Liebe und Verzicht Neubesetzung des „Onegin“ beim Staatsballett Berlin: mit Marian Walter in der Titelrolle, Iana Salenko als Tatjana, Ksenia Ovsyanick als Olga und Nikolay Korypaev als Gremin

Onegin ist einfach toll

Großer Applaus für „Onegin“ am 18.2.2017 im Schiller Theater in Berlin fürs Berliner Staatsballett! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Das heitere Glück eines verliebten Paares, wo kann man es deutlicher erkennen als bei Olga und Lenski in „Onegin“ von John Cranko? Als Gegenentwurf zur düster-dramatischen Titelfigur und der depressiven Tatjana ersonnen, strotzt das verlobte Pärchen Olga und Lenski nur so vor Lebensfreude miteinander, vor Sehnsucht nacheinander, vor Hingabe aneinander. Vor allem, wenn sie tanzen. Ksenia Ovsyanick ist hier die große Überraschung beim Staatsballett Berlin: Sie tanzt und spielt eine Olga wie aus dem Bilderbuch. Nicht zu sanft, nicht zu zögerlich, nicht zu oberflächlich. Ihre Olga ist ein herzhaft liebendes, aber keineswegs eindimensionales Mädchen, das sich vorzüglich an Lenski – getanzt von dem bereits meisterhaft bewährten Lenski-Könner Dinu Tamazlacaru – anschmiegt. Die Neubesetzung mit Ovsyanick ist ein großer Zugewinn in Berlin: Ihre Interpretation enthält pralle Lebendigkeit ebenso wie geschmeidige Posen voller Poesie. Marian Walter in der Titelrolle hingegen muss ebenso wie seine Partnerin Iana Salenko als Tatjana noch Einiges lernen, bevor mehr als die immerhin von beiden bravourös getanzte Schlussszene einen elektrisiert. Nikolay Korypaev als Fürst Gremin, der Tatjana als liebender Gatte trösten darf, zeigt im Pas de deux den richtigen, zurückhaltend-ernsthaften Ansatz – er sollte seinen Part lediglich noch vertiefen.

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Sie war die große Überraschung: Ksenia Ovsyanick als Olga in „Onegin“, hier beim Schlussapplaus mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Am Ende aber packt es einen im Schiller Theater in Berlin, so oder so, und da ist egal, wie oft man dieses bedeutende Stück Ballettkunst schon gesehen hat: Man bekommt eine Gänsehaut, erhofft, liebt und fürchtet das Schicksal mit diesem seltsamen Paar Tatjana und Onegin.

Iana Salenko und Marian Walter haben den letzten entscheidenden Pas de deux in „Onegin“ bis ins kleinste Detail ausgeleuchtet und durchgestylt. Da sitzt jeder Fingerzeig, jeder Wimpernschlag, und von den großen Sprüngen und Hebungen kann man in dieser Vervollkommnung gar nicht genug bekommen.

Auch die beiden schwierigen „Hexensprünge“ – der vertikal gesprungene Spagat der Dame – sitzen hier perfekt.

Man hatte darauf gehofft, denn Iana Salenko, dieses superzarte Persönchen, gilt weltweit als eine der großen Technikerinnen des Balletts. Zugleich ist sie ein unverwechselbarer Typ: ein Püppchen, ein Ausbund an Lieblichkeit, ein scheinbar naives, im Höchstmaß unschuldiges Kind, die geborene Aurora in „Dornröschen“.

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Iana Salenko und Marian Walter nach ihrem „Onegin“-Debüt im Schiller Theater in Berlin. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Nicht umsonst ist Salenko zugleich beim Staatsballett Berlin und beim Royal Ballet in London Erste Solistin, und auf unzähligen Galas ertanzt sie sich zusätzlich Lorbeeren und Gagen satt.

Vielleicht, so finden manche, sollte sie einige Verpflichtungen weniger annehmen, um sich auf die auszuübenden Aufgaben besser zu konzentrieren. Denn mitunter gerät ihr dann und wann doch etwas flach und oberflächlich oder lediglich niedlich (um nicht zu sagen: süßlich) statt berührend.

Ihre „Schwanensee“-Odette / Odile etwa war mal eine Sensation, eine außergewöhnliche Interpretation, brillant und mitreißend. Aber als ich Salenko zuletzt darin sah, schien ihr Eifer einer gewissen Routine und auch einem überbordenden Stolz auf technisches Können gewichen.

