Prinzessin Wonneproppen und Prinz Strahlemann Prima Ballerini und Ballerinen: Das klassische Stuttgarter „Dornröschen“ von Marcia Haydée ist ein Fest für die brillanten Tanzkünstler

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Ein perfektes, ganz klassisches „Dornröschen“-Paar: Elisa Badenes und Daniel Camargo im „Fisch“, der berühmten „Dornröschen“-Pose im Grand Pas de deux. Foto: Stuttgarter Ballett

Diese Prinzessin hat keine Komplexe. Hat sie auch gar nicht nötig. Beim „Rosen-Adagio“ schwingt sie das rechte Bein weit in die Höhe, aber so leicht, als wäre das eine Entspannungsübung. Dann steigt sie in ihre Attitüden, hebt dazu das linke Bein, um sich von den Prinzen auf den Zehenspitzen des rechten Fußes sanft im Kreis führen zu lassen – und anschließend freihändig so sicher zu stehen, als sei sie eine Skulptur aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Androgyn, mädchenhaft und grazil bis zum Anschlag – so präsentiert das Stuttgarter Ballett sein „Dornröschen“ 2015, in der wieder aufgenommenen Inszenierung von Marcia Haydée. Und Elisa Badenes als Aurora zeigte in der B-Premiere, was eine „Babyprimaballerina“ von 23 Jahren heutzutage so alles draufhaben kann.

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Heckenrosen, wie sie auch ein Dornröschen schmücken könnten… Foto: Gisela Sonnenburg

Man könnte sie glatt „Prinzessin Wonneproppen“ nennen. So eine liebenswerte, vitale, vergnügte, natürliche und auch frivole Ausstrahlung hatte lange keine Solistin mit Weltstarqualitäten mehr! Elisa Badenes tanzt weich und sanftmütig, naiv und neugierig. Sie erinnert mich, obwohl sie eine moderne Ballerina mit allen zeitgenössisch notwendigen Attributen ist, auch an eine Aurora, die ich für eine der besten der Tanzgeschichte halte: an Marianne Kruuse, die in den 70er und 80er Jahren des letzen Jahrhunderts John Neumeiers „Dornröschen“ verkörperte. Schlichte Anmut und eine Grandezza ohne Manierismen verpaarten sich hier wie dort mit einem Naturell, das die duftende Wirkung eines ganzen Frühsommergartens hat: aufmunternd, aber ohne Penetranz; würzig, ohne streng zu sein; liebenswert ohne falsche Süße.

Anamnesis sei hier das Schlagwort: Es bezeichnet in Platons antiker Erkenntnistheorie – die auf den Vorträgen von Sokrates beruht – die Vorstellung, alles Wissen sei kein erlerntes, sondern ein erinnertes. Denn der Mensch als seelisch bestimmtes Wesen wisse alles, bevor er auf die Welt komme – und er müsse durch das Vergessen während der Fleischwerdung später wieder alles Stück für Stück erinnern.

Diese Prinzessin Aurora, dieses „Dornröschen“, ist ein klassischer Fall für eine Anamnesis. Und sie ist verdammt gut in der Erinnerungsarbeit!

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Hohe Beine, zarte Anmut: Elisa Badenes als „Dornröschen“ in Marcia Haydées Inszenierung in Stuttgart. Foto: Stuttgarter Ballett

Während andere vielleicht noch überlegen müssten, wie sie die Beine beim Kreuzschritt vor dem Penché sortieren, hat Elisa Badenes hier flugs eine perfekt gerade Linie, die sie bei jeder Bewegung einhält. Beim Allegro wie beim Andante wie beim berühmten „Rosen-Adagio“. Dessen delikate „Attitude-Führungsdrehung“ sich am Ende im Grand Pas de deux mit dem Bräutigam wiederholt.

Vor ihrem rosenblattzart getanzten „Rosen-Adagio“ allerdings absolvieren Aurora und der Hofstaat ein ausführliches Entree in ein fiktives Märchenland, das keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass hier das Glück und die Zufriedenheit regieren. Aber das Böse wird ebenfalls nie vergehen… Gerade in Marcia Haydées Inszenierung lässt sich sagen: Das Gute ist zwar stark, aber das Böse ist omnipräsent.

