Verlockendes Endspiel „Mayerling“ als Livestream mit dem Wiener Staatsballett: ein Anti-Suizid-Ballett trotz Doppelselbstmord, ein Stück Politgeschichte trotz Romantik. Und ein Bühnenabschied: Gregor Hatala als Kronprinz Rudolf.

Hatala

Gregor Hatala tanzt die herausragende Rolle des Kronprinzen Rudolf in „Mayerling“ von Kenneth MacMillan beim Livestream. Foto: Wiener Staatsoper / Axel Zeininger

Der Kronprinz hat Sorgen. Zur Musik von Franz Liszt versucht er in seinem ersten großen Solo des Abends, seinen Kummer zu vergessen. Er charmiert mit den Hofdamen, er brilliert mit Pirouetten, er landet sicher in eleganten Attitüden, er dreht sogar en attitude, mit hoch erhobenem Bein und aufrecht gehaltenem Rücken. Er springt en attitude vorwärts, er springt mit rundum schwingendem Bein, er steht auf einem Bein, das andere sorgsam hinten ausstreckend – eine Arabeske, als sei er ein glücklicher Sunnyboy, einer, mit dem das Schicksal es besonders gut gemeint hat.

Doch das Gegenteil ist der Fall: Kronprinz Rudolf gehört zu den unglücklichsten Charakteren der Ballettgeschichte. Kenneth MacMillan (1929 – 1992), schottischer Choreograf von Weltbedeutung, schuf 1978 mit „Mayerling“ sein abendfüllendes Tanzstück über Rudolf, den historischen österreichischen Kronprinzen, der sich im Jagdschloss Mayerling nahe Wien im Januar 1889 zusammen mit seiner Geliebten Mary Vetsera das Leben nahm. Damals wurde die Sache vertuscht und behauptet, der Kronprinz sei an Herzversagen verstorben. Als dann Jahre später rauskam, wie alles war, formten sich die Fantasien der Zeitgenossen zu fabelhaften Mythen rund um den vermeintlichen Liebestod.

Kronprinz im Bordell

Ein Kronprinz auf Abwegen: Rudolf besuchte incognito diverse Etablissements… das Ballett von MacMillan schweigt darüber nicht. Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

MacMillan jedoch arbeitete so historisch und detailgetreu, wie es vor ihm kein Ballettmacher wagte, mit keinem anderen Thema. Immerhin kann ein Ballett dann ja auch als politischer Kommentar gelesen werden. Kenneth MacMillan wagte das, schuf mit seinem vor Biedermeierprunk nur so strotzenden Ballett ein Tableau der zu Ende gehenden Ära des österreichischen Kaiserreichs. Die Uraufführung in London im Covent Garden hatte auf Anhieb großen Erfolg. Relativ spät, nämlich erst 2008, kam das österreichisch inspirierte Stück dann in die Wiener Staatsoper, wenn man so will: nach hause, in das Land, in dem es spielt.

Jetzt, nach vier Jahren Pause, veranlasste Wiens Ballettchef Manuel Legris die Wiederaufnahme des prachtvollen „Kostümschinkens“ – und beglückt damit vor allem die vielen Freunde des romantisch-emotionalen, auch psychologisch hoch interessanten Handlungsballetts. Ein Livestream im Internet am Sonntagabend ermöglicht dem Publikum weltweit und mit bis zu 72 Stunden Zeitspanne sogar die ortsferne Ansicht der Aufführung.

Kronprinz mit Lustobjekt

Der Kronprinz und seine tödliche Endlosschleife: sexuelle Obsessionen, Morphiumsucht, Todessehnsucht. Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Tänzerisch sind vor allem die Soli der Herren und die zahlreichen Pas de deux so aufregend wie erregend. MacMillans Stil ist ja geprägt von bildhauerisch-ausdrucksvollen Posen, die zugleich die Höhepunkte der jeweiligen getanzten Phrasen bilden. Wie sich die Tänzer dorthin bewegen, die Posen dann halten, um sie wieder aufzulösen, gehört zu den sehenswertesten Erfahrungen, die man mit Ballett überhaupt machen kann.