Im übrigen leiden viele Startänzer(innen), die häufig gastieren und sozusagen ständig auf vielen Hochzeiten tanzen, an diesem „Zirkuspferd“-Syndrom. Natalia Osipova, die früher mal eine hervorragende und zudem in allen Facetten schillernde Primaballerina war, ist da das beste abschreckende Beispiel.

Wenig Proben, viele Vorstellungen – dieses Verhältnis brachte noch nie große Kunst im Ballett hervor.

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Noch ein Blick auf den glücklichen Schlussapplaus im Schiller Theater in Berlin nach John Crankos Ballett „Onegin“ am 18.2.2017. Foto: Gisela Sonnenburg

Als Tatjana muss Iana Salenko allerdings noch viel proben, wenn sie auch im ersten und zweiten Akt wirklich überzeugen will. Über eitle Selbstbespiegelung kommt sie da nicht hinaus.

Bei ihrem Rollendebüt hatte Salenko zudem an entscheidenden Stellen ein falsches Timing. Da drehte sie sich zu früh um, als ihre Schwester sie neckte, um Tatjana, den Bücherwurm, aus ihrer Lesewelt in die Gegenwart des sommerlichen Gartens zu holen.

Und als Tatjana dann vorm Tischspiegel sitzt und Onegin darin auf sich zukommen sieht – es ist die erste Begegnung der beiden – da läuft Salenko einfach zwei Takte zu früh davon. Die entscheidenden erotischen Funken zwischen den beiden schlagen so nicht, auch später nicht, wenn sie miteinander flanieren und tanzen, weshalb man die ganze Beziehung der beiden beim Rollendebüt mit Ausnahme der Schlussszene kaum verstand.

Marian Walter als Onegin war Salenko aber auch keine große Hilfe.

Er spielte beim Debüt zunächst nur den recht primitiven Hagestolz, den Arroganzler, er übertrieb darin sogar, gab mehr oder weniger eine Karikatur ab.

Dabei muss ein Onegin auf der Ballettbühne natürlich auch begehrenswert erscheinen – und nicht dummstolz.

Ach, Onegin! Wie musst du beschaffen sein, um uns zu rühren? Du bist ein Dandy, ein melancholischer Lebemann, der das orgiastische, dekadente Großstadtleben hinter sich und satt hat und neue Inspiration in der Einfachheit der Provinz sucht.

Alexander Puschkin erfand um 1830 diesen Typus für sein Versepos „Eugen Onegin“, das wegen der Leidenschaft und Lebensweisheit darin zum russischen Nationalroman avancierte. Peter I. Tschaikowsky schrieb 1878 eine gleichnamige Oper – auch sie hat weltweit großen Ruhm.

John Cranko kreierte dann in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als Ballettchef in Stuttgart sein bedeutendstes Stück nach diversen Musiken von Tschaikowsky, welche kongenial von Kurt-Heinz Stolze bearbeitet und neu orchestriert wurde. Es ist Ballettmusik vom Feinsten geworden, und ähnlich, wie Filmmusik ein Kinostück unterstützt, arbeiten die Klänge hier dem Tanz en detail zu.

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Wolfgang Heinz (zweiter von links hier) kam aus Stuttgart angereist, um die Staatskapelle Berlin zu „Onegin“-Meisterschaft zu führen. Viel Applaus auch für die Musiker! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Der aus Stuttgart nach Berlin eingeflogene Dirigent Wolfgang Heinz (am Stuttgarter Opernhaus ist er stellvertretender Musikdirektor) dirigierte die vorzügliche Staatskapelle Berlin denn auch mit Verve: traditionell zwar, aber mit so vielen auf den Punkt gebrachten Spannungsbögen, dass man jede Note, die verflogen war, bedauerte, weil man sie nicht noch einmal hören konnte.