Dafür sorgt die böse Fee Carabosse. 1987 mit Richard Cragun uraufgeführt, ist diese Fee en travestie eine Fürstin der Finsternis. In schwarzem Flatterfummel mit Folkloreeinschlag, wehendem, schwarzglänzenden Seidenschleier und als Zwitterwesen mit nonchalanter Eleganz, mit Pirouetten wie ein Kerl, aber seitlichen Neigungswinkeln wie ein Weibchen.

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Beim Schlussapplaus nach dem Debüt der entzückenden Elisa Badenes als „Dornröschen“: Die Schöne und das Biest sprich der gruselig-geschmeidige Star Jason Reilly als Carabosse, die böse Fee, an der Seite von „Dornröschen“ Elisa Badenes in Stuttgart. Foto: Gisela Sonnenburg

Na, diese bösartige Fee ist – eine Granate an Geschmeidigkeit! Jason Reilly, vielen stets als herzzerreißender Romeo in Erinnerung, als leidenschaftszerfressener Othello, als pathetisch-stimmiger Onegin, tanzt die Carabosse, als sei sie ein wandelnder Krimi – und ist schlicht umwerfend damit.

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Solche Sommerfarben finden sich auch in Jürgen Roses Ausstattung für Marcia Haydées „Dornröschen“ in Stuttgart. Foto: Gisela Sonnenburg

Nicht nur, dass es dieser fiesen Fee ein Leichtes ist, Aurora an ihrem 16. Geburtstag mit einem Strauß roter Rosen zur Annahme des Nadel-gespickten Geschenks zu verführen. Fast bekäme sie hundert Jahre später auch noch den Prinzen in die Finger. Der Prinz!

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Springt hoch und elegant, hat Charme – und ein Händchen für seine Partnerin. Daniel Camargo als Prinz Desiré in Marcia Haydées „Dornröschen“. Foto: Stuttgarter Ballett

Daniel Camargo. Ein Strahlemann! Was für ein Traum aus gutem Aussehen, akkurater Spannkraft und männlicher Sprungbefähigung. Er gleitet über die Bühne, als sei er ein Eiskunstläufer in der Kür seines Lebens; er greift seine Partnerin so sanft, aber sicher, dass man die beiden für siamesische Zwillinge halten könnte. Er und Elisa Badenes haben, so jung sie beide sind, sowieso schon Einiges gemeinsam geleistet. Nicht erst seit ihrem gemeinsamen Debüt jetzt in „Dornröschen“. Unter anderem gewannen sie zusammen 2011 den Publikumspreis beim Erik-Bruhn-Wettbewerb in Toronto. Und sprangen da – er als Basilio, sie als Kitri – die halbspanische Rasanz, als sei sie just für sie persönlich erfunden worden.

Camargo stammt – wie Marcia Haydée, die Choreografin des Abends – aus Brasilien. Er wurde 2005 beim Youth America Grand Prix für die John-Cranko-Schule in Stuttgart entdeckt und nach Deutschland gelockt. Dort unterrichtete ihn noch der bereits verstorbene schwierige, aber begnadete Pädagoge Petr Pestov, der in der Schmiede des Bolschoi einst Koryphäen wie Vladimir Malakhov und Alexej Ratmansky herangezogen hatte.

Seine Partie als Prinz Desiré (der sich nur in dieser Inszenierung mit nur einem Accent de gue schreiben darf und sonst „Désiré“ heißt) ist heikel. Denn der Junge hat es nicht so leicht, wie das Libretto auf den ersten Blick glauben machen will. Prinz küsst Verzauberte – alles gut. So scheint es. Aber das Präludium zu dieser Liebe hat eine ganz andere Tonart.

Da ist zunächst mal die schlechte Laune, die der Prinz hat, als er mit seiner Jagdgesellschaft durch den Wald gurkt. Während die anderen sich prächtig amüsieren, strebt Desiré nach anderem… nach mehr Leidenschaft, mehr Inbrunst, mehr Unschuld, mehr Perfektion.

Versonnen und fast stur in dieser geistigen Abwesenheit blinzelt er in die Ferne. Vorn rechts steht er, der edle Prinz, der mit makellosen Grand Jetés seine Eignung für große Taten bereits unter Beweis gestellt hat.