Zum Psychogramm der Hauptperson: Rudolfs Mutter, einst zärtlich von allen „Sisi“ genannt, hatte sich bald nach ihrer Heirat zu einer weltflüchtigen Femme fatale gewandelt, die sich kaum um ihre Kinder kümmern konnte. Der Vater, Kaiser Franz-Josef, entwickelte sich zum ignorant-lieblosen Hans-Guck-in-die-Luft, der mit dem Ideal des souveränen Patriarchen rein nichts mehr gemein hat. Im Gegenteil: In der Sphäre um Kronprinz Rudolf herum vergiften Machtgeilheit und Intrigen das gesellschaftliche Klima, jeder bespitzelt jeden – und zwangsverheiratet wird Rudolf auch noch, mit der für ihn langweilig-naiven Prinzessin Stephanie. Da sucht er sich Auswege und landet in einer tödlichen Endlosschleife: aus Morphiumsucht, sexuellen Exzessen und Flirts mit den Staatsfeinden.

Gregor Hatala tanzt in der Livestream-Aufführung den Kronprinzen – eine seiner Paraderollen, und zugleich ist diese Vorstellung sein Abschied von der Bühne. Der gut aussehende Hatala betont das erotische Extrem, das Getriebensein des Kronprinzen, auch seine Hilflosigkeit den eigenen Triebmächten gegenüber (siehe Interview im Anschluss an diesen Artikel). In der Hochzeitsnacht mit der unglücklichen Stephanie tanzt dieser Verrückte, während seine junge Frau bibbernd auf der Bettkante auf ihn wartet, mit seinem Totenschädel – ein desavouierend elegisches Solo. MacMillan wusste genau, was er tat: Es ist historisch verbürgt, dass Rudolf so einen Schädel bei sich aufbewahrte, vermutlich, um sich damit wie Hamlet und Gottvater in einer Person zu fühlen. Außerdem war er ein Waffennarr, auch das ist in MacMillans Inszenierung zu sehen – und zu hören.

Bereits in der gruselig-unromantischen Hochzeitsnacht, also noch im ersten Akt, erschreckt Rudolf seine Gattin mit dem Revolver, markiert damit den mächtigen Outlaw, den „Superhelden“. Er verführt die solchermaßen eingeschüchterte Jungfrau dann nicht mit dem gebotenen Minimum an Einfühlungsvermögen, sondern begattet sie rabiat auf dem Boden seines Schlafgemachs. Trotz der hier aufblitzenden seelischen Verrohung Rudolfs hat die Szene Sexappeal: ein kleiner Funken Zuneigung sprüht unter den Eheleuten hin und her. Es ist, wie bei allen Pas de deux im „Mayerling“, eine grandiose Choreografie!

Ein heftiger Bräutigam

Keine schöne Hochzeitsnacht, dennoch voller Erotik. „Mayerling“ von Kenneth MacMillan rührt an Tabus. Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Das Bühnenbild und die Kostüme unterstreichen den „echten“ und filmischen Charakter des Ballettstücks. Sie stammen von dem MacMillan-bewährten Nicholas Georgiadis. Das Licht kommt vom ebenfalls erwiesenermaßen Mac-Millan-affinen John B. Read. Fazit: Mit goldwarm bis rotbraun nuancierenden Seiden- und Brokatglanzlichtern handelt es sich hier um eine bildgewordene Anschauungslehre kaiserlicher Pracht! Die fesche Optik mit ihrer romantischen Anmutung täuscht aber nicht darüber hinweg, dass hier echte Politgeschichte gezeigt wird ­– die einer Überprüfung durch Historiker tatsächlich Stand halten würde.

