Der Wunderretter: Ein Leben für die Kulissen Sibylle Zehle verfasste ein Drei-Kilo-Kompendium über den Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Rose

Roses Buch

Das Jürgen-Rose-Buch von Sibylle Zehle, aufgeschlagen auf dem Schreibtisch, an dem das Ballett-Journal entsteht. Foto: Gisela Sonnenburg

Unter Ballettfreunden ist er bestens bekannt: der 1937 geborene Jürgen Rose, seines Zeichens legendärer Bühnen- und Kostümbildner. Er schuf – in mehrfach variierenden Ausprägungen – für Dutzende von weltbedeutenden Balletten, vor allem von John Cranko und John Neumeier, die Outfits. So für „Onegin“ von Cranko, für „Ein Sommernachtstraum“ und „Die Kameliendame“ von Neumeier, aber auch für „John Falstaff“ von Heinz Spoerli und sogar für Anthony Tudors „Giselle“ von 1963 an der Deutschen Oper Berlin, eine Rarität.

An dem großen Zauber der Aufführungen hat Jürgen Roses Arbeit unstrittig Anteil, auch an ihrer Eignung für Mythologisierung. Auch wenn John Cranko ihm mal einen sehr praktischen, handwerklichen Rat gab: „Du musst an deinem Rot arbeiten.“ Rose tat es. Heraus kam das typische Rose-Rot: ein ins Pinkorange spielendes Rosarot. Damit und mit anderen unverwechselbaren Farbnuancen schuf er unvergessliche Tableaus und unkonventionelle Gewänder: Ob romantisch-unheimliche Backsteinmauern und fließende blaue Ballonseide für „Illusionen – wie Schwanensee“ – oder ob schicke Jeans für Prinz Désiré in „Dornröschen“.

Ob zotig-ästhetische Renaissance-Kostüme für „Der Widerspenstigen Zähmung“ oder ob mit floraler Optik bedruckte Fantasy-Suits für „Initialen R.B.M.E.“: einem Rose fiel immer etwas Neues sein. Und zitierte er sich mal selbst, wie mit dem Kostüm des Armand aus der „Kameliendame“ (das er eindeutig bei seinem „Onegin“ abgekupfert hat), so tat er das in enger Absprache mit dem jeweiligen Choreografen. Rose war zu seiner besten Zeit ein Wunderretter, was das Nachkriegsballett angeht – und das gilt nicht nur für Deutschland. Er kam zudem zur rechten Zeit in das Gewerbe: Unmittelbar vor ihm war vieles von den Klamotten auf den Tanzbühnen schlichtweg dröge.

Summa summarum belegt der Band: Jürgen Rose hat Geschichte gemacht, und zwar mit frischem Herzen und ultracleverem Verstand. Man könnte auch ganz einfach sagen: Er bewies das richtige Händchen für ungewöhnliche Bühnenbildwelten!

Rose auf Herrenchiemsee

Jürgen Rose auf Recherche, im Buch von Sibylle Zehle, im Schloss Herrenchiemsee. Foto: Gisela Sonnenburg

Dabei machen Ballette nur etwa ein Zehntel seiner gesamten Arbeiten aus. Rose reüssierte sonst mit bedeutenden Sprechtheater- und Operninszenierungen; in die jeweiligen Anforderungen wuchs er spielerisch-spielend hinein. Dieter Dorn und Otto Schenk, Götz Friedrich und Rudolf Noelte schwören bzw. schwörten auf ihn. Die Fotos und Schilderungen im Text belegen es: Es waren oft genug hochkarätige, auch riskante Inszenierungen, an denen Rose teilnahm.

Die auch in luxuriösen Lifestyle-Themen erfahrene Autorin Sibylle Zehle hat ihn und seine Arbeit portraitiert. Ein Leben für die Kulissen entfächert sich, Einzelszenen werden fein beschrieben und analysiert. Leider fehlen gesellschaftspolitische Ausdeutungen; besonders zeitkritisch ist das Buch auch nicht gerade. Für meinen Geschmack hätte hier mehr Intellektualität und weniger flachsinnige Beschreibung hinein gehört, Zehle hätte unbedingt einen zweiten, gern auch dritten und vierten Autoren benötigt. Allzu blumig und auch oberflächlich ist ihre Herangehensweise. So bleibt vieles trotz Textmenge bruchstückhaft; eine Aufteilung in Kapitel statt nach Chronologie wäre vor allem für die Nutzer des Buches, also die Leser, effektiver gewesen.