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Vorn verbeugt sch hier Myriam Simon, die Fliederfee, gemeinsam mit den anderen „Dornröschen“-Künstlern beim Schlussapplaus am 23. Juli 2015 in Stuttgart. Foto: Gisela Sonnenburg

Und da kommt ihm die Fliederfee, von der sehr charmanten Myriam Simon mit großer Eleganz und Hingabe getanzt, gerade recht! Sie fährt zum Glück auch nicht in einer dieser balletttypischen Barken heran, sondern benutzt die Mittel des Tänzerischen, um dem Prinzen zu erscheinen. Und sie zeigt ihm, als sinnliche Vision, Aurora.

Und? Will er sie? – Sofort! Er lässt seine Jagdgefährten im Stich und haut mit der Fliederfee ab.

Myriam Simon, die Fliederfee in dieser Besetzung, stammt aus Kanada und kam über China, Leipzig und Lissabon nach Stuttgart, wo sie seit 2011/12 Erste Solistin ist. Sie verkörpert die starken Frauen wie Katharina in John Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“, aber auch Blanche in John Neumeiers „Endstation Sehnsucht“.

Als Fliederfee sind Anmut und Würde ihre vornehmsten Waffen, um sich mit Carabosse, der Monsterfee, zu duellieren. Myriam Simon hat die Autorität, dieses glaubhaft darzustellen – und mit wenigen Ports de bras sagt sie alles, was eine gute Fee zu sagen hat, zum Beispiel, um jemanden zu retten.

Und dieser abenteuerbereite Prinz, der muss erst mal gerettet werden, bevor er sich seine Aurora in die Arme holen kann.

Das männlich-erotische Gefolge von Carabosse, das sich mit einem einzigen riesenhaften schwarzen Seidentuch umgibt, wirkt nämlich äußerst verlockend auf den jungen Mann. Flugs ist er eingewickelt und in die Gruppe integriert. Huch! Da wollte er doch eigentlich gar nicht hin…

Wer weiß, ob er ohne die Zauberkräfte der Fliederfee überhaupt lebendig bliebe. Aber er hat Glück – sie eist ihn los von den wilden Mannen, ohne diese auch nur zu berühren, mittels magischer Power. Dann ist er frei. Für die eine Tat, die ihn in der Märchenwelt berühmt machen wird. Es ist, wie fein, ein Kuss, den er zu leisten hat.

Die gute Fee lotst ihn zu Auroras Höhle, er holt die Schlafende heraus und setzt sie sich aufs Knie. Eine höchst originelle Inszenierung!

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

„Prinzessin Wonneproppen“ und „Prinz Strahlemann“ alias Elisa Badenes und Daniel Camargo mit den anderen „Dornröschen“-Künstlern beim Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Die junge Schlafende zu küssen, ist denn auch kein Problem. Aber dann: Desiré muss hier schauspielern können. Und er kann! Denn wie sonst soll sie sich in ihn verlieben? Sie hat hundert Jahre Schlaf hinter sich, sie stammt aus einer anderen Zeit…

Es gibt diese Karikatur: „Wenn du mich liebst, dann weck mich nicht!“

„Dornröschen“ wäre damit nicht denkbar. All die superben Feen, der kindliche Anhang, das prächtig ausgestattete Ensemble – wohin damit, wenn Aurora nicht aufwachen würde?

Wie kam sie überhaupt zum Dauerschlaf? Ach ja, es ist schon einen Seufzer wert, dieses archetypische Märchen, das die beste aller Prinzessinnen mal so eben fast für immer einschläfert…

Neugierig und offenherzig, wie dieses entzückende Wesen so ist, geht es seit 125 Jahren der bösen Carabosse in die Falle.

Marius Petipa, der Choreograf der Uraufführung von 1890 (er war zugleich das größte Genius, das die Ballettwelt bis dato kannte), hatte da schon vor Entstehen der Komposition seine fest gefügten Ideen und teilte Peter I. Tschaikowski für das Allegro vivo, das Aurora einschläfern soll, Folgendes mit:

„Plötzlich bemerkt Aurora die alte Frau, die mit ihren blinkenden Nadeln strickt – 2/4 Takt – Allmählich wechselt sie in einen sehr melodiösen Walzer in ¾, aber dann, plöztlich, eine Pause. Aurora sticht sich in den Finger. Aufschrei, Schmerz. Blut fließt – geben Sie acht Takte in 4/4, breit. Sie beginnt zu tanzen – Taumel.“