Zur Dramaturgie: Die einzelnen Szenen der drei Akte reihen sich aneinander wie Perlen in einer Kette. Sie zeigen die psychopathische Entwicklung Rudolfs, gleichermaßen aber auch die Ursachen ihrer Verschärfung. Da erwischt der Kronprinz seine Mutter, Kaiserin Elisabeth, beim Pas de deux mit ihrem Liebhaber, einem pferdenärrischen Baron. MacMillan übernahm ein weiteres Detail der Realhistorie: Elisabeth schenkte ihrem Mann, dem Kaiser, in selbstloser, aber auch zynischer Manier ein Portraitgemälde, das seine Geliebte zeigt, die Schauspielerin Katharina Schratt.

Alles hier ist ambivalent, doppeldeutig. Die Personen agieren nicht nur miteinander, sondern auch mit sich selbst: Man sieht ihnen an, dass sie sich in dieser Etikette nicht wirklich frei fühlen dürfen. Die Unwirklichkeit und Unwirtlichkeit der höfischen Sphäre kommt in „Mayerling“ ebenso zur Geltung wie die starke Sehnsucht nach echten Gefühlen, die sie hervorbringt. Die Arabesken und Attitüden des Kronprinzen sind da mustergültige Beispiele, und auch die Pas de deux, die Rudolf mit diversen Damen absolviert, bergen die fein nuancierten Abgründe seiner verwirrten Seele. Er ist ein Außenseiter und doch zugleich phänotypisch für diese dem Untergang geweihte, vornehme Gesellschaft.

EIN KRONPRINZ – UND MEHR ALS NUR ZWEI FRAUEN

Da ist auch die Gräfin Larisch, Rudolfs ehemalige Geliebte. Sie liebt ihn noch immer und versucht bei jeder Gelegenheit, einige Umarmungen und Küsse vom Prinzen zu erhaschen. Als er sie formvollendet mit einem Handkuss bedenkt, nutzt sie die Nähe seines Gesichts an dem ihrigen, und sie zieht ihn zu sich, um ihm einen Kuss aufzupressen. Ein solcher Akt von einer Lady auf der Bühne war auch in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts schon ganz schön frivol! Aber die Kaiserin ist Larischs große Gegenspielerin, sie ist eifersüchtig – und fürchtet um Rudolfs guten Ruf! Man kann es als einen Akt der indirekten Besitzergreifung sehen, dass die Larisch, die ja älter als Rudolf ist und erfahren in allen Liebesdingen, ihm dann die junge Baroness Mary Vetsera zuführt. Sie ist halt eine ungewöhnliche Frau…

Die Rolle der Gräfin Larisch wurde in London vor wenigen Jahren von der heutigen Starballerina Sarah Lamb getanzt: mit bildschön-erstarrten Gesichtszügen interpretierte sie die Gräfin als Sinnbild des verstoßenen Vamps. Und es gibt eine Zweikampfszene zwischen ihr und der Kaiserin Elisabeth, als Letzere einen Skandal fürchtet, weil das intime Verhältnis der Larisch zu Rudolf zu Tage treten könnte. Wie eine Furie stakst Elisabeth da im Piqué-Schritt auf die Gräfin zu, scheucht sie, zerrt sie, komplementiert sie unsanft mit einer Ohrfeige aus den Gemächern des Kronprinzen. Das zu parieren, mit Gesichtsmimik und Gestik, zeigt das schauspielerische Können der Tänzerinnen.

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In Wien tanzt die versierte Österreicherin Dagmar Kronberger die Kaiserin Elisabeth, während es für die Larisch wechselnde Besetzungen gibt. Ketevan Papava ist die eine, die andere ist Ioanna Avraam. Beide verkörpern die selbstbewusste, man könnte fast sagen: emanzipierte Lady mit viel innerer Glut. Für Mary Vetsera gibt es in Wien aktuell drei Interpretinnen: Maria Yakovleva, Irina Tsymbal und – beim Livestream – Nina Polóková. Die Choreografie erlaubt es, ein starkes und aktives Mädchen darzustellen, das seine Empfindsamkeit in Passion verwandelt.