Dass der von Zehle recht schmucklos „Jürgen Rose“ benannte Band fast 500 großflächige Seiten umfasst, ist eigentlich nicht verwunderlich. Nur könnte man sich fragen, ob nicht die Aufteilung in drei oder vier Bände oder auch die Verwendung von weniger dickem (und weniger stark nach Lösemitteln riechendem) Papier sinnvoller gewesen wären. Gut drei Kilogramm wiegt dieses Kompendium, und um es mal eben durch die Stadt nachhause zu schleppen, einzupacken und dann zum Beispiel zum Weihnachtsmann mitzunehmen, erfordert es fast schon vorheriges Hantel-Training. Als sollte man mit dem Werk jemanden erschlagen, so wuchtig und hackebeilschwer mutet es an.

Weil aber die Farbenpracht und auch die reportagig geschriebenen Eindrücke, die die Autorin bei Jürgen Rose selbst, aber auch bei seinen Arbeitspartnern wie John Neumeier, Marcia Haydée und Jürgen Flimm sammelte, häufig überwältigend anheimelnd sind, kann das schwere Gewicht in Kauf genommen werden.

Fotos im Zehle-Buch

Das Jürgen-Rose-Buch hat auch ganzseitige Fotos, sogar Foto-Doppelseiten, auch solche Seiten zum Aufklappen – und auch viel Text. Foto: Gisela Sonnenburg

Schlussendlich locken Entdeckungen wie jene folgende, die – obwohl noch nicht ballettös umgesetzt – jeden interessiert, der sich mit deutscher Geschichte und insbesondere mit Ludwig II. von Bayern je beschäftigt hat. Rose entdeckte nämlich auf einer Recherche mal das „Schachenschloss“ in den bayerischen Alpen. Dorthin zog sich Ludwig zurück, um Kraft zu tanken – und tatsächlich hatte er dort eine eigene Auffassung von einer Relax Lounge umgesetzt, die wie in einem märchenhaft-palastartigen orientalischen Gemach Luxus pur verströmt: mit dicken Teppichen und Springbrunnen, mit kleinen Tischen und großen Amphoren aus Messing, mit dick gepolsterten Fensterbänken und voluminösen Stoffvorhängen.

Die Empfehlung der Biografie Ludwigs von Heinz Häfner ist Sibylle Zehle ebenfalls anzurechnen; der Psychiater Häfner ist, im Gegensatz zu den Denunzianten zu Lebzeiten des Königs, keineswegs der Meinung, dass Ludwig II. psychisch gestört war.

Zur finanziellen Seite der Sache: Nur selten können kulturhaltige Druckerzeugnisse in Deutschland noch ohne Sponsoren entstehen. So ist es auch hier: Ohne die finanzielle Unterstützung (großzügigerweise sogar vorab!) von Irène Lejeune, der Mäzenatin und Botschafterin des Bayerischen Staatsballetts, wäre Zehles „Rose“-Buch nicht machbar gewesen. Und auch der Bayreuth-Mäzen Roland Ernst trug sein Scherflein dazu bei. Dennoch verdienen an solchen Büchern die Drucker und Druckerein noch am ehesten – während die Autoren (die in so einem Band zumeist erstveröffentlichen) und Fotografen (die meist zweitveröffentlichen) finanziell häufig sozusagen in die Röhre gucken. Das ist ein Skandal im angeblichen Land der Dichter und Denker, wird aber zumeist auch von den Medien gern verschwiegen. Politik und Industrie freuen sich: Kritiker und Autoren werden ausgeschaltet, indem niemand sie mehr finanziert.

White Pas im Rose-Buch

Der White Pas de deux aus der „Kameliendame“ von John Neumeier mit Marcia Haydée und Egon Madsen mal ganz anders: im Buch als Schreibtischauflage. Foto: Gisela Sonnenburg

Hier ist es insofern anders, als Frau Zehle ein nennenswertes Honorar bekommen haben dürfte. Und wenn der Klappentext zudem noch anmahnt, es handle sich bei diesem Buch um „ein Stück bundesrepublikanische Kulturgeschichte“, so liest sich das fast wie eine Kampfansage: gegen das Gespare und Abwickeln und sogar Für-obsolet-Erklären von Kultur in Deutschland. Alldieweil, das hat natürlich seinen Buch-Preis; ohnehin sollte man bedenken, wie billig Bücher in Deutschland geworden sind, im Vergleich zu anderen Lebensmitteln und (Konsum-)Gütern.
Gisela Sonnenburg

Sibylle Zehle: „Jürgen Rose“, Verlag für moderne Kunst, Wien, 2014. 479 Seiten, sehr viele Abbildungen. 78 Euro.

Am 28. Oktober 2017 Juli findet im Stuttgarter Opernhaus ein „Ballettgespräch Jürgen Rose“ statt  

www.stuttgarter-ballett.de

Den „White Pas de deux“ von John Neumeier gibt es auch hier: http://ballett-journal.de/ein-glamouroeser-preis-mehr/

UND BITTE SEHEN SIE HIERHIN: www.ballett-journal.de/impresssum/

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