Aber Onegin – er fehlte in der Debütvorstellung von Marian Walter über zwei Stunden lang auf der Bühne. Nur fürs Finale gab es ihn, endlich…

Doch bis dahin hatte man Zeit, über die Rolle nachzudenken und sich zu erinnern. Denn:

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Mikhail Kaniskin tanzt den „Onegin“ beim Staatsballett Berlin seit Jahren – mit sehr viel Überzeugungskraft und sehr differenzierter Spielweise. Foto: Enrico Nawrath

Mit Mikhail Kaniskin gibt es beim Staatsballett Berlin eine vorbildliche Onegin-Besetzung, und mit Wieslaw Dudek gab es sogar mal den womöglich besten Onegin aller Zeiten in der Hauptstadt. Dudek tanzt nun aus Altersgründen nicht mehr – aber der souveräne Kaniskin liefert eine Steilvorlage, an der Marian Walter mit seiner Leistung, die er beim Rollendebüt zeigte, unweigerlich scheitern musste.

Ja, man bekam Sehnsucht nach Kaniskin, der den Lebensüberdruss, an dem der verwöhnte Dandy Onegin leidet, mit sinnenhaft kribbelnder, Funken sprühender Passion zu zeigen weiß. Mehr noch: Kaniskin – und das muss ein Darsteller des Onegin eben auch können – entwickelt die psychologische Seite der Figur von innen aus sich heraus, sodass man, wenn er seinen ersten Auftritt hat, etwas erahnt, was sich später im Stück erfüllt.

Oh, Onegin! Dein erster Auftritt muss fulminant sein! Du kommst, um deine Großstadtsorgen zu vergessen, in ein ländliches Idyll, das einerseits aus dem sommerlichen Garten der Familie Larina besteht und andererseits aus dieser Familie selbst.

Obwohl oder gerade weil Madame Larina (Barbara Schroeder in hübsch freundlicher Manier) verwitwet ist und es kein weiteres patriarchales Oberhaupt hier gibt, herrschen Sanftmut, Glückseligkeit und häuslicher Frieden.

Der Sternenglanz dieser Familie ist die quicklebendige Olga, die jüngere von zwei Schwestern, während Tatjana, die ältere, leicht depressiv am liebsten über Büchern brütet.

Weiteren weiblichen Auftrieb erhält der Haushalt der Larinas mit der Amme (nett und neckisch: Charlotte Butler als Gast aus dem Ruhestand).

Man kann darum schon fast vom literarischen Modell eines Matriarchats sprechen!

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„Onegin“: Ein künstlerischer Triumph für das Ensemble vom Staatsballett Berlin im Schiller Theater. Foto: Enrico Nawrath

Auch Patricia Zhou und die anderen Ensemble-Tänzerinnen – Zhou tanzt und spielt sehr fein die engste Freundin von Tatjana – haben in „Onegin“ viel zu tun, sodass man keinesfalls von einem patriarchalen Gefilde sprechen kann.

Freilich sind – zumal wenn sie gut aussehen – interessante Herren hier als Besuch hoch willkommen.

Und so bringt Lenski, der mit Olga verlobt ist, seinen Freund, den Großstädter Onegin, mit…

Der Sexappeal, den ein Onegin unbedingt haben muss, fehlte Marian Walter beim Debüt allerdings ebenso wie die Grandezza, hochmütig und dennoch nachvollziehbar traurig zu sein. Er spielte holzschnittartig, auf simple Mimiken reduziert, ohne Augenspiel, ja, er schien sich voll und ganz auf die Technik konzentrieren zu müssen – und wirkte trotz der aufgesetzten Arroganz mitunter auch noch unsicher.

Man darf allerdings auf deutliche Nachbesserung hoffen! Denn Marian Walter kann was, keine Frage. Zumal ihm nun auch viel an dieser Rolle des Onegin liegt; er hat ja vor zwei Jahren den lyrischen Verliebten im Stück, den Lenski, getanzt, und zwar mit so großer Dynamik und Dramatik, dass er sich damit für den Part des Egozentrikers Onegin nachgerade selbst empfahl.

Der erste Akt gehört indes dem Liebespaar Olga und Lenski.

In Soli und Pas de deux huldigen sie dem Wert des Lebens, unbeschwert und voller Hoffnung.

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Dinu Tamazlacaru: Wunderbar als Lenski in „Onegin“, ein lyrischer Verliebter, der sich aus Eifersucht erschießen lässt… Hier zu Recht lachend beim Schlussaplaus im Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Dinu Tamazlacaru tanzt die Partie des Lenski mit vollendeter Anmut, auch mit jenem Quäntchen Todessehnsucht aus bodenlosem Glück heraus, das für diesen Liebhaberpart prägend ist.