Aber auch für die tragende Rolle des Kronprinzen Rudolf gibt es mehrere Casts. Jean Christophe Lesage, der das Stück als Coach mit den Tänzern erarbeitet hat, sagt: „Jeder Tänzer des Rudolf kann seine ganze Wucht und Leidenschaft hier rauslassen!“ Das trifft die emotionale Reichweite der Rolle ganz genau. Kirill Kourlaev, Roman Lazik und Gregor Hatala (im Livestream) zeigen die verschiedenen Facetten dieses zerstört-zerrissenen Mannes, der äußerlich von dämonischer Schönheit und innerlich von aufreizender Intensität ist.

Unter den anderen Rollen ist Bratfisch, der Vertraute des Kronprinzen, einen Extra-Hingucker wert: Davide Dato, Denys Cherevychko und Richard Szabó tanzen ihn alternierend. Ballettkenner sehen, dass dieser Bratfisch choreografisch und auch vom Kostüm her das Vorbild für den Part des Gaston in der „Kameliendame“ von John Neumeier ist. Während so manche Gestik, die Repression und Unglück darstellt, von Rudolf auf Armand, den Liebhaber der „Kameliendame“, überging. Bekanntermaßen schuf Neumeier sein abendfüllendes Meisterstück einige Monate nach der Uraufführung von „Mayerling“ für die damalige Stuttgarter Starballerina und Ballettdirektorin Marcia Haydée, und zwar unter großem Zeitdruck. Die Zitate aus „Mayerling“ von Kenneth MacMillan sind, zumal sie im Verein mit Zitaten aus dem „Kameliendamen“-Ballett „Marguerite and Armand“ von Frederick Ashton sowie mit Zitaten aus „Onegin“ von John Cranko einherkommen, typisch für die geniale Neumeier’sche Technik der Montage und Zitierung – nicht Plagiierung – während des Schaffensprozesses.

Pa de deux mit Bitterkeit

Liebe bis in den Tod: Rudolf und Mary. Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Schillernd ist selbstredend aber auch der Part der Mary Vetsera bei MacMillan: Sie kannte, auch realhistorisch gesehen, Rudolf von weitem, verliebte sich in ihn und bemühte sich gezielt darum, ihm von der Gräfin Larisch – einer Freundin ihrer Mutter – vorgestellt zu werden. Ihre Absicht von vornherein: aus Liebe Rudolfs Mätresse zu werden. Sie war wirklich stark verliebt.

Es existiert ein Abschiedsbrief von Mary an ihre Schwester, den sie im Jagdschloss Mayerling kurz vor ihrem Tod verfasste. Darin heißt es in Bezug auf sie und Rudolf, von dem sie sich erschießen lassen will: „Wir gehen beide glückselig in die Ungewissheit im Jenseits.“ Weiterhin gibt sie der Schwester eine rührende Ermahnung mit auf den Weg: „Denk ab und zu an mich, sei glücklich und heirate nur aus Liebe. Mir war es nicht möglich, und da ich der Liebe nicht widerstehen konnte, gehe ich mit ihm.“

Rudolf war Atheist, aber allein wollte er nicht sterben. Bevor Mary einwilligte, sich von ihm erschießen zu lassen, fragte er seine Kurtisane Mizzi Caspar, ob sie mit ihm zusammen in den Freitod gehen wolle. Aus lauter Angst, sonst ohne ihre Einwilligung vom Kronprinzen umgebracht zu werden, zeigte die Nobelprostituierte ihren vornehmen Freier und seine Tötungswünsche bei der Polizei an. Berufsbedingte Berührungsängste hat sie dafür offenbar überwunden. Dieses historische Detail spielt im Ballett insofern eine Rolle, als das Ansehen Rudolfs im Verlauf des Stücks zunehmend leidet. Rudolf verwahrlost innerlich, wird aber auch immer argwöhnischer betrachtet. Mizzis Anzeige bedeutete für ihn eine Denunziation, eine Offenlegung seiner psychischen Erkrankung.