Das klingt bereits spannend wie ein Report, aber es geht noch weiter: „Völliges Entsetzen – das ist nun alles andere als ein Tanz, es ist Wahnsinn. Wie von der Tarantel gebissen, torkelt sie umher und fällt dann völlig unvermittelt nieder.“

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Wie manche Menschen: Ganz leicht verwelkt am schönsten – Heckenrosenblüten, wild und freiheitsliebend. Foto: Gisela Sonnenburg

Tschaikowski musste sich indes noch eine weitere Vorgabe machen lassen: „Sie müssen mit 24, höchstens 32 Takten auskommen“, befahl ihm Maestro Petipa, der gen Ende der Sequenz auch noch ein Tremolo für seine Aurora wünschte: „… als wenn sie einige Angstschreie und Stöhnen ausdrücken wollte: ‚Vater, Mutter!’“ Und dann, ja dann sei es „notwendig, dass die ganze chromatische Skala in voller Stärke vom ganzen Orchester aufgenommen wird.“

Man sieht, wie Petipa (1818-1910) Tschaikowski (1840-93) zu seinem Meisterwerk geradezu hingetrieben hat. Tatsächlich ist die enge Verflechtung von Musik und Tanz ganz sicher ein Grund für den Erfolg des Tschaikowski’schen Balletts.

James Tuggle, Amerikaner, dirigiert seit 1984 fürs Stuttgarter Ballett. Da hat er natürlich Übung mit dem spezifischen Sound, den die Sache braucht. Und das Miteinander vom exzellent ausbalancierenden Staatsorchester Stuttgart mit den Tänzern ist absolut vorbildhaft!

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

James Tuggle dirigiert „Dornröschen“ mit Leib und Seele – hier ist er beim Schlussapplaus am 23. Juli 2015 im Opernhaus in Stuttgart zu sehen. Foto: Gisela Sonnenburg

Zudem erklingen die lieblich walzernden Melodien und die außerordentlich klaren Rhythmen von „Dornröschen“ unter Tuggle gleich noch einmal lieblicher, einerseits, und klarer, andererseits.

In den Schlaf gesungen vom chromatisch tremolierenden Orchester, versinnbildlicht Petipas „Dornröschen“ eine ganze Ära – und Petipa hat sich einen Spaß daraus gemacht, unterschwellig zahlreiche Anspielungen auf die Unfreiheiten in der Monarchie seiner Zeit zu machen.

So traten 1890 mit Carabosse monströs große Ratten auf, die zum Teil anstelle von Pferden oder Eseln den Karren der bösen Fee zogen, die zum anderen Teil aber auch als Diener verkleidet waren. Diese trugen in einem Käfig das Sinnbild der Gefangenschaft mit sich: eben eine Ratte, als Taufgeschenk für Aurora. Sollte man der Unterdrückung die Schuld dafür geben, dass das Böse böse ist?

Die anderen Feen hingegen sind so skurril oder auch weise zusammen gesucht, dass man annehmen muss, sie hätten Petipas Fantasie schon deshalb beflügelt, weil sie eigentlich gar nicht zusammen passten: Als erstes tanzte im Original die Bergkristall-Fee auf, dicht gefolgt von der Zaubergarten-Fee, der wiederum die Waldwiesen-Fee, die Singvögel-Fee, die Fee des Goldenen Weins (gemeint sind die hellen Weintrauben, nicht das Getränk) und endlich die Fliederfee folgten.

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Der Kontrast zwischen dem dunklen Laub und den hellen Blütenblättern gehört zum Naturdesign der Rose. Foto: Gisela Sonnenburg

Bei Marcia Haydée stehen die Beinamen der guten Feen mit ihren Haupttugenden im Programmzettel: Die Bergkristall-Fee ist die der Schönheit, die Fee des Goldweins die der Klugheit, die Wald- und Wiesenfee enspricht der Anmut, die Singvögel-Fee der Beredsamkeit, die Zaubergarten-Fee der Kraft. Zudem werden sie von Kavalieren begleitet, die sich als so hilfreich wie ästhetisch entpuppen.

Elena Bushuyeva, Angelina Zuccarini, Elizabeth Wisenberg, Katarczyna Kozielska und Ami Morita tanzen diese guten Feen mit Verve, ihnen zur Seite stehen zu Recht aufstrebend James Fisher, Jesse Fraser, Martí Fernandez Paixa, Fabio Adorisio, Özkan Ayik und Noan Alves.

