduktion eine Art Anti-Tatjana kreiert. Das ist sehr modern und auch wegweisend – vermag aber die klassisch-perfekte Interpretation selbstredend nicht zu toppen.

Eine andere berühmte Berliner Tatjana fällt einem da aber auch unweigerlich ein, sie bekam derweil soeben ihren zweiten Sohn (herzlichen Glückwunsch!) – und saß jetzt begeistert im Publikum, der jüngeren Kang herzlich applaudierend: Nadja Saidakova. Diese wunderbare Primaballerina mit der besonders menschlichen Aura.

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Nadja Saidakova vom Staatsballett Berlin – eine Erbauung als Tatjana. Hier in besonders leidenschaftlicher Pose mit Onegin (Mikhail Kaniskin – sie tanzte in Berlin aber auch oft mit Wieslaw Dudek). Foto: Enrico Nawrath

Saidakovas „Hexensprünge“ im Schlussakt waren mal das Beste, das man überhaupt in dieser Hinsicht erleben konnte, so vollkommen spiegelten sie das Gefühlsleben der Tatjana. Da war die schiere Happiness trotz großem emotionalen Schmerz. Darin lag das Paradies, das auf die Hölle folgt! Diese Tatjana erlebte sehr wohl im Schlusspaartanz den Himmel auf Erden. Sie weinte dabei auch nicht, sondern sie empfand alles, was eine Frau an Liebesglück nur empfinden kann.

Nadja Saidakova, das Vollweib, kostete ihren Onegin – von Mikhail Kaniskin wunderbar passend getanzt – sozusagen in einem schnellen Durchgang voll aus. Sie nahm ihn sich, während er noch versuchte, sie zu nehmen. Sie machte ihn fertig. Sie konnte sich überhaupt nur darum von ihm trennen: weil sie sich als Frau behauptet hatte. Weil sie nun wusste, was sie all die Jahre verpasst hat und auch in ihrer Zukunft verpassen wird. Dass sie, als sie wieder allein war und vorn an der Rampe stand, schrecklich litt, ist selbstverständlich. Denn was sie mit Onegin gefühlt hat, das war so gut!

Und auch die erotisch-elegante Elisa Carrillo Cabrera ist eine spannende Berliner Tatjana, geprägt von Beginn an von einer dekadent angehauchten Ambivalenz zu Onegin, der hier von vornherein als komplizierte Schicksalsfigur in den Augen der Hauptperson erscheint. Auch diese Interpretation hat großen Reiz – und auch hier bietet Mikhail Kaniskin fabelhaft den entsprechenden Onegin. Und obwohl Carrillo Cabrera und Kaniskin privat liebende Eheleute sind, ist ihre Bühnenbeziehung in „Onegin“ von ganz besonderer Perfidie durchzogen, von einer grotesker Tragik, die ihresgleichen sucht und im Ballett ganz besonders rar ist.

Alicia Amatrian in Stuttgart wiederum ist eine fast zu vernünftige Tatjana, die sich ihrem Onegin gar nicht ausliefern kann, weil ihr starker Verstand sie daran hindert. Auch das eine aufregende Darlegung! Wie Alicia und Friedemann Vogel das en detail leisten, steht hier im ballett-journal.de unter „Stuttgarter Ballett“. Und auch das Bayerische Staatsballett hat seine sehenswerten Tatjanen, allen voran, wie im ballett-journal.de nachzulesen, die rückhaltlos anbetungswürdige, besonders passionierte Lucia Lacarra… und sie alle sind es Wert, ihnen hinterher zu reisen!

Ach, Tatjana! Man kann auch auf die Zukunft dieses Stücks neugierige sein, es wird hoffentlich noch viele Tatjanen geben, die einen rühren und mitreißen und die einem klar machen, welche Verantwortung sexuelle Gefühle auch bedeuten können.

John Neumeier hat ja aus Neugierde auf die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Figur sogar ein gleichnamiges neues Ballett „Tatjana“ erschaffen, das ab und an beim Hamburg Ballett sowie in Moskau zu sehen ist (siehe „Hamburg Ballett“ im ballett-journal.de). Es ist eine tolle Ergänzung zu John Crankos „Onegin“ – ein Ersatz ist es selbstverständlich nicht.

Nun werden sich derweil viele Ballettliebhaber in Sachen Berlin fragen, ob es sich derzeit überhaupt lohnt, in der Hauptstadt einen womöglich aufwändig organisierten Besuch einzuplanen – oder man dann einen streikbedingten Vorstellungsausfall erlebt.

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Die schönen Jungs und Mädchen vom Staatsballett Berlin – sie wissen, was sie tun… hier beim Schlussapplaus nach „Onegin“ im Berliner Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Das Stimmungsbarometer, das ich aktuell in die Luft halte, schlägt eindeutig in Richtung „Tanzlust“ und gegen Streik aus – prinzipiell ist die Situation des famosen Staatsballetts Berlin derzeit aber alles andere als einfach oder übersichtlich.