Dass er sich zudem mit einer Gruppe von vier ungarischen Offizieren gut versteht – aus seiner Sicht vielleicht vor allem um der menschlichen Nähe zu den Männern wegen – wird dem Kronprinzen als politische Unzuverlässigkeit ausgelegt. Entweder Rudolf übersieht oder genießt es, dass diese Offiziere umstürzlerische Pläne hegen und Ungarn in die Unabhängigkeit von Österreich führen wollen. Es scheint, dass der Kronprinz, der keine Aussicht auf eine baldige Thronbesteigung hat, einem Aufstand nicht abgeneigt wäre, ohne Rücksicht auf die Interessen seiner eigenen Familie. Die Choreografie zeigt jedoch auch, dass er es schlicht genießt, von den männlicheren Offizieren umworben zu werden – darum tanzt er so gern ein Quintett mit ihnen.

MIT CHARME UND WAHNSINN: RUDOLF IST EINE KÖNNER-ROLLE

Rudolfs Charme öffnet ihm im Umgang mit anderen Menschen rasch deren Herz. Dennoch erscheint es fast zwanghaft, wie intensiv der Kronprinz Anschluss sucht – und wie wenig er sich mit seiner eigentlichen Position als künftiger Herrscher identifizieren kann. Die Frauen bieten ihm da eine willkommene Identitätsstiftung an: Ihnen gegenüber kann Rudolf als Don Juan auftreten und sein von Komplexen gestörtes Selbstbewusstsein immer wieder aufrichten.

Der Schluss-Pas-de-deux von Rudolf und Mary ist der Höhepunkt des Balletts „Mayerling“, auf den alles zustrebt, zugleich ist er ein Meilenstein in der Geschichte der Choreografie. Er wird eingeleitet durch ein Solo Rudolfs, das dessen Einsamkeit und Entschlossenheit, der Welt zu entsagen, ausdrückt. Die Hände wie gefesselt auf den Rücken gelegt, dabei gebückt, als werde er geknechtet – in dieser Pose hat Rudolf schon zuvor sein Unglück mitgeteilt, in einem Pas de deux mit Mary, der fast ein Pas de trois ist, weil die Liebenden ihn mit der Pistole tanzen, als sei diese ein Zauberstab. So planen sie ihren Selbstmord. Jetzt ist der Moment gekommen, und das tänzerische Vokabular steigert sich in eine exaltiert-hysterische Gestik, in ein Nicht-mehr-Wollen und dennoch Müssen.

Frauen gegenüber verhält sich der Kronprinz allerdings stets so offensiv, dass das Abgleiten in Anzüglichkeit und Obsession immer mitschwingt. Insofern ist der Todes-Pas-de-deux eine logische Fortführung seiner Verführungskünste. Rudolf umzingelt Frauen wie ein Räuber, er tänzelt nicht, sondern marschiert auf sie zu, und er nimmt sie sich, wenn sie ihm gefallen. Mary ist wie gefangen von dieser direkten Art, auch weil sie selbst so ist. Wie Rudolf geht sie auf die Dinge zu, konfrontiert sich und andere mit dem Gegenwärtigen.

GEFÄHRLICHE SPIELCHEN 

Als er ihr zu Beginn ihrer Lovestory unter vier Augen die Träger ihres Kleides herunterreißt, um mit Kennermiene ihre Brüste zu taxieren, lässt sie das begeistert über sich ergehen. Und: Sie kokettiert, wie Rudolf, am liebsten mit dem Tod: Als sie den Kronprinzen erstmals in seinem Schlafzimmer heimlich trifft, greift sie sich ungefragt seinen Revolver, richtet diesen erst in halb spielerischer, halb bedrohlicher Absicht auf seinen Besitzer – und feuert dann einen Schuss in die Luft ab. Angst hat sie dabei nicht – ihr Mut, vielleicht auch Wagemut, ist für eine Frau in ihrem Zeitalter geradezu herausragend.