Die Pas de six der sechs guten Feen sind zudem ein Traum für jeden Ballettmeister oder -Lehrer, der Geradlinigkeit und Synchronizität im Sinne von Ordnung und Anstand für die Essenz des klassischen Tanzes hält. Es ist schlicht hinreißend und beinahe schon wie von George Balanchine formiert, wie ästhetisch und doch leichthändig sich hier die Choreo fügt.

In diesem Sinne gibt es dann auch das an Einlagen und Mini-Balletten reiche Hochzeitsfest, ausgerichtet vom Zeremonienmeister Catalabutte.

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

James Tuggle, der Dirigent, zwischen der Fliederfee (Myriam Simon) und Aurora (Elisa Badenes), schräg hinter ihm die böse Fee Carabosse (Jason Reilly) – alles beim Schlussapplaus von „Dornröschen“. Foto: Gisela Sonnenburg

Hier erneuerten die Ballets Russes von Serge Diaghilev die Ballettgeschichte, indem sie eine Orient-Einlage anfügten: Sheherazade mit zwei Männern. Dazu traten noch Ritter Blaubart nebst Frauen auf, ein Russentrio, eine Porzellanprinzessin und ein Mandarin – damit bediente Diaghilev 1921 seine Klientel. Und zwar gleich in doppelter Hinsicht: Einerseits huldigte er so dem Publikumsgeschmack, andererseits gab er möglichst vielen der nach Paris ausgewanderten exzellent ausgebildeten russischen Solotänzern Gelegenheit, in den kurzen Nummern zu brillieren.

Möglichst vielen Tänzerinnen und Tänzern Gelegenheit zur Virtuosität zu geben, war und ist auch Marcia Haydées Ziel mit „Dornröschen“. Dabei wird auf die historisch korrekte Wiedergabe der von Petipa übernommenen Schritte und Sprünge geachtet: Niemand überstreckt den Spagat hier ins Grotesk-Moderne, niemand neigt den Oberkörper formwidrig drastisch. Haydée, die in ihrer Jugend selbst nahezu alle weiblichen Partien in diesem Ballett tanzte, achtet auf das, was ihr in Fleisch und Blut überging: auf Stil.

Einige Elemente übernahm sie dabei von Diaghilev oder variierte sie – andere fügte sie hinzu. Hervorzugeben sind natürlich der „Blaue Vogel“ (Constantine Allen und eine fantastische Ami Morita als seine Prinzessin), der „Gestiefelte Kater und sein Kätzchen“ (derb-komisch, irre-lustig: Louis Stiens und Elizabeth Wisenberg) sowie „Rotkäppchen und der Wolf“ (geradezu unheimlich als Vergewaltigertyp und verfolgte Unschuld: Özkan Ayik und Daniela Lanzetti). „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ trumpfen derweil schon deshalb auf, weil die Zwerge von der John Cranko Schule kommen und damit so niedlich wie ausgelassen wie zukunftsverkörpernd sind.

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Der Gestiefelte Kater (Louis Stiens) und sein Kätzchen (Elizabeth Wisenberg) beim Schlussapplaus, im Hintergrund Schneewittchen mit den sieben Zwergen von der John Cranko Schule. Bravo! Foto: Gisela Sonnenburg

Haydées Freude an Bravourstücken erstreckt sich aber auch auf das große Corps de ballet. So tanzt im zweiten Akt, wenn der Prinz die Jagdgesellschaft verlassen hat und sich der Fliederfee zuwendet, eine Schar Waldgeister auf – hübsche Mädchen – und für Ensemble-Szenen haben diese jungen Damen ungewöhnlich brillante Schrittkombinationen. Mit vielen gesprungenen Arabesken, eleganten Rückendrehungen, weichen Armbewegungen. Insgesamt setzt Haydée hier eine Tradition fort, die John Cranko begonnen und mit den Spagatsprungreihen des Corps in „Onegin“ auf ihren Höhepunkt geführt hat: das Ensemble so virtuos wie Solisten tanzen zu lassen.