Ich versuche mal eine Analyse:

Einerseits müssten die Tänzerinnen und Tänzer, wenn sie rein rational vorgingen, jetzt streiken bis zum Anschlag. Denn nie standen die Zeichen dafür, dass sie auch ihre Forderung, die Gewerkschaft ver.di solle einen neuen Vertrag für sie aushandeln, durchsetzen können, so gut. Der Geschäftsführer vom Staatsballett Berlin, Georg Vierthaler, knickte insofern ein, als er mit zwei konkurrierenden kleinen Gewerkschaften ein Vertragswerk aushandelte, das den von ver.di verlangten Besserungen teilweise zum Verwechseln ähnlich sieht.

Demnach gibt es gute Zulagen für solistische Aufgaben der Gruppentänzer. Auch für artistische oder nackige Momente auf der Bühne soll es Extrageld geben. Die Ruhezeiten sind in dem Vertrag seltsam penibel bürokratisch festgelegt, und die langen Wegstrecken, die die Berliner Ballerinen und Ballerini mitunter zurück legen müssen, um ihre drei Spielstätten mit den Probebühnen zu erreichen, sollen zu einer Verkürzung der Probenzeit führen. Über 33-Jährige sollen bei Nachweis einer Umschulungs- oder Weiterbildungsmaßnahme sogar ganze zwei bezahlte freie Tage im Jahr für diese bekommen. Auch, wenn das alles nun nicht wie das große Los im Lotto ist: Die Verlockung, so einen Vertrag einfach zu unterschreiben, dürfte für manche der Bühnenkünstler ziemlich groß sein.

Andererseits können sie nur dann ganz gewinnen, wenn sie die Gegenseite weiter unter Druck setzen. Das ist logisch. Acht Vorstellungen bestreikte das Berliner Staatsballett in der letzten Saison – und sorgte damit für mächtigen Wirbel.

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Sie müssen sich entscheiden, wie sie sich durchsetzen wollen – die Tänzerinnen und Tänzer vom Staatsballett Berlin, hier beim Applaus nach der „Onegin“-Vorstellung am 8.10.15 im Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

In der laufenden Spielzeit haben sie ihren Arbeitskampf mehr aufs Reden verlegt, so in einer Podiumsdiskussion wie dann auch bei einem – völlig ergebnislosen – verbalen Auftritt im Berliner Abgeordnetenhaus vor dem Kulturausschuss.

Der Druck, der von solchen Aktionen ausgeht, ist indes gering. Der Regierende Bürgermeister Berlins, Michael Müller, und sein Staatssekretär für kulturelle Angelegenheiten, Tim Renner, sehen sich bislang nicht veranlasst, den Geschäftsführer vom Staatsballett Berlin anzuweisen, mit ver.di Verhandlungen aufzunehmen. Und ver.di reicht keine gerichtliche Klage deshalb ein, soweit bekannt – es scheint eine Pattsituation zu sein.

Onegin und Tatjana lieben sich, ohne es zu wollen.

Streiken oder tanzen? Das Ensemble vom Staatsballett Berlin hat sich auf beiden Gebieten Meriten verdient – und muss in seinen Anliegen ernst genommen werden. Foto vom Schlussapplaus nach „Onegin“ beim Staatsballett Berlin im Schiller Theater: Gisela Sonnenburg

Nun steht auch noch eine Premiere an. Soll man da den Künstlern, die ihren Beruf mit Leib und Seele ausüben, etwa raten zu streiken? Ihr Ballettintendant Nacho Duato, der sich öffentlich für den Streik seiner Tänzer aussprach, wird das morgen nicht widerrufen. Vielleicht ist es klug, eine Runde mit dem Streiken auszusetzen und stattdessen mehr auf Kommunikation mit der Öffentlichkeit zu setzen.

Nur: Wann hat ein Ballettensemble schon so viel Rückenwind für seine Sache? Kann es sich dann leisten, darauf quasi zu verzichten und nurmehr zu schwätzen statt zu handeln? Keine leichte Entscheidung. Jede Künstlerin und jeder Künstler vom Staatsballett Berlin wird sie aber zu fällen haben. Viel, viel, viel Glück, so oder so!

Die künstlerische Legitimation, sich ein bedeutendes Ballettensemble von Welt zu nennen, hat das Staatsballett Berlin mit so schönen Vorstellungen wie „Onegin“ – und auch mit seinen mal brillant-düsteren, mal edelmütig-hintergründigen Arbeiten von Nacho Duato – sowieso. Wer all das nun verpasst, weiß nicht, wovon er redet, wenn er sich vom Berliner Staatsballett ein Bild machen will. Also bitte: Man sollte sich (auch als nur angehender) Ballettfan – egal, wo man wohnt – mal einen Abend Zeit nehmen und ohne Vorbehalte kommen! Züge aus Berlin raus gibt es übrigens auch spätabends noch… man muss also nicht immer ein teures Hotel oder leutselige private Besuche einplanen.
Gisela Sonnenburg

Weitere Texte zu „Onegin“ unter „Staatsballett Berlin“, „Stuttgarter Ballett“, „Bayerisches Staatsballett“ und „Hamburg Ballett“ hier im ballett-journal.de

Weitere Termine: siehe „Spielplan“ hier im ballett-journal.de

Und Infos unter:

www.staatsballett-berlin.de

 

 

 

 

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