Die Vorliebe für gefährliche Spielchen eint Rudolf und Mary und ist von der starken Erotik zwischen ihnen nicht zu trennen. Der Kronprinz erweist sich dabei als hingabefreudiger, genussempfindsamer Liebhaber. Dabei lässt MacMillan auch drastische Bilder zu. Rudolf setzt sich eine Morphiumspritze, bevor er ein letztes Mal mit Mary kopuliert. Das ist dann ein Pas de deux wie ein Akt diabolischer Verzweiflung, getragen von der künstlich erzeugten Hochstimmung.

Lebensgenuss und Todessehnsucht verschmelzen, die beiden Liebhaber umschlingen sich wie frisch Verliebte – und doch sehen sie keine Möglichkeit der weiteren Existenz. Er hebt sie ein letztes Mal in glücksverheißende Höhen, er verspricht ihr für das Jenseits sozusagen goldene Berge. Sie wiederum glaubt ihm nur zu willig, hat sie doch für sich längst eine Art Endgültigkeit beschworen, der sie ihr Leben opfern will.

Liebe mit einem Knall

Erotik mit Pistolenpädagogik: Kronprinz Rudolf und Mary Vetsera im Ballett „Mayerling“ von Kenneth MacMillan an der Wiener Staatsoper. Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Liebe als Endspiel… und das am Vorabend des Auseinanderbrechens der kaiserlichen Monarchie. Natürlich brennt dieser dramatische Stoff wie Zunder auf der Ballettbühne!

Oliver Peter Graber, Dramaturg beim Wiener Staatsballett – das erst seit einigen Jahren diesen schön griffigen Namen trägt – erklärt, wieso die Faszination von „Mayerling“ so nachhaltig wirksam ist: „Das liegt an der starken Psychologisierung, die Kenneth MacMillan vorgenommen hat.“ Graber anerkennt den Einfluss von Sigmund Freud auf die szenisch-choreografische Umsetzung, und in der angloamerikanischen Tanztradition sieht er diese besonders vervollkommnet. MacMillan selbst grenzte sich zum Beispiel aufwändig zu dem von ihm bewunderten Choreografen Antony Tudor ab, der nach Meinung MacMillans an einem Verdecken der Emotionen seiner stark stilisierten Figuren interessiert war, während MacMillan die Gefühle seines Personals so deutlich wie möglich herausgekehrt sehen wollte.

Umso krasser wirkt die Jagdszene in „Mayerling“, in der Rudolf in einem psychotischen Anfall ohne Grund um sich schießt – und dabei einen der teilnehmenden Hofjäger tötet. Mitleidlos nimmt der Kronprinz das Ableben seines Untertans zur Kenntnis. Verglichen mit den Gefühlsausbrüchen, die er in seinen Soli und Pas de deux zeigt, ist seine Reserviertheit bei dem Jagdunfall – der zudem als ein missglücktes Attentat auf seinen eigenen Vater, den Kaiser, gedeutet wird – bereits ein Anzeichen von Abgestumpftheit und sogar Größenwahn.

LANGSAMES IRREWERDEN

Doch seine Umwelt deutet falsch. Man erkennt weniger die Erkrankung Rudolfs als vielmehr seine politische Gefährlichkeit. Durch seinen Kontakt zu den dubiosen ungarischen Offizieren steht Rudolf im Ruch, ein verkappter Rebell zu sein. Nun ist anzunehmen, dass er viel zu dekadent, zu morbide und auch zu genusssüchtig ist, um als Revoluzzer jemals Erfolg haben zu können. Zumal sein Amt als Kronprinz ihn kaum dazu prädestiniert, einen Umsturz anzuzetteln. Da allerdings – und insofern ist Grabers Anmerkung gar nicht deutlich genug zu unterstreichen – das psychologische Verhältnis von Rudolf zu seinem Vater denkbar schlecht ist, kann hier auch nichts sicher ausgeschlossen werden. Auch kein etwaiger Vatermord, der politische Folgen hätte.