Ksenia Ovsyanick als Olga ergänzt sein Gefühlsprofil mit verlockender Spritzigkeit, mit vorbehaltloser Offenheit. Bei Puschkin ist Olga fast ein Flittchen, in Crankos Ballett hingegen genau so, wie Ovsyanick sie tanzt: ein Sinnbild ausgelassener Weiblichkeit.

Tatjana soll eigentlich ein Gegenbild dazu darstellen. Gedanken- und traumverloren soll sie sein, tiefsinnig, dem geschriebenen Wort verfallen und der sie umgebenden Realität nicht immer zugeneigt.

Diese Versponnenheit, mit einer hohen Intelligenz verquickt, vermag Iana Salenko nur in den ersten Minuten ihres Auftritts zu verkörpern. Sie liegt auf dem Bauch im Garten und liest – und taucht nur langsam auf aus ihrer Welt.

Doch dann verfällt Salenko allzu rasch in den Gestus der mit Niedlichkeit lockenden Kindhaftigkeit – und das geht hier gar nicht.

Immerhin ist „Onegin“ ja ein Beziehungsdrama – da kommt es auf die brisanten Mischungen der Gefühle an. Tatjana verliebt sich auf den ersten Blick in den dämonisch-erotischen Onegin. Zugleich ängstigt sie sein Draufgängertum – darum läuft sie zunächst instinktiv vor ihm davon, in die Arme der Mutter. Dabei ist sie aber bereits hoch erregt!

Zu großen Gefühlen lässt Salenko sich allerdings erst hinreißen, als sie Onegin im Paartanz bewundern darf. Aber auch hier stimmt die Chemie zwischen beiden nicht. Walter hebt sie empor, als wolle er beweisen, dass er das kann. Und sie genießt es, die Prinzessin zu sein, mehr nicht.

Aber Cranko schuf diesen getanzten Spaziergang, um den beiden Gelegenheit zur intensiven Kommunikation zu geben.

Da beginnt Onegin den Dialog, indem er ihr zunächst klar macht, dass ihr geliebtes Buch, das sie liest (eines von Puschkin?), einfach nur kitschig sei. Sie legt das Buch daraufhin sofort weg.

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Hier tanzt Wieslaw Dudek den „Onegin“ beim Staatsballett Berlin. Die Geste des auf die Stirn aufgelegten rechten Handrückens ist typisch für die Choreografie zur Figurenzeichnung des Onegin – sowohl im ersten Akt als auch, wie hier auf dem Foto, im dritten. Foto: Enrico Nawrath

Jetzt ist Onegin am Zug. Er schüttet ihr, der verständigen Landpomeranze, sein Herz aus, erklärt ihr mit seinem Solo, wie wenig ihm die Vergnügungen in den großen Städten noch etwas bedeuten, wie sehr er an der Gewöhnlichkeit der Welt leidet. Er sehnt sich nach Substanz, nach Inhalt, nach Lebenssinn, vielleicht sogar nach Schmerz… Zumindest ist sein Weltschmerz kolossal und hinderlich, um das Leben an sich noch zu genießen.

Darum flüchtet Onegin in die Attitüde der Arroganz.

Tatjana versteht ihn sofort. Sie liebt ihn ja schon und ist darum gewillt, alles zu verstehen, was ihn betrifft. Ach, und sie findet ihn ja so männlich, so begehrenswert!

Er spürt ihre Blicke und er weiß genau, was er in dem jungen, unerfahrenen Ding auslöst. Und mit jeder Hebung, mit jeder Führung verspricht er ihr mehr vom Leben und der Liebe zwischen Mann und Frau…

Ja, so müsste es sein. Wenn Mikhail Kaniskin den Onegin tanzt, dann ist es auch so.

Mit Nadja Saidakova als Tatjana bildete Kaniskin jahrelang ein Traum-Paar im „Onegin“ – und die große Saidakova wird vermutlich im Mai an seiner Seite ihren Bühnenabschied als Tatjana nehmen, man kann nur dazu raten, sich für diese Besetzung rechtzeitig Karten zu sichern.

Mit Elisa Carrillo Cabrera als Tatjana wird es fast ein Geschlechterkampf, wenn Kaniskin als Onegin im ersten Akt auftritt. Unbedingt sehenswert!