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Beim Schlussapplaus sind alle nochmal da: Prinzen, Gestiefelte Kater, Blaue Vögel – und vorne rechts die Fliederfee (stark mit Würde: Myriam Simon). Foto: Gisela Sonnenburg

Und auch die vier Prinzen, die an Auroras 16. Geburtstag mit ihr im „Rosen-Adagio“ flirten, sind empanzipiert im Sinne von viel und hervorragend tanzenden Nachwuchssolisten – es ist einfach eine Riesengaudi, sie synchron und leidenschaftlich große und kleine Sprünge absolvieren zu sehen. Damiano Petenella, Alexander Jones, Roland Havlica und James Fisher sind diese Prinzen, die jeder eine ganz eigene Persönlichkeit auf die Bühne stellen, die dennoch fantastisch mit den anderen harmoniert.

Zurück zur Geschichte des Balletts „Dornröschen“. Diaghilev legte 1921 vor allem auf den Tanz an sich Wert und ließ das Bühnenbild und die Kostüme verhältnismäßig schlicht ausfallen. Ansonsten aber gilt „Dornröschen“ traditionell als Ausstattungsballett, als „Kostümschinken“, wenn man so will.

Und natürlich betont die Ausstattung von Jürgen Rose, die Marcia Haydée für sich in Anspruch nehmen kann, auch diesen Aspekt. Eine Galerie mit begehbarem Aufbau und großer Treppe abwärts ist für jede Kulisse herzurichten. Mal wächst hinter ihr der blaue, leicht bewölkte Märchenhimmel, mal rankt sich ein herbstlicher Wald in den Schnürboden. Verblüffend sind die Drei-D-Effekte, die Roses Naturkulissen hier erzielen – ganz ohne neumodischen Projektionskram, nur mit Malerei und geschicktem Arrangement.

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Eine Heckenrose ist eine Heckenrose ist eine Heckenrose… diese hier ist nur Natur und könnte lediglich als Vorbild für die zarten Pastelltöne in Jürgen Roses „Dornröschen“-Ausstattung für Marcia Haydée gedient haben. Foto: Gisela Sonnenburg

Und dann die Farben! Man gibt sich in den pastellenen Tönen von ganz hellem Zuckerrosa über Teerosengelb bis zu Kornblumenblau nachgerade liebend gerne dem Schwelgen darin hin. Der Prolog ist dabei ein Fest in ausgesuchten Blautönen – und bis zum knallbunten Ende mit dem hell leuchtenden Brautpaar in der Mitte triumphiert eine durchdachte Farbsymphonie.

Rose machte schließlich nicht sein erstes „Dornröschen“ – 1978 kreierte er für John Neumeier und dessen mit einer modernen Rahmenhandlung versehendes „Dornröschen“ in Hamburg ein nachgerade filmisch funktionierendes Bühnenbild mit Kostümen wie aus einer Zeitreise durch das 19. und 20. Jahrhundert.

Marcia Haydée hingegen blieb der Tradition treu. Ihre Neuerungen in „Dornröschen“ betreffen weniger das Libretto also vielmehr die tänzerische Ausgestaltung.

Die zentrale Idee darin, sagte sie mir im Interview, sei der Kampf des Guten gegen das Böse. Die Fliederfee versus Carabosse – ein Kampf, der immer nur rundenweise und sozusagen vorläufig gewonnen werden kann.

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Auch die sieben Zwerge möchten Applaus: Kinder der John Cranko Schule nach „Dornröschen“. Foto: Gisela Sonnenburg

Carabosse, die bis dahin häufig eine rein pantomimische Partie war (außer bei John Neumeier), ist hier eine ernst zunehmende Tänzerrolle (siehe oben). Sie ist vergleichbar mit der grandios-klamaukigen Carabosse in der Version des Balletts von Nacho Duato (siehe unter „Staatsballett Berlin“) – aber sie ist dennoch eine ganz andere. Was ihre Präsenz auf der Bühne angeht, so ist sie in der Haydée-Inszenierung das Kontinuierliche. Nach den einzelnen Akten, wenn der Vorhang fällt, steht sie davor parat als eigentlich treibende Macht, als Puppenspielerin im großen Marionettentheater des Lebens – und sie spielt weiter ihre Macht aus, so scheint es, wie Marcia Haydée sagt: „Carabosse stirbt nie.“ Inklusive des Schlussbildes: Während hinter der Vorhangschwelle alles eitel Sonnenschein ist, steht vorn an der Rampe die Fee der Fiesheit und weiß, dass jedes Happy Ending ein zeitlich begrenztes ist. Irgendwann kommt der Punkt, da wird sich das Glück ins Unglück verkehren, da kommt die nächste Katastrophe, da reichen die Abwehrkräfte der guten Feen wieder einmal nicht mehr.