Seine Tatkraft stellt Rudolf jedoch vor allem bei der Organisation seines Liebeslebens – und dann erst wieder seines Ablebens unter Beweis. Besuchte er vor der Bekanntschaft mit Mary Vetsera Bordelle und Spelunken, konzentriert er sich während der Beziehung mit ihr auf den gemeinsamen Tod als Ziel der Partnerschaft. Der Aufenthalt in Mayerling ist kein Zufall, sondern ein geplanter Abgang. Rudolf erschießt dort nach dem letzten Pas de deux (zweifelsohne einem Beischlaf) hinter einem blickdichten Paravent zunächst Mary. Dann muss er sich mit drei vom Schuss aufgescheuchten Störenfrieden, seinen Bewachern, auseinander setzen. Er täuscht Normalität vor, wiegelt ab, schafft es, allein gelassen zu werden. Dann erschießt er sich: hinter dem genannten Paravent, der von seinem im Sterben torkelnden Körper jedoch dramatisch umgeworfen wird. Hinter Rudolfs Leiche liegt, aufgebahrt auf dem Bett wie ein Schneewittchen, die tote Mary. Wir sehen sie aber nur im Profil – der Effekt der „schönen Leiche“ tritt nicht ein, und das ist Absicht.

EIN ANTI-SUIZID-BALLETT

Trotz der scheinbaren Romantik der Kulisse und trotz der mutmaßlichen Erlösungsfantasien der beiden Liebenden schreckt die Szene ab. Sie ist – und das ist MacMillan hoch anzurechnen – keinesfalls eine Bewerbung des Suizid aus Lebensüberdruss, Feigheit oder Suchterkrankung. Schon gar nicht aus Motiven der Liebe! Vielmehr ist MacMillans Inszenierung eine zugkräftige Warnung, es handelt sich um ein Anti-Suizid-Ballett. Ein Anti-„Werther“-Stück, sozusagen, das Goethe – nolens volens freilich – auf gewisse Weise beschämt.

Goethe hatte nämlich mit der Veröffentlichung seines Briefromans „Werther“, der in den Freitod des unglücklich verliebten Titelhelden mündet, eine Welle von explizit auf den „Werther“ Bezug nehmenden Suiziden ausgelöst. Nicht nur „Werther“-Gehröcke (in den vom Dichter beschriebenen Farben Gelb und Blau) kamen in Mode, sondern wirklich auch der romantische Selbstmord nach dem Vorbild dieses Romanhelden. So köstlich und schmerzerfüllt sich der „Werther“ aber auch heute noch liest – der Selbstmord des Publikums sollte nicht Ziel und Zweck von Kultur sein. Insofern ist MacMillan mit „Mayerling“ nicht nur verträglicher als Goethe mit seinem „Werther“, sondern auch näher dran an der Abgrenzung moderner Werte wie individueller Autonomie. Wer hätte das gedacht?!

Liebe verkehrt

Der Kronprinz und Mary – Lieben, um zu sterben. Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Musikalisch ist das Ballett „Mayerling“ seinem emotionsreichen Sujet angepasst, es wogen und schwelgen die Klänge. Beim Livestream wird Guillermo García Calvo mit bewährter Hand dirigieren; die von MacMillan benutzten Partituren von Franz Liszt wurden ballettgerecht arrangiert von John Lanchbery. Sie bieten Dramatik und Gefühle satt, für ein Lied steht sogar eine Sängerin mit auf der Bühne – niemand kann da noch behaupten, Ballett sei zu steif oder zu trocken.