Aber auch mit der jungen Nachwuchsstarballerina Hyo-Jung Kang als Gast aus Stuttgart zeigte Kaniskin schon einen „Onegin“ vom Feinsten.

Kang tanzt die Tatjana weniger opulent als Saidakova, weniger betont feminin als Carrillo Cabrera und weniger detailfreudig als Polina Semionova, die ebenfalls zu den ganz großen Berliner Tatjanen gehört. Aber Kang hat mit der Reduktion auf die wichtigsten Gefühle dieser Partie im Verein mit hoher Präzision eine großartige, sehr anrührende Interpretation parat. Ihre Pureness, Schlichtheit, Entschiedenheit – das zählt bei Tatjana!

Hier hätte Iana Salenko lernen können…

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Polina Semionova und Wieslaw Dudek – unvergessen in „Onegin“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Enrico Nawrath

Zumal der „Spiegel-Pas-de-deux“, in dem Tatjana nachts von dem aus dem Spigel tretenden Onegin träumt, der sie tanzenderweise erotisiert und ihr mit glockenartig gedrehten sowie mit einer grandiosen Steh-Hebung viel neues Selbstbewusstsein einflösst, von Salenko und Walter zu gefühllos absolviert wurde, um mitzureißen.

Das gilt auch für den zweiten Akt, in dem Onegin Tatjana herzlos ihren Liebesbrief zurückgibt, ihn dabei auch noch zerreißt und zugleich die verliebte junge Frau in den tiefsten emotionalen Abgrund stürzt.

Schon ihr verliebtes Solo, das sie nur für ihn tanzte, kanzelte er (mit einem wütenden Aufspringen vom Patience-Legen) als nervig ab.

Die Spannungen, die zwischen Tatjana und Onegin entstehen, müssen hier spürbar sein. Und es sind nicht nur negative Gefühle – unter der Oberfläche brodelt es gewaltig zwischen den beiden!

Aber irgendwie bekam Marian Walter diese Sache so gar nicht in den Griff. Er blieb als Onegin in den ersten beiden Akten ein Gockel. Dabei ist Onegin ein raffinierter Playboy – einer, der sogar aus so einer verliebten Jungfrau, wie Tatjana es ist, noch ein perfides Vergnügen für sich zu machen vermag.

Denn um Tatjana noch mehr zu erniedrigen, flirtet Onegin alsbald mit ihrer Schwester Olga.

Die Demütigung der todtraurigen Tatjana gilt Onegin hier als Ersatz für Sex, denn es ist ja nicht so, dass ihm Tatjana nicht gefallen würde Aber er will Junggeselle bleiben und lehnt darum ehrbare Mädchen, die ihn heiraten wollen -– wie Tatjana – generell ab. Bei Puschkin argumentiert Onegin wörtlich genau so, und im Ballett von Cranko erhält seine Ablehnung Tatjanas zusätzlich noch eine sadistische Note.

Das Fest, das dann gefeiert wird, ist übrigen Tatjanas Namenstag. Der ihr und auch ihrer Familie aber in diesem Jahr vor allem Unglück bringt.

Denn außer den hinreißenden Ensembleszenen, in denen das Staatsballett Berlin beweist, was es kann, gibt es den großen Streit zwischen Lenski und Onegin um Olga.

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Sie sind die besten: Die Damen an den Händen ihrer Herren vom Staatsballett Berlin beim seriellen Spagatsprung auf der Diagonalen in „Onegin“ – ein wahrhaft demokratischer Augenschmaus! Foto: Enrico Nawrath

Kurz ein Einschub: Noch immer kann man beim Staatsballett Berlin die wohl schönsten Spagatsprünge der Damen an den Händen ihrer Herren sehen. Diese Szene im „Onegin“ ist weltführend in der Demokratisierung des klassischen Balletts: Zuvor durften nur Solistinnen solche Sprünge vollführen. Cranko aber lässt das Ensemble über zwei Diagonalen lang die Grand Jetés in Paarformationen aufführen – adlige Hoheitsschritte für die Bevölkerung.

Selbst am Bolschoi tanzt das Ensemble diese beiden Diagonalen nicht so akkurat, synchron, mit perfekten Abständen und zugleich so lebhaft und individuell glücklich im Ausdruck! Das Staatsballett Berlin, das sich auch sonst ganz fantastisch durch die Ball- und Festszenen im „Onegin“ walzert, darf sich zusammen mit seinen Ballettmeistern bitte was drauf einbilden! Bravo!