Marcia Haydées Aufwertung der Carabosse gleicht so auch einer Aufwertung des Märchenlibrettos, vom reinen Handlungsablauf hin zu einer philosophischen Idee.

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Heckenrosen – sie wachsen dicht, aber nicht blickdicht. Und sie zeitigen diese ganz zarten Pastelltöne in den Blüten. Foto: Gisela Sonnenburg

Der Fürst der Finsternis als A und O der glücklichsten aller Liebesgeschichten, als Grund und Endpunkt einer sauberen Geschichte. Diese Ironie ist eine Mahnung, als käme sie direkt aus dem Jenseits ans Diesseits!

Platon und seine Anamnesis bleiben da jedenfalls nicht zu Hause. „Alles, was ich weiß, ist, dass ich nichts weiß“, pflegte Platons Meister Sokrates zu sagen, zumindest in Platons Darstellung.

In „Gorgias“ von Platon heißt es schon in einem Untertitel: „Ordnung und Anstand der Seele sind Gerechtigkeit und Besonnenheit.“

Und dann stellt Sokrates eine rhetorische Frage: „Nicht wahr, der rechtschaffene Mann, der um des Besten Willen sagt, was er sagt, der wird doch nicht in den Tag hinein reden, sondern etwas Bestimmtes vor Augen haben?“

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Ein perfektes Paar: Daniel Camargo und Elisa Badenes in „Dornröschen“ von Marcia Haydée in Stuttgart. Foto: Gisela Sonnenburg

Weiter kommt Sokrates zur Pflege des Körpers: „So diese Künstler, und so auch jene andern, von denen wir eben sprachen, die es mit dem Leibe zu tun haben, die Ärzte und die Turnmeister, die bringen doch so den Leib in Ordnung und Anstand.“

Und Sokrates fragt weiter: „Wie aber die Seele? Wird die vollkommen sein, wenn Unordnung in ihr anzutreffen ist…?“ Und es zeigt sich, dass auch die Reifung der Seele Teil der Anamnesis ist. Es geht also nicht nur darum, vergessenes Wissen zu erinnern, sondern auch verloren gegangenes Seelenheil wiederzugewinnen. Solange die Seele „noch schlecht ist, weil unvernünftig, unbändig, ungerecht und unfromm, muss man sie zurückhalten in ihren Begierden und ihr nicht gestatten, irgend anderes zu tun, als wodurch sie besser werden kann…“

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Lieblich auch nach der Vorstellung: Elisa Badenes mit Blumen über Blumen nach ihrem Rollendebüt als Aurora in Marcia Haydées „Dornröschen“. Foto: Gisela Sonnenburg

Nun gab es um 400 v. u. Z., als Platon lebte, noch kein Ballett. Aber die Verbindung aus Ordnung, Anstand, Körper, Geist und Seele ist natürlich sein Kerngeschäft – und es ist ein hübsches Gedankenspiel, sich die Olympia-begeisterten alten Griechen beim Ballettdiskurs vorzustellen. Man möchte sie unbedingt in Marcia Haydées „Dornröschen“ schicken!
Gisela Sonnenburg

„Dornröschen“ in vier verschiedenen glanzvollen Besetzungen allabendlich bis zum 29. Juli im Opernhaus in Stuttgart!

Mehr zur Inszenierung bitte auch hier:

www.ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-dornroeschen-haydee-detrich/

 www.stuttgart-ballett.de (www.stuttgarter-ballett.de)

Wer anreist oder einfach mal seine Ruhe im Luxusformat haben mag, residiere im Althoff Hotel am Schlossgarten: malerisch vis à vis der Staatstheater in Stuttgart gelegen. Hier der beglückende Ausblick aus einer der Oasen, die man dort schlicht Zimmer nennt – und die doch das Flair einer Suite haben:

Dornröschen von Marcia Haydée ist komisch und tiefsinnig.

Luxuriöser Ausblick aus luxuriösem Zimmer mit Suitenflair: Blick auf die Stuttgarter Staatstheater aus dem Althoff Hotel am Schlossgarten. Hinter den Bäumen rechts verbirgt sich übrigens das Opernhaus. Foto: Gisela Sonnenburg

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