Der Livestream ist übrigens auch eine gute Gelegenheit für Balletteinsteiger, sich unverbindlich hinzugeben und vielleicht begeistern zu lassen. Die um die Faszination des Balletts Wissenden könnten im persönlichen Umkreis mal diesbezüglich missionieren. En garde!
Gisela Sonnenburg

Beide Texte – der obere und der untere – stammen vom Dezember 2014.

www.wiener-staatsoper.at

Zum Gastspiel des Moskauer Stanislawski-Balletts in München mit dem Stück 2017:

www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-mayerling-moskau/

Und noch etwas:

„Da sind Gefühle, die einen ganz schön fordern“

Interview mit Gregor Hatala im Dezember 2014 über seinen Bühnenabschied

Gregor Hatala als Romeo

Ein Romeo wie aus dem Bilderbuch der Ballettgeschichte: Gregor Hatala in Crankos „Romeo und Julia“ beim Wiener Staatsballett. Foto: Wiener Staatsoper / Axel Zeininger

Ballett-Journal: Sie haben als Kronprinz Rudolf ein technisch sehr schwieriges Solo im ersten Akt.

Gregor Hatala: Das ist aber nicht das Schwierigste an der Rolle. Dieses erste Solo ist zwar technisch anspruchsvoll, aber emotional ist es, im Vergleich zu dem, was folgt, noch sehr einfach. Rudolf ist da in einer ganz bestimmten Stimmung, an der sich während des Solos auch nichts ändert. Das ist später im Ballett anders: Da geht es um die Entwicklung des Kronprinzen, wie sie sich in den Schritten manifestiert, und da brechen immer wieder Gefühle auf, die einen schon ganz schön fordern.

Ballett-Journal: Was ist denn für Sie das Typische an Rudolf?

Gregor Hatala: Er ist erst schüchtern, dann erotisch involviert. Man muss mit jedem auf der Bühne anders agieren, mit der Mutter, mit dem Vater, mir all den Damen, mit denen er zu tun hat. Es sind ja viele anstrengende Pas de deux zu tanzen. Und man muss den Wahnsinn dieses Charakters herausarbeiten, ohne ihn zu überzeichnen. Dazu muss man natürlich durchhalten, es ist ja ein langes Ballett. Es ist schon die schwerste Rolle, die ich je hatte.

Ballett-Journal: Wie bereiten Sie sich auf so einen Kraftakt vor? Meditieren Sie? Oder haben Sie ein Maskottchen?

Gregor Hatala: Ich nehme regelmäßig heiße Bäder mit muskelentspannenden Ölen. Ansonsten haben wir die Proben!

Ballett-Journal: Sie haben auch viele klassische Rollen getanzt, wie den Solor in „Die Bajadere“ von Vladimir Malakhov und den Siegfried in Rudolf Nurejews Version vom „Schwanensee“. Kann man etwas aus solchen Rollen in die Arbeit am „Mayerling“ mit reinnehmen?

Gregor Hatala: Nein, dazu sind die Emotionen zu verschieden. Aber es gibt modernere Rollen, die man mit Rudolf vergleichen kann. Den Romeo aus John Crankos „Romeo und Julia“ etwa. Oder den Des Grieux in MacMillans „Manon“, den ich auch getanzt habe.

Ballett-Journal: Sie tanzen den Rudolf jetzt zum letzten Mal, es wird Ihr Bühnenabschied am Sonntag. Was werden Sie danach machen?

Gregor Hatala: Ich bin Obmann der „Vereinigung Wiener Staatsopernballett“, das ist ein eingetragener Verein, und die Mitglieder sind dort privat organisiert. Ich organisiere für sie Auftritte außerhalb der Staatsoper, also Gastspiele, Balleröffnungen, Mitternachtseinlagen – mal in Wien, mal in Italien, in Baden-Baden waren wir auch schon. Außerdem bin ich Präsident vom Österreichischen Tanzrat, und da gibt es zum Beispiel einmal jährlich ein Festival von Tanz- und Ballettschulen zu managen. Zusätzlich arbeite ich auch als Gast-Ballettmeister, etwa beim Slowakischen Nationaltheater. Als Coach gebe ich dann das im Laufe meiner Karriere Erlernte weiter. Jetzt freue ich mich aber erstmal auf Sonntag!

Ballett-Journal: Damit sind Sie nicht allein. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Interview: Gisela Sonnenburg

SEHEN SIE BITTE AUCH INS IMPRESSUM: www.ballett-journal.de/impresssum/

 

 

 

 

 

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