Doch unerbittlich drängt die Handlung im „Onegin“.

Da Onegin als Salonlöwe problemlos der herzensoffenen Olga den Kopf verdrehen kann, dreht Lenski aus Eifersucht glatt durch. Lenski ist eben nicht nur lyrisch und verliebt, sondern auch heißblütig!

Er rastet aus, ohrfeigt seinen Freund Onegin zwei Mal, wirft ihm den Handschuh hin und fordert ihn so zum Duell. Das Klagen der beiden betroffenen Schwestern hilft nichts – Lenski fällt durch einen Schuss.

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Dinu Tamazlacaru vom Staatsballett Berlin tanzt den verliebten, aber verlorenen Lenski in „Onegin“ mit Inbrunst und Hingabe – hier bei seinem großen Mondschein-Solo, dem Abschied vom Leben… Foto: Enrico Nawrath

Doch zuvor tanzt er noch ein letztes großes Solo, bei Mondlicht, es ist ein Abschied vom Leben – und Dinu Tamazlacaru schafft es immer wieder, einen damit aufzurütteln, mitzureißen, zu beglücken und zum Weinen zu bringen.

Onegin hat vor und nach dem Duell hier seinen prägnanten Auftritt. Er ist der stärkere und erfahrenere von beiden Männern – man ahnt vorab, dass er das Duell gewinnen wird. Danach ist es dann die Bestätigung dessen.

Für Onegin ist diese Szene aber auch die Gelegenheit zu zeigen, dass auch er unter dem Machismo seiner Zeit leidet. Würde er seinen Freund nicht erschießen, würde der ihn erledigen.

Die starken Pirouetten mit vorherigem Schenkelklopfen, die Onegin hier tanzt, drücken seine geistige Klarheit und tatkräftige Härte aus. Aber auch die Notwehr, in der er sich befindet.

Onegin muss so handeln, wenn er nicht selbst sterben will. Denn es wäre an Lenski, einen Rückzieher zu machen – aber dazu ist dieser zu stur.

Onegin hat Mitleid, aber vor allem auch Kraft. Er will nicht sterben – also handelt er als Feind seines Freundes. Wie so oft in „Onegin“, ist auch diese Gefühlsmischung hoch explosiv.

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Herzlos zerreißt Onegin den Liebesbrief von Tatjana – in ihre Hände hinein, an ihrem Namenstag… dumm gelaufen für sie. Oder sollte sie froh sein, statt dem wilden Onegin den soliden Fürsten Gremin zu ehelichen? Foto vom Staatsballett Berlin: Enrico Nawrath

Marian Walter zeigt jedoch nichts davon. Er scheint Gymnastik zu machen statt sein Innerstes zu zeigen, jedenfalls bei seiner Debütvorstellung.

Aber viele Berliner Ballettfans haben hier Mikhail Kaniskin, Jason Reilly (der die Rolle als Gast aus Stuttgart in Berlin tanzte) und Wieslaw Dudek noch deutlich vor Augen.

Onegin zu verstehen, ist nämlich durchaus interessant. Denn:

Onegin ist kein Unmensch. Er sucht nur nach einer (auch sexuellen) Freiheit, die es im Russland des 19. Jahrhunderts nicht für ihn geben konnte.

Dieses Stürmen und Drängen muss ein Onegin in der Brust und in den Augen haben, wenn er auftritt. In jeder Szene! Da spielt die Technik eine untergeordnete Rolle, und auch die Fönwelle im Haar muss nicht perfekt sitzen.

Wichtig ist stets das Gefühl, die Gefühlsmischung, die ein Onegin zeigen sollte.

Das hat Marian Walter anscheinend ganz vergessen…

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Ganz links: Charlotte Butler, die als Gast aus dem Ruhestand die Amme tanzte, neben ihr: Nikolay Korypaev, der als Fürst Gremin debütierte. Schlussapplaus am 18.2.2017 nach der „Onegin“-Vorstellung im Berliner Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Interessanterweise bildet Tatjana emotional das passende Gegenstück. Auch sie ist latent unzufrieden mit den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen, auch sie ist – obwohl die ältere Schwester – noch nicht verheiratet, auch sie sucht Mittel und Wege, um der Gesellschaft zu entrinnen. Sie liest, sie flüchtet in die Welt der Literatur… und würde sich darin nur zu gern von Onegin belehren und weiter bilden lassen.

Der Hamburger Ballettintendant John Neumeier hat diesen Gedanken aufgegriffen und zur Grundlage seines Balletts „Tatjana“ gemacht. Es läuft im Juli 2017 wieder in Hamburg und außerdem gibt es bereits eine DVD davon im Handel – ich kann nur dazu raten!

Es ist ja kein Zufall, dass Tatjana sich in Onegin verliebt und er nach vielen Jahren bemerkt, dass sie diejenige ist, die perfekt zu ihm gepasst hätte.

Schwanensee à la moderne erschließt sich umso besser.

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Doch zunächst traut Onegin dem jungen Fräulein vom Land nicht zu, dass es Verständnis für seine Eskapaden und ausgefallenen Wünsche haben könnte. Für sein unbestimmmtes Sehnen nach einer Freiheit, die er nicht offen auszusprechen wagt, findet er ohnehin keine Worte…

Dass Onegin seinen Freund tot schießt, diesen Inbegriff des glücklichen Verlobten, ändert das Leben aller Hauptpersonen.

Denn nach dem Duell ist die Familie der Larinas mit Onegin verfeindet. Es gibt zunächst kein Wiedersehen zwischen Onegin und Tatjana.

Olga verliert mit Lenski ihren Verlobten. Bei Puschkin sucht sie sich gleich einen neuen – bei Cranko im Ballett sehen wir sie nicht mehr im dritten Akt.

Denn die Handlung wechselt den Spielort. Sie findet fortan in Tatjanas neuem Leben, in ihrer neuen Sphäre statt. Sie hat den Fürsten Gremin erhört und ihn geheiratet – und sich zu einer selbstbewussten, reifen, sexuell erfahrenen Frau gemausert.

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Der „Rote Pas de deux“ mit Tatjana und ihrem Ehemann Gremin macht Onegin sehr eifersüchtig… so zu sehen beim Staatsballett Berlin. Foto: Enrico Nawrath

Der „Rote Pas de deux“, den Gremin mit Tatjana tanzt und der nach ihrem roten Kleid benannt ist, zeigt das Idealbild einer harmonischen, auf Verlässlichkeit und gegenseitigem Respekt beruhenden Ehe.

Hier taute Iana Salenko bei ihrem Rollendebüt erstmals auf. Noch ist die ganze Rollengestaltung zwar etwas zurückgenommen und distanziert, aber wenigstens entfällt die hysterisch-kokette Unschuldsheuchelei, die zu einer Tatjana absolut nicht passt.

In Sachen Harmonie punkten Salenko und Nikolay Korypaev als ihr Gremin!

Er führt sie stark, aber unauffällig, ganz so, als seien die beiden füreinander gemacht.

Salenko hingegen gelingt es hier zu zeigen, dass Tatjana zwar eine glückliche Gattin geworden ist, dass aber dennoch eine Glut in ihr schwelt, die unbefriedigt ist.

Ihre Tatjana bezähmt sich, reißt sich zusammen, sie fügt sich dem Ebenmaß dieses Paartanzes – und hält ihr Herz dennoch reserviert für jemand anderen, so meint man.

Das ist eine ungewöhnliche Interpretation, denn normalerweise sollte Tatjana hier vollauf zufrieden erscheinen. Aber Salenkos neuer Ansatz würde tragen – wenn sie zudem den Mut hätte, den Blickkontakt mit Onegin aufzunehmen. Das wäre zwar eine Neuheit, aber mehr als fünfzig Jahre nach der Uraufführung des Stücks könnte man das vielleicht mal wagen…

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Verbeugung der Schönen und Begabten: Nach „Onegin“ beim Staatsballett Berlin im Schiller Theater. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Spätestens, wenn Salenko auch laut Choreografie Onegin sieht und begrüßt – nach ihrem Pas de deux mit Gremin – sollten feurige Blicke zwischen dem Dandy und der einstigen Landpomeranze gewechselt oder zumindest mühsam unterdrückt werden.

Leider verpatzten Salenko und Walter auch diese Chance.

Dafür werfen sie dann alles in den Schluss-Pas-de-deux… und er gelingt!

Tatjana erwartet Onegin, der sich mit einem Brief bei ihr kurzfristig ankündigte, bangen Herzens. Sehr schön tanzt Salenko bereits diese Mischung aus Furcht und Erregung.

Dann stürmt Marian Walter als Onegin zu ihr – und beginnt sofort mit seiner wunderschönen Balz. Rückhaltlos und voller Reue kommt er zu ihr, er will sie beeindrucken, sie ehren, er geht schnell vor ihr zu Boden… und wäre er ein Pfau, er würde Rad und Rad schlagen und ihr die besten Samenkörner zum Picken vorlegen.

Diese Einfachheit im Begehren darf Onegin hier haben, denn er muss mit den Waffen eines Mannes intensiv um das Herz dieser bereits vergebenen Frau kämpfen. Es wird, und das weiß er, seine vorerst letzte Gelegenheit sein.

Ach, und Tatjana wird fast schwach. Nur zu gern sieht sie ihn an, rasch sinkt sie für wenige Sekunden in seine Arme…

Sie versucht noch, gegen ihr Gefühl zu kämpfen, aber jetzt, da er endlich auf Augenhöhe mit ihr spricht (tanzt), fließt die Energie der Liebe zwischen ihnen.

Ja, und fast kriegt er sie rum. Fast ergibt sie sich ihm, fast würde sie sogar mit ihm durchbrennen.

Onegin ist einfach toll

Sie machen eine fantastische Figur im „Onegin“: die Damen vom Staatsballett Berlin. Hier beim Schlussapplaus am 18.2.2017. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber eben nur fast. Nach den „Hexensprüngen“, mit denen er sie in den siebenten Himmel der Erotik katapultiert, besinnt sie sich, sie kommt zu sich, ihr wird klar, dass er zwar sexuell noch besser zu ihr passt als damals in ihrem Jungmädchentraum (dem Spiegel-Pas-de-deux) – aber dass er ihr keine Zukunft bietet.

Anders als Fürst Gremin.

Für die Liebe zu Onegin ist es aus Tatjanas Sicht zu spät. Selbst wenn der Windhund Onegin sie nun tatsächlich ehelichen wollte – im Russland des 19. Jahrhunderts ist es für eine angesehene Frau der Gesellschaft nicht möglich, mal eben aus einer Ehe auszusteigen, um den nächsten Gatten zu nehmen.

Die gemeinsame Utopie eines Lebensstils jenseits des gesellschaftlichen Ansehens fehlt hier zudem, Onegin und Tatjana verbindet außer der bodenlosen Erotik und dem unbestimmten Wunsch nach Freiheit gar nichts.

Und dafür opfert eine Tatjana, die zuvor in ihrer frühen Jugend von Onegin zutiefst gekränkt worden ist, nicht ihr neues intaktes Leben.

Sie ist die Vernünftige, auch rückblickend im Vergleich zur überschwänglichen, bedenkenlosen Olga.

Iana Salenko spielt und tanzt Tatjanas Zwiespalt, ihre Überlegungen fantastisch und genau so, wie es sein soll, seit Marcia Haydée diese Rolle mit Cranko kreiert hat. Und als sie Onegin seinen Brief zurückgibt, ihn zerreißend, rührt sie einen damit zu Tränen.

Ach, hätte das Duo Walter und Salenko doch auch all die anderen Szenen so intensiv geprobt und gefühlt wie diesen Schluss!

Onegin ist einfach toll

Iana Salenko und Marian Walter beim Schlussapplaus nach ihren Rollendebüts am 18.2.2017 in „Onegin“ beim Staatsballett Berlin im Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Als Onegin hinaus läuft, entsetzt und fast traumatisiert von dem Verzicht, der ihm abgerungen wird, wird auch Tatjana von einem erneuten Gefühlssturm erfasst und geschüttelt. Hin und her läuft sie, mit sich ringend – dann weint sie kurz, sich die Hände vors Gesicht schlagend, um dann die berühmte Abschlussgeste der Tatjana zu vollführen: Die zu Fäusten geballten Hände senken sich langsam vor ihrem Körper, weil die Vernunft von Tatjana über ihr Herz den Sieg davon trägt.

Vorhang. Toll.